Auf der Wacht beim toten Jäger.

[211] Mein Vater litt zu jener Zeit an einer langwierigen Krankheit. Es var selten wer um ihn, als sein ältester Bub. Auch der Jäger Wolf saß zuweilen neben auf der Ofenbank und freute sich, wenn dem Kranken der gespendete Wildbraten recht mundete. Und der Wildbraten stellte meinen Vater richtig soweit wieder her, daß dieser eines Tages, es war im August um die Zeit des Maria-Himmelfahrtsfestes, zu mir sagte: »Bub, jetzt werd' ich doch endlich wieder was anfangen müssen. Was meinst, zum Korbflechten wär' ich wohl stark genug?«

Und am nächsten Tage gingen wir schon zur Morgenfrühe aus und gegen die sogenannte Wildwiese hinauf, wo Weiden wuchsen. Die Wildwiese war oben in den hinteren Waldungen. Ost blieb mein Vater unterwegs stehen, stützte sich auf seinen Stock, schöpfte Luft, und dann fragte er mich immer, ob ich ein Schnittchen Brot beißen wolle.

Als wir über die Schafhalde hinausgekommen waren, wo der junge Lärchenanwuchs noch im Morgentaue stand, sahen wir im Dickichte einen Mann dahinhuschen, der ein Stück Hochwild über der Achsel trug und etwas wie ein Schießgewehr hinter sich barg. Er duckte sich so sehr, daß nur ein paar schwarze Haarfetzen von seinem Haupte zu sehen waren.

Als diese Gestalt vorüber war, blieb mein Vater[212] stehen und sagte: »Hast geguckt? Das ist der schwarz' Toni gewesen.«

Der schwarz' Toni war ein Mann, vor dem sie überall die Türen verriegelten.

»Ja, Kind,« sagte der Vater, als wir uns auf den Stamm eines gefallenen Baumes gesetzt hatten, »ist hart für einen Menschen, dem's so geht, wie dem Toni. Der hat sein Lebtag nicht Vater und Mutter gesehen. Als Kind ist er aus dem Findelhause in unsere Gegend gebracht worden. Freilich nicht aus christlicher Barmherzigkeit, sondern des Geldes wegen, das für ihn ausgezahlt worden, hat ihn ein Köhlerweib an Kindesstatt genommen. Halb erwachsen hat sich der Toni im Wald herumgetrieben, kein Mensch hat sich um ihn gekümmert; so ist er verwildert. Wie das Köhlerweib sieht, der Ziehsohn bringe nur Schande, so hat sie gesagt: Toni, du Lump, bei mir bist nimmer daheim! – Wo denn? hat drauf der Toni gefragt, aber überall, wo er angeklopft, ist ihm die Tür verschlossen gewesen. Mögen ihn die Menschen nicht, so gibt er sich mit den Tieren ab – verlegt sich aufs Wildern. Vor einem Jahr hat ihn der Jäger Wolf in das Zuchthaus gebracht; aber jetzt wieder frei, mag ihm kein Mensch gern begegnen, gleichwohl ich nicht glaub', daß er wem was zuleide tät'. Schlecht, sag' ich, ist er nicht, aber verkommen durch und durch; und so, mein Bübl, wird oft ein Mensch hinausgestoßen auf die schiefe Straßen, und so rutscht er ab und kann sich nicht mehr halten.«

Nach diesen Worten schritten wir wieder langsam dahin und nachdem wir durch vie! Wald und schattendunkle Schluchten gegangen waren, kamen wir endlich zur Lichtung der Wildwiese. Teilweise lag sie noch im[213] Schatten des Teufelssteinberges; die Bachweiden aber, die in einer langen Reihe hin standen und sich über ein stillrieselndes Wässerlein wölbten, schimmerten in dem lichten Sonnentag, als ob sia alle silberne Blätter hätten. Die Wiese war bereits gemäht und das Heu fortgebracht; sehr still und verlassen lag die Matte. An den Rändern wuchsen blaue Enzianglocken und es war schon die Zeitlose da.

Wir kamen um die Weidenruten, die am Bache standen. Wir gingen quer über die Wiese bis hin zum Rande, wo wieder die sehr hohen Fichten begannen und wo ein rot angestrichenes Kreuz stand, dessen Dachbrettchen reichlich mit Moos bewachsen waren. Hier wollten wir vor der Arbeit uns ein wenig setzen, auf die Bäume hinausschauen und ein Stück Brot essen.

Aber noch ehe der Vater sich niederließ, sah er lange und unverwandt auf eine Stelle hin.

Am Fuße einer Weißtanne lag ein Mann. Ein Jägersmann mit einem Schießgewehr; die Locken gingen ihm über Stirn und Auge, man wußte nicht, ob er denn wirklich so fest schlafe, als es aussah.

Mein Vater trat endlich hinzu, schob aber mich mit der Hand hinter sich zurück. Dann sahen wir es: Der Mann lag in einer Blutlache; der aus einer Halswunde sprudelnde Quell war bereits gestockt.

Mein Vater legte die Hände ineinander und sagte ganz leise: »Jetzt haben sie da den Jäger Wolf erschlagen!«

Als ich hierauf zu weinen begann, hob mich mein Vater empor zu seiner Brust; und wie ruhig er auch scheinen wollte, ich hab' es doch wahrgenommen, wie ihm war. Dann untersuchte er den Erschlagenen – die[214] Augen waren gebrochen, die Lippen fahl wie trocken Erdreich – das Leben war dahin.

»Mit dem Weidenschneiden ist es heute nichts,« sagte mein Vater, »jetzt muß einer von uns Leute holen, daß sie den Wolfgang wegtragen; und der andere wird dieweilen dableiben müssen. Einen Toten kann man nicht allein lassen, solange er nicht im Grabe ruht. Es könnte auch leicht ein Tier über ihn kommen. Das beste wird sein, ich gehe hinaus in den Brandgraben zu den Holzknechten, und du setzest dich schön still da unter das Kreuz.«

Mir gab's einen Stich. Wie konnte mir mein Vater das antun, mich stundenlang allein lassen im Walde bei einem Toten! Aber ich wußte die Wege nicht und hätte die Holzknechte nicht gefunden.

»Freilich, Büblein, ist das ein trauriges Warten da,« fuhr er fort, »aber wachen, diese christliche Lieb' müssen wir dem Wolf schon erweisen.«

Ich starrte auf den Toten.

Mein Vater zog seine kleine Axt aus dem Gürtel, mit welcher er die Weidenruten hauen wollte, und fällte nun Äste von den Bäumen und hüllte den Jägersmann mit Reisig ein. Dann kniete er nieder vor der grünen Bahre und betete still ein Vaterunser. Und als er sich wieder erhob, sagte er: »Und jetzt, mein Knabe, tu' unserem Mitbruder den Liebesdienst, und wache. Die Axt laß ich dir da, die halt' fest. Fuchsen und Raben können leicht kommen; andere Raubtiere weiß ich in der Gegend nicht. Bis zu den Weiden dort magst hingehen, aber weiter weg nicht. Ich will recht eilen; bis die Schatten anheben zu wachsen, wird schon wer kommen!«[215]

Dann legte er für mich Brot unter ein Bäumchen und ging davon. Er ging hin quer über die Wiese, wie wir hergegangen waren, und er verschwand in dem Dunkel des Waldes.

Nun war ich allein auf der umwaldeten Wiese und das Sonnenlicht war ausgegossen über die einsame Matte, über die glitzernden Weiden und über den stillen Reiserhügel am Waldrande. Ich wollte nicht hin blicken auf die seltsame Bahre; ich schritt gegen das Weidengebüsche, aber mein Auge wendete sich immer wieder zurück zum roten Kreuze und zu dem, was daneben lag.

Der arme Jäger Wolf Ich wußte es noch recht gut, wie er vor wenigen Jahren mit seiner Braut und seinem Hochzeitszuge an unserem Hause vorübergekommen war. Die Waldhörner und die Pöller schallten, daß die Fenster unseres Hauses klirrten. Der Wolf war ein hübscher Bursche gewesen; einen großen Strauß trug er auf dem Hut, und ein rotes Band ging nieder über seinen Nacken, wo jetzt die Blutstrieme war.

Ich ging den Weidenbüschen entlang. Manches Zweiglein regte sich und zitterte fort und fort. Hie und da schnellte ein Heupferdchen. Ich bog die Äste auseinander und blickte in das Wässerlein; das stand still unter dem dichten Flechtwerke und glitzerte kaum. Ein großgefleckter Molch kroch hervor und nahm seine Richtung gegen mich; da floh ich entsetzt davon.

Dann begann ich mit meinen kurzen Schritten die Schatten der Bäume zu messen – bis diese zu wachsen anheben, kommen die Leute. – Noch aber wurden sie kürzer und kürzer. Die Sonne stand hoch über dem Teufelsstein und über dem Talgrunde lag ein bläulicher Duft.[216]

Ich kehrte wieder zum Kreuze zurück und setzte mich auf den Stein, auf welchem sonst andächtige Waldwanderer knien. Das Kreuz war hoch und hatte keinen Heiland. Weit streckte es seine Arme aus, als wollte es den Wald umfangen.

Ich wendete mich von dem Pfahle und von dem Bahrhügel und sah hin gegen den Bergrücken des Teufelsstein. Die Himmelsglocke lag in mattem Blau, kein Vogel und kaum eine Mücke war vernehmbar. Es war ein fast traumhafter Frühherbstmittag, durchklungen von einer ewigen Stille.

Wildschützen haben ihn erschossen. Ich ging über die Wiese und sagte mir, wenn ich zehnmal über die Wiese gegangen sein würde, dann wollte ich wieder den Schatten messen. Aber der Schatten duckte sich noch mehr unter die Bäume als früher.

Dann ging ich hin zu der verhüllten Leiche des Waldmannes und stand lange vo e derselben; ich fühlte kaum ein Schauern mehr. Dann setzte ich mich wieder unter das Kreuz und aß ein Schnittchen Brot. Da hörte ich plötzlich ein Knistern; ein Reh stand und guckte durch das Gestämme.

Zuletzt kam das Tier gar zu dem Reiserhügel heran und schnupperte; vor diesem Jägersmanne fürchtete es sich nicht mehr. Erst als es den Pulvergeruch des Gewehrlaufes gewahrt haben mochte. wendete es sich mit großen Sätzen dem Dickichte zu.

Endlich, als ich wieder den Schatten maß, hatte er sich um ein weniges gedehnt. Ich mußte ja doch schon viele Stunden auf der Wildwiese geweilt haben.

Wie immer, so hatte mein Vater auch diesmal recht.[217]

Ich hörte einen getragenen Schall und Widerhall im Walde. Es nahten Menschen. Doch nicht die Holzknechte waren es, die um den Wolfgang kommen sollten, sondern quer über die Wiese her kan ein junges Weib, das trug einen Korb am Rücken und führte ein etwa dreijähriges Kind am Arm. Sie sangen ein lustiges Kinderlied, und das kleine Mädchen lachte dabei und hüpfte flink über das weiche Gras.

Ich erkannte die Nahenden bald, es war das Weib und das Kind des erschlagenen Jägers Wolf.

Sie kamen heran, und als sie mich sahen, sagte die Jägerin zum Mädchen: »Schau, Agatha, da beim Kreuz sitzt ein Bub', der betet ein Vaterunser; das ist gar ein braver Bub.«

Dann kniete sie hin auf den Stein, legte die Hände zusammen und betete auch. Das Kind tat desgleichen und war gar ernsthaft dabei.

Wie mir wehe war! Wie hätte ich sagen können, was unter dem Reisig lag? Sie wußten von nichts. Ich ging abseits gegen die Weiden.

»So, mein Herz,« sagte das Weib hierauf zur Kleinen, »jetzt geh' ich Enziankraut schneiden, du setz' dich dieweilen da auf das G'reisigbett und brocke dir Zäpfchen ab. Hernach kommt der Vater vom Teufelsstein herab, und hernach setzen wir uns zusammen und essen den Schottenkäs, den ich im Korb hab', und hernach hopsen wir lustig miteinander heimzu.«

Und sie setzte das Kind auf den Reiserhaufen – auf die Bahrstätte des Vaters. Dann ging sie mit dem Korb gegen den Wiesenrain, wo Gebüsche von Enzian standen. Von dort aus rief sie mich an, was ich denn[218] so allein mache auf der Wildwiese, ob ich mich verirrt hätte oder etwa Ziegen suchte?

Ich wußte keine Antwort, deutete auf einen großen schneeweißen Schmetterling und sagte: »Jetzt schau das Tier an, wie's herumfliegt! schau, wie's fliegt!«

»Bist ein Närrisch, du!« versetzte die Jägerin lachend und ging an ihre Arbeit.

Die kleine Agatha spielte auf dem Reiserhügel, sie zupfte an den Zweigen und wühlte in denselben und nestelte etwas hervor. Endlich wurde ihr bang und sie hub an nach der Mutter zu rufen.

Nach einer Weile kam das Weib heran, da hielt ihm das Kind einen Ring entgegen und sagte: »Schau, das hab' ich gefunden, das ist des Vaters!«

Die Jägerin tat einen hellen Ruf: »Kind, wie kommst du zu diesem Ring?«

Die Kleine lächelte vergnügt.

Das Weib hub das Kind auf die Erde, warf einen Blick auf das Gezweige und stieß einen gellenden Schrei aus. Sie sah im Reisig eine Menschenhand.

Wie wütend stürzte sie hin auf die Schichtung und raffte die grünen Zweige auseinander – mit Hast und heißer Angst – dann sank sie zurück und schlug sich die flachen Hände in das Antlitz. Vor ihr lag er im Blute erstarrt.

Zur selben Stunde gingen zwei Holzhauer über die Wiese und brachten eine Tragbahre mit. Zuerst knieten sie vor dem Toten und beteten. dann hoben sie ihn auf die Bahre, legten das Gewehr an seine Seite und trugen ihn davon.

Der Korb blieb stehen bei dem Enziangebüsche, das[219] Weib folgte der Bahre; es sagte kein Wort, es vergoß keine Träne, es trug das spielende Mädchen auf dem Arm. Das starre Angesicht der Gattin, das helläugige Lockenköpfchen des Kindes hinter der Bahre her – das mag ich nimmermehr vergessen.

Ich bin auch hinten dreingegangen. Die Weiden standen in ihrem wässerigen Schimmer; die Schatten der Tannen lagen hingestreckt über die ganze Wiese. Das rote Kreuz ragte regungslos im Dunkel des Waldrandes.

Die Bahre schwankte dem fernen Jägerhause zu. Ich ging gegen unser Gehöfte. Als ich zu demselben hinabkam, führten handfeste Burschen einen Mann herbei. Es war der schwarz' Toni. Da wir ihn am Morgen im Lärchenanwachs gesehen, st hatte mein Vater auf seine Spur gewiesen. Der Richter kam, und unter der großen Esche, die vor unserem Hause stand, wurde das Verhör gehalten. Der Toni war geständig, den Jäger Wolf aus Rache erschossen zu haben. Hierauf wurde der Bursche in Ketten gegen die Stadt geführt, aus der er einst als Wickelkind gekommen war.

Als ich in die Stube kam, saß mein Vater an seinem Bette. Er war sehr bewegt, hub mich zu sich auf das Knie und sagte: »Bübel, das ist ein böser Tag gewesen.«

Wir gingen in jenem Jahr nicht mehr hinauf zur Wildwiese. Seither aber bin ich wohl mehrmals auf derselben gewesen. Die Weiden glitzern, die hohen Fichten stehen noch heute – und ihr Schatten schwindet und wächst, wie das trübe Erdengeschick, und ihr Schatten wächst und schwindet, wie das menschliche Leben.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 1: Das Waldbauernbübel, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 11, Leipzig 1914, S. 211-220.
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