Das alte Lied

[105] Es geht eine Sage vom tiefen See,

Wo die Nixe taucht aus den Wellen:

Alljährlich erfaßt es mit Angst und Weh

Einen jungen Mühlengesellen.

Ihn schauert's im Haus, erst drunten entflieht

Sein Schmerz in der bläulichen Kühle.

Mir liegt im Sinne das alte Lied

Von dem Müller und seiner Mühle!


Ich mag nicht mehr der Menschen Weis'

Und all ihr Höhnen und Fragen,

Wie ich verlassen den alten Kreis

Aus wilden, thörichten Tagen?

Sie meiden mich, da ich sie mied;

Und kühl ich die lastende Schwüle,

Sie werden sagen: Das alte Lied

Von dem Müller und seiner Mühle!


Du dunkle Tiefe, du lockst so süß

Hinab zu deinen Gründen!

O rausch' empor, meine letzten Grüß'

Und Alles ihr zu verkünden![106]

Und wenn sie stumm hinunter sieht

In die wellenkräuselnde Kühle,

Dann denkt sie wohl an das alte Lied

Von dem Müller und seiner Mühle!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 105-107.
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