Das fahrende Zechen.

[64] Zur Zeit, als mein Großvater auf dem Waldbauernhofe saß, saß auf einem der nächsten Nachbarhöfe der Bauer Winfred Isidor Bernhard. Die beiden Höfe lagen sich auf zwei Bergen gegenüber und schauten sich an. Der eine war ernsthaft und stillsam, man sah auf seinen Feldern die Ochsen mit dem Pfluge dahinkriechen oder hörte das dumpfe Geklapper der Dreschkolben auf der Tenne. Der andere Hof lachte und widerhallte stets in heiterem Lärme. Der stille Hof gehörte meinem Großvater, der bei der Arbeit ein ernster Mann war, der laute aber dem Winfred. Der Winfred ging mit seinem runden Bäuchlein und seinem grünen Samtbarettlein wie ein Edelherr nur so um den Hof herum und schaute lachend auf die mageren Wiesen und steinigen Felder hinaus und gab seinem Gesinde lachend die Befehle und wackelte dann wieder in seine Stube und aß was rar war und trank was klar war – heißt das, nicht allzu klar, denn eitel Brunnenwassers wegen schmaust sich der Deutsche keinen Durst an. Oftmals wunderte sich mein Großvater darüber, daß auch bei seinem leichtlebigen Nachbar die Wirtschaft ging und allem Anscheine nach sogar besser als in anderen Höfen, wo man tagsüber arbeiten und nachtsüber sorgen müsse.

»Na, 's ist ja recht,« meinte mein Großvater, »wer das kunnt, dem sei's vergunnt.«

Zu diesem Nachbar Winfred Isidor Bernhard kam[65] eines Tages ein entfernt stehender Vetter auf Besuch. Dieser Vetter war unter den Franzosenkriegen viel in der Welt herumgewirbelt worden, und alle Weine, die mittagwärts der Alpen gekeltert, und alle Biere, die mitternachtswärts gebraut wurden, hatte er verkostet.

Seines Zeichens war er Pferdehändler und so kam er eines Tages auf einem Rappen herangeritten gen den Hof des Winfred.

An diesem Tage hub ein scharfes Zechen an. Es war im Spätherbst, am Tage der heiligen Apostel Simon und Judas. Winfred hatte den Rappen zu gefülltem Troge und den Reiter an den eichenen Tisch geführt, der, von eichener Wandbank zur Hälfte umgeben, unverrückbar schwer dastand. Ein grauer Steinkrug kam herbei, dem standen Tröpflein auf seiner Bauchung, und dem entströmte ein kühlender Wohlduft. Behutsam, aber kundig des Handgriffs, stellte Winfred den Krug auf den Tisch: »Vetter Wolfgang, ich bring' dir's!«

»Ich bring' dir's wieder, Winfred. Wir haben draußen jetzo die Welt umgestülpt und dein Hof, der steht noch fest. So bleib's. Ich bring' dir's.«

Und indem sie nun tranken auf den Bestand des Hofes, singen sie an, denselben zu versaufen.

Draußen im Stalle schlachtete der Knecht einen Schöps; in der Küche buk die Hausfrau Krapfen. Als das Ankunftsmahl in lauter Heiterkeit verzehrt war, begann das große Trinken. Es währte die ganze Nacht. Als der Tag ausging, legte sich der Vetter Wolfgang auf die eine Bank und der Vetter Winfred auf die andere. Und als sie gegen Mittag erwachten, kam ein frischer Krug.[66]

»Auf was trinken wir?« fragte Wolfgang.

»Gestern haben wir auf deine Ankunft getrunken und auf meinen Hof,« antwortete der Bauer, »heute trinken wir auf die Verjagung der Franzen.«

Das war angenommen. Am dritten Tage tranken sie auf des Wolfgang Rappen. Am vierten – das war der einunddreißigste Oktober – tranken sie auf Martin Luther, denn der Vetter Wolfgang hatte früher einen Prozeß mit dem Pfarrer von Langenwang eines schiefen Pferdehandels wegen gehabt und zur Rache dafür war er jetzt stocklutherisch geworden. Am fünften Tage tranken sie den Heiligen Gottes eins zu, am nächsten Tage brachten sie es den Seelen im Fegefeuer.

An einem weiteren Tage – nachdem nun der wildeste Durst gelöscht war – begann das Kartenspielen. Was der Wolfgang gewann, wurde gemeinsam vertrunken.

Da war es am Tage des heiligen Martin, als sich des Pferdehändlers Hosentaschen leer fanden. »So mag's an die Hosen selber gehen.«

Der Winfred spielte keck, sein Weib, das stets den frischen Trunk zu besorgen hatte, konnte ihre Beklommenheit kaum mehr verbergen. Jetzt das letzte Blatt – ihr Mann hatte des Gastes Hosen gewonnen. Er schenkt sie zurück. – Nein, Spielschulden läßt man sich nicht schenken. Wolfgang reißt die Hosen von den Beinen. Da hub der Winfred gewaltig an zu lachen. Mit beiden Zeigefingern deutete er auf den Gast und lachte, daß er schier unter den Tisch kollerte. Was war's? Ein zweites Beinkleid hatte der Rossehändler an! Ja, das war der erste, der die Unterhosen in unsere Gegend gebracht hatte, nachdem seit der Einführung des Beinkleides[67] unter den Germanen mehr als dreizehnhundert Jahre verflossen waren, ohne daß ein Paar Hosen nicht genügt hätte. Im Jahre 1860 hat das uralte Männlein noch gelebt und mein Schneidermeister hat einmal mit leuchtenden Augen auf dasselbe gewiesen: »Schau ihn an, Lehrbub, schau ihn gut an, der hat die Unterhosen ins Land gebracht.«

Nun wieder zurück zu unserem Eichentisch. Am Kathrinentage, das ist der 25. November, saßen sie noch an demselben und aßen und tranken und spielten und lachten und beide behaupteten, eine so lustige Zeit, wie diese, sei seit der Welterschaffung noch nicht gewesen. Zu Anfang des Advents, als die beiden Männer einen Tag weniger als fünf Wochen lang gezecht hatten, kam die Hausfrau mit kummervoller Miene zur Tür herein und machte die Mitteilung, daß die Fässer leer seien, daß der Schweinstall leer sei, desgleichen auch die Vorratskammer.

»So,« sagte Winfred, »schon leer?«

»Das macht nichts,« meinte der Vetter Wolfgang, »so werde ich jetzt zum Nachbar gehen.«

»Ich gehe auch mit,« rief der Winfred, »der Waldbauer da drüben auf dem anderen Berg, der so schlau auf uns herüberschaut, der hat auch Sachen, hat zwei Stardin Holzapfelmost im Keller, langt uns bis über Neujahr. Also auf, Kumpan!«

Das Weib des Winfred aber war dem Waldbauer, meinem Großvater, wohlgewogen; daher lief sie jetzt auf kürzestem Wege zu ihm herüber und sprach: »Nachbar, sperr' Tür und Tor zu, ich vermein' dir's gut, sperr' Tür und Tor zu!«[68]

»Rucken Franzosen an?«

»Deutsche rucken an. Zechen wollen sie bei dir.«

»Das ist kein schlechtes Vorhaben,« sagte mein Großvater. »Wieviel sind ihrer?«

»O Waldbauer, diese Zecher zählen nicht nach Personen, sie zählen nach Tagen und Wochen. Sie werden nicht vom Fleck gehen, solang' noch ein Tröpflein in deinem Keller, ein Krümlein in deiner Kammer ist. Zwei sind ihrer, mein Haus haben sie aufgefressen, jetzt heben sie mit deinem an.«.

Sagte mein Großvater: »Wenn das solche sind, dann will ich sie schon begasten. Sie sollen kommen.«

Da ritten sie heran, der Wolfgang auf seinem Rappen, der Winfred auf einem alten Klepper, den er sich zum »in die Kirche fahren« angeschafft hatte. Mein Großvater erhob ein Freudengeschrei über den seltsamen Besuch, dann ließ er die Pferde absatteln und zusammen an einen Schlitten spannen, um mit demselben vom Walde Brennholz heimzuführen. Zu den beiden Ankömmlingen sagte er, daß er wohl verhoffe, sie wären zu keinem anderen Zweck in den Waldbauernhof gekommen, als um ihm die Ehre zu erweisen, eine Jause bei ihm einzunehmen.

»Das versteht sich,« rief der lustige Winfred, »du kennst uns: wir essen was rar ist und trinken was klar ist, so lang bis es gar ist. Nachher kommst auch du mit uns, Waldbauer, und wir gehen um ein Häusel weiter.«

»Nur ist halt jetzt,« sagte der Waldbauer, »da drin in meiner Stuben der Tisch noch nicht gedeckt. Dieweilen das besorgt wird, seid ihr schon so gut und helft[69] mir auf der Tenne die etlichen Schober Korn ausdreschen, auf daß ich nachher fertig bin und mich zu euch setzen kann.«

Dachte der Pferdehändler: Dreschen? Korn ausdreschen? dem Waldbauer Korn ausdreschen? Aber der Winfred Isidor Bernhard sagte: »Es gilt! das Dreschen macht Appetit.«

Und als sie bis zum Abend gedroschen hatten, gingen sie ins Haus und setzten sich zum Nachtmahl. Das bestand aus Milchsuppe, Sauerkraut und Bohnen; es war sehr gut gekocht. Der Waldbauer machte allerlei Schnurren, um seine werten Gäste zu erheitern, und als die Bohnen verzehrt waren, sagte er: »Mit den Krapfen müßt ihr schon gedulden, bis sie fertig sind.«

»Gerne,« antwortete der Pferdehändler, »gerne wollte ich mich gedulden, »wenn ich von der Küche herein nur ein klein Bissel was prasseln tät' hören. Aber in deiner Küche ist es still, wie in einer Totenkammer.«

»Laß nur Zeit,« sagte der Gastgeber, »'s ist halt von der Mühl das Mehl noch nicht da.«

»Wann wird's denn kommen, von der Mühl das Mehl?« fragte der Nachbar Winfred sehr lustig, worauf der Waldbauer noch lustiger zur Antwort gab: »Das Mehl von der Mühl – das ist leicht auszurechnen: Heute haben wir das Korn ausgedroschen, morgen werden wir's sieben, entspreuen, in die Mühl tragen, übermorgen kann's gemahlen werden und am Tage drauf haben wir unsere Krapfen.«

Noch in derselbigen Nacht haben sich die beiden Vettern sein bedankt für die Gastfreundschaft und sind davongeritten.[70]

Wie mein Großvater, so hatte es manch anderer gemacht, um den alten Brauch der fahrenden Zecher abzubringen. Es war das doch eine zu merkwürdige Entartung der altdeutschen Gastlichkeit gewesen. Nach Geburts- oder Hochzeitsfeierlichkeiten wurde das Zechen oftmals so lange ausgedehnt, bis alle Vorräte des Festgebers verpraßt waren, dann zogen die Schlemmer weiter zu einem nächsten Hause, das sie gut oder übel neuerdings bewirten mußte. In der Pfarre Fischbach starb ein alter Feldhäusler. Die Leidtragenden versammelten sich zum üblichen Totenmahle, allein der Verstorbene war ein armer Schlucker gewesen und sie wurden nicht satt. Sie verabredeten sich, in den nächsten Bauernhof zu gehen und eine Mahlzeit zu begehren. Es geschah; und als sie hier gegessen hatten, nahmen sie den Gastgeber mit und brachen in einen nächsten Hof ein und aßen und tranken, was da war; so zogen sie von Haus zu Haus und wuchsen immer mehr an, nicht bloß an Gestalt, sondern auch an Zahl, weil sie stets den Gastgeber mit sich nahmen. Vor Weihnachten hatten sie mit ihrer Fahrt begonnen und als der Winter um war, stand kein Haus in der Pfarre, in welchem sie nicht ihr Totenmahl gehalten hätten. Nun waren einige dabei, die wieder von vorne anfangen wollten, da ließ der Pfarrer Sturm läuten, daß die Rotte erschrocken auseinanderfuhr.

In den alten bösen Zeiten hatte dieses fahrende Zechen und Schwelgen seinen Grund. War heute ein Vorrat im Hause, so holte ihn morgen der Lehensherr, oder eine Räuberbande, oder der fahrende Kriegsmann, oder gar ein Schwarm von Magyaren, Türken oder[71] Welschen – da war's doch besser, man setzte sich heute in guter Kameradschaft zusammen und vertat in Saus und Braus, was zu vertun war. Oft mag es wohl auch beim Fürnehmen geblieben sein, so daß der Brauch mehr als Sage, denn als Tatsache umging. Als hernach die Leute frei und die Zustände geordnet wurden, als das, was von dem Fleißigen erworben worden, sein wahrhaftiges Eigentum war, da kam die Sparsamkeit auf. Die lustigen Käuze und Nichtstuer aber wollten von der alten Art nicht lassen, und so kam es, daß sich Reste von dieser Sitte bis in unsere Zeit erstreckten.

Bei einem der letzten fahrenden Zechen bin ich – um der Entwickelung der Geschehnisse hier vorzugreifen – selbst dabei gewesen. Unser mehrere Bauernbursche kamen von der Rekrutierung zurück. Mit den Wirtshäusern waren wir fertig und auch mit dem Gelde. Jetzt sprachen wir in einem Bauernhause zu und verlangten zu essen. Es waren nur ein paar Weiber daheim und die waren froh, sich mit einer Pfanne Eierkuchen loskaufen zu können. Vor einem nächsten Hause, in welchem wir gutgegorenen Apfelmost wußten, begehrten wir mit lautem Geschrei zu trinken, worauf das Hoftor ausging und uns ein gewaltiger Wasserstrahl ins Gesicht sprang, daß wir nach rückwärts taumelten und pudelnaß davonliefen. Der Bauer hatte mit seiner Hausfeuerspritze uns den Durst gründlich gelöscht; bei mir ist dieser seither nicht mehr in dem Maße angewachsen, daß ich nötig gehabt hätte, zur altehrwürdigen Sitte des fahrenden Zechens meine Zuflucht zu nehmen.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 1: Das Waldbauernbübel, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 11, Leipzig 1914, S. 64-72.
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