Der Ehrentag des Federlschneiders.

[186] Am Frauentage im Advent, noch in dunkler Morgenstunde gingen sie in die Kirche zum Engelamt, der Toni, der Seppel, der Festl, der Hansel, die Jula, die alte Kundel und der Schneider. Der Federlschneider genannt, weil er immer wie auf Federn ging und hüpfte, weil er federleicht in den Lüften schwebte und eigentlich nie zur Erde fiel, auch wenn er im Rangeln und Ringen hingeschleudert wurde. Gleich einem losgelösten Federlein schwamm er in allen vier Winden dahin und hängen blieb er nur am Faden seiner Werkstatt und manchmal an den Haarflechten eines rundwangigen Dirndls. Also dieser Federlschneider war auch dabei.

Als sie auf dem eisigen Steg über die Fresen gingen, tat die alte Kundel einen Schrei und pletsch, lag sie auch schon im Wasser. Sofort wollten die Burschen heldenmütig in den Bach springen, um das arme Weiblein zu retten, aber der Toni sagte, das Wasser sei zu kalt, man könne sich leicht eine schwere Krankheit holen. Der Seppel meinte, der Fluß sei zu tief, man sinke gewißlich unter. Der Festl meinte, wenn weiter hin das Eis nicht wäre, aus welchem der etwa unterhalb hineingeratene Christenmensch nicht hervorkönne, so würde er es sehr gerne wagen, die Ertrinkende zu retten. Und der Hansel glaubte, es sei ohnehin schon zu spät. Der Federlschneider sagte: »Na wart', Alte, dich will ich[187] bald haben!« lief das Ufer entlang bis zur Stelle, wo das Weiblein wie eine dunkle Kugel dahinrann, dort stürzte er sich ins Wasser uno bald hatte er seine Beute im Trocknen. Beleuchtet wurde der Hergang vom untergehenden Mond. Der Toni und der Seppel und der Festl und der Hansel trugen die alte Kundel in die warme Stube des Müllers und spielten sich bescheiden als die Retter aus. Nur die Jula wollte wahrhaben, daß es der Schneider gewesen sei!

»Ha, der Federlschneider!« lachten sie, »für den ist's freilich keine Kunst, ins Wasser zu hüpfen, der kann nicht untergehen, den tragt der Wind allemal wieder in die Höhe.« Dieweilen schwepperte der pudelnasse Schneider mit den Zähnen, bis ihn die;Müllerin ins Ehebett legte. Für ihn war's aber keins, und so schlummerte er ein.

Drei Wochen später war beim Stockerwirt ein Fest. Auf der Kanzel war es bekannt gemacht worden: »Am Unschuldigen-Kindertag solle die Gemeinde Gott und einem Menschen zu Ehr' auch einmal eine weltliche Lustbarkeit abhalten. Die Leute möchten zusammenkommen am Nachmittage beim Stockerwirt dort würde gesungen, gegeigt und geblasen werden und der Bezirksvorsteher von Voran würde sich einfinden, um dem braven Justus Alland die von einem Wohltäter gestiftete Rettungsmedaille an die Brust zu heften. »Dem Justus Alland? Wer ist denn der?« fragten du: Leute einander. »Jeseles, das ist ja der Federlschneider Der die alte Kundel aus dem Bach gefischt hat. So, der kriegt einen Stern auf die Brust? Wie der Kaiser Josef einen hat gehabt, wenn er den Mantel auseinandergeschlagen hat! Na, was sie mit so einem Schneider für Geschichten machen! Hätt'[188] unsereins das bissel Weibsbild herausgezogen, da tät' gewiß kein Hund weiter einen Beller machen, deswegen!« Aber ein anderer gab das Wort uns: »Dabei wollen wir doch sein, wenn der Schneider gefoppt wird!« Und so ist am Unschuldigen-Kindertag ein großer Zusammenlauf gewesen beim Stockerwirt am Alpsteig.

Auch von unserem Hause war alles dort, selbst Vater und Mutter, die sonst nie ins Wirtshaus gingen, denn der Vater hatte kein Geld und die Mutter keinen Durst, und bei solchen Zuständen ist's daheim kurzweiliger, als im Wirtshaus. Aber diesmal, so meinte mein Vater, diesmal müsse die Tapferkeit estimiert werden. Wenn man schon den Soldaten ein Ehrenfest gibt, die vom Leutumbringen heimgekommen, so wird man einem Lebensretter auch was Rechtschaffenes antun dürfen. Dazu fügte es sich, daß der Schneider Justus für die nächste Woche bei uns auf die Ster geladen war, da sollte er nicht sagen dürfen, der Waldbauer, dem er das Gewand mache, hätte sich bei seinem Ehrentag nicht blicken lassen. Wir hatten an demselben Tage Besuch erwartet. Der Jagerschwager vom Pusterwald hatte Post schicken lassen, er wolle um die Weihnachtsfeiertage zu uns kommen, um einmal meiner Mutter ihr kleines Kinderwerk anzuschauen und vielleicht auch das Schneiderfest mitzubegehen. Der Jagerschwager kam aber nicht an demselbigen Tage. Die Mutter ging erst gegen Abend zum Stockerwirt, nachdem sie die Haustiere und uns Kinder abgefüttert hatte und Anordnung getroffen, wie wir das Nachtgebet sprechen, dann das Licht auslöschen und hübsch ins Bett gehen sollten. Ich damals schon so groß, daß man zwei Wickelkinder aus mir hätte machen können, wurde daher[189] aufgestellt zum Verwalter über meine drei jüngeren Geschwister. Das gab mir für den Abend unermeßliche Vorteile. Ich durfte nach Herzenslust auf dem Kopfe stehen, was sonst verboten war, seitdem damals mit den Füßen in der Luft ein Fenster in Scherben geschlagen worden war. Ich durfte unbedenklich der Schwester Plonerl einen Husarenschnurrbart unter das Naselein malen und ich durfte die Lebkuchen aufessen, die uns drei Tage vorher das Christkind in alle Hosen- und Rocksäcke gesteckt hatte, während wir geschlafen in der heiligen Nacht. Aber siehe, mein Leser, der Ehrgeiz! Nun stellte ich die Verwaltungswürde höher als die persönlichen Neigungen und blien durchaus anständig. Ich machte meinen Geschwistern sogar den Vorschlag, für diesen Abend auch die schönen und guten Lebkuchen zu schonen, denn sobald der süße Kuchen mit den weißen Mandeln verzehrt sei, hätten die Weihnachten ein Ende. Und darum predigte ich jetz: Entsagung. Meine Geschwister zeigten sich einverstanden, aber nicht leichten Herzens, und die kleine Plonerl hub schon an, den lebzeltenen Reiter mit den weißen Zuckerstriemen abzulecken, woraus die Entwicklung eines intimen Verhältnisses zu befürchten war. Mit nachgerade väterlichem Ernst nahm ich ihr den Reiter aus der Hand und die Kuchen wurden alle in ihre Schüsselchen und Körbchen gelegt und auf den Kasten gestellt.

Hernach forderte ich meine Untergebenen auf, hübsch vor dem Tische niederzuknien und ihre Abendgebete zu beten, ich tat desgleichen und kam mir dabei großartig vor. Bald darauf losch ich vorschriftsmäßig das Licht aus und wir krochen in unsere Bettchen.[190]

Meine Geschwister waren bald daheim beim himmlischen Vater und seinem Christkinde, ich hatte die Augen noch eine Weile offen und betrachtete das blasse Schneelicht, das zu den Fensterchen hereinschimmerte. Dachte auch an den tapferen Schneider, der sein Kreuzlein oder Sternlein oder was weiß ich, schon an der Brust haben werde, zum Andenken, daß er gleichsam einen Menschen wieder erschaffen hat, der schon des Todes gewesen. Allerdings war diese Schöpfung ein altes runzeliges Weiblein, während Gott lauter kleine herzige Kinder erschafft. Aber für den Federlschneider ist schon das viel!

Es knarrte die Haustür. Mein Schrecken war nicht sehr groß, weil ich dachte, daß Vater und Mutter hereintreten würden. Es waren aber nicht die bekannten sicheren Schritte, was jetzt langsam durch das Vorgelaß siffelte, sich manchmal dumpf polternd an den Flachstruhen und Krautkübeln stieß, und es war nicht die Hand des Vaters, die jetzt tastend die Klinke der Stubentür fand. Langsam ging diese an ', aber in der Dunkelheit konnte ich nicht sehen, wer da hereinkam. Es war ein unheimlicher Jemand, der jetz: neben dem Uhrkasten wie lauernd stehenblieb. Dann pochte er mit einem Stock auf den Boden und nun hub eine schauerlich fremde Stimme an zu knurren: »Ist denn da keine Menschenseel' daheim? Oder ist das alte Waldbauernhaus einmal ausgestorben?« Dann lauerte er wieder. Endlich hub er an, mit Stahl und Stein Feuer zu schlagen und beim Blitzen der Funken sah ich ein großes glutrotes Gesicht mit weit auseinander gezogenem Mund und fletschenden Zähnen. Eine Erscheinung, wie ich sie noch mein Lebtag nicht gesehen hatte. Mein erster Gedanke war: Menschenfresser.[191] Die Hammerschläge meines Herzleins hüpften bis in die Schläfe hinauf; zu sterben war ich allenfalls entschlossen, denn ich hatte damals schon von dem Gerüchte gehört, daß alle Menschen sterben müßten; aber aufgefressen zu werden! Das war mir äußerst peinlich. Plötzlich hatte er Licht gemacht und nun stand das Ungetüm in seiner ganzen Wesenheit da. Es war beiläufig so groß wie ein Mensch, hatte auch Füße, die in Wadenstrümpfen und Bundschuhen staken, hatte Hände, deren eine den Stock und deren andere ein Bündel trug. Den Kopf bedeckte ein breitkrempiger hoher Spitzhut mit mächtigem Federstoß.

»Hasasa!« rief der Fremde jetzt, als er sich in die Runde drehte, »da liegen sie ja herum die Kindlein, die unschuldigen, die lieben, die dummen!«

Die unschuldigen Kinder sucht er! Am Ende ist's der böse König Herodes. und es war ja gerade Unschuldig-Kindertag. In der kurzen Lederhose zur Linken stak richtig ein langes Messer.

»Hörst, junge Brut, wo hast denn du deine Vater und Mutter?« fragte der Schreckliche und kam nahe an mein Bett heran. Ich wollte Bescheid geben, brachte aber aus Angst keinen Ton hervor.

»Was schaust denn so g'schreckt?« sagte er lachend. »Fürchten? Tschapperl. Beim Stockerwirt, na, freilich. Ich mag aber nimmer nachgehen, mir sind die Läufeln höllisch steif geworden vom Pusterwald her! Aber Hunger wie ein Wolf, hörst, Buberl?«

Nun hatte ich keine Angst mehr. Es ist der Jagerschwager und kein anderer.

Er setzte sich an den Tiich, zündete mit seiner Lunte[192] das Kerzenstümpflein an und begann sachte umherzuspähen.

»Ist denn gar nichts übriggeblieben vom Nachtmahl?« fragte er laut, »habt ihr denn alles aufgegessen, ihr Siebenfraße! Und an den alten Vetter gar nicht gedacht? Seit Herrgottsfrüh keinen warmen Löffel im Magen. Und keinen kalten auch nicht. Werd'ts doch ein Stück Brot in der Lad' haben!«

Während er die Tischlade auszog, um nachzusehen, schlüpfte ich ins Höslein und in der Hofe stak der Mut. Ich ging hinaus in die Küche, suchte nach Milch, nach Speck oder nach einem Rest von Heidensterz, den wir zu Mittag auf den Tisch bekommen hatten. Nichts. Der Mann bemühte sich mit mir, gab mir gute Worte, nannte mich ein sauberes, gescheites Bübel – aber wir fanden trotzdem nichts als drei Eier im Kasten, die er sofort mit den Zähnen aufschlug und austrank wie Wasser. Die Kerze in der Hand beleuchtete seine Tat. »Aber was wird deine Mutter sagen, wenn sie morgen sieht, daß der Eiermarder ist dagewesen?« So fragte er und schaute mich nachdenklich an. Setzte aber gleich bei: »Weißt du nicht, kleines Vetterlein, hat deine Mutter noch andere Eier? Oder Hühner? Heute verspeise ich sie mitsamt den Federn – meiner Seel'!«

Es wurde mir wieder unheimlicher. – Wenn sie nur endlich heimkommen täten vom Stockerwirt. Der Schneider wird sein Kreuzel ja haben, was tun sie denn noch? Lustbarkeit treiben, dieweilen daheim der schreckliche Jagerschwager eingefallen ist und alles verzehrt, die Eier, die Hühner, die Kälber, die Kinder.

»Hopserl!« schrie der Mensch jählings auf. »Da[193] gibt's ja was!« Er hatte unsere Lebkuchen entdeckt auf dem Kasten. »Das ist gescheit,« sagte er und nahm ein Schüsselchen auf den Tisch herab. »Seid's wohl recht brav, Kinder, daß ihr für den Jagerschwager auch was übrig gelassen habt.« – Ein großes Herz mit lieblicher Zier – ich hätte einen halben Tag lang mit Andacht daran genascht – der Gewalttätige steckte es mit einemmal in den Mund. – »Das süße Zeug...!« murmelte er unwirsch, »aber in der Not frißt der Jager Lebkuchen.« Dann kam ein schönes achteckiges Stück mit Mandeln an die Reihe, dann kam der Plonerl ihr Roß und Reiter dran, und endlich zwei lebkuchene Wickelkinder mit weißgestreiften Fatschen und schwarzen Honigaugen. Jedes Stück ward verschlungen mit einem einzigen Schluck, meine und meiner ahnungslos schlummernden Geschwister teure Weihnachtshabe sah ich rettungslos zugrunde gehen. Als das eine Schüsselchen geleert war, nahm er das zweite vom Kasten. »Schau, du, da ist ja noch was!« rief er freudig und aß zuletzt auch den Inhalt des Körbleins auf.

Und als alles dahin war, wischte er sich mit einem blauen Sacktuche den Mund und die Finger ab und sagte: »So, der erste Hunger wär' gestillt. Jetzt wird ein Schluck gut tun. Wo habt denn ihr euern Schnaps? Sag, Kind Gottes, hat dein Vater keinen Branntwein im Haus? Nicht? Nicht einmal einen Schnaps? Na, hörst du, das ist eine saubere Wirtschaft! Da wird's freilich alleweil kleine Kinder geben, weil sie nicht groß und stark werden können. Ohne Schnaps! Ja, sag' mir doch, Zwerg, wovon lebt ihr denn eigentlich?«

Offen gestanden; das wußte ich selbst nicht. Wir arbeiteten, wir aßen, wir schliefen – und starben nicht.[194]

Wir lebten sogar recht frisch und munter, mit Ausnahme zu dieser Stunde, wo der unerhörte Hunger des Jagerschwagers unsere Existenz mit einemmal zu vernichten drohte. Nachdem lange vergeblich auf die Heimkehr der Eltern gewartet worden war und auch die Kerze schon geendet hatte, so daß wir im Dunkeln saßen, sing der Jagerschwager an, über die Sittenlosigkeit dieses Hauses aufzubegehren. »Da sieht man's! Wär' ein Schnaps im Haus, so brauchten sie nicht ins Wirtshaus zu gehen!« Nachher kam die Frage der Liegerstatt. Ich schlug die Strohkammer vor. Da wäre es ihm zu kalt. Den Kuhstall. Da wäre es ihm zu dunstig. Die Ofenbank. Da wäre es ihm zu hart. Den Herd, da fürchtete er die Schwabenkäfer. Wie glücklich, als (zuletzt Vater und Mutter doch nach Hause kamen. Der Vater nannte den fremden Mann Schwager, die Mutter nannte ihn Bruder und beide fanden es sehr brav, daß er gekommen sei, uns einmal heimzusuchen. Im blauen Bündel hatte er nichts zum Essen mitgebracht, wohl aber etwas zum Kochen, nämlich Kienholz, wie es damals von den Köchinnen als Zunder verwendet wurde. Kienholz brachte er sinnig der Schwester zum Weihnachtsgeschenk. Ob sie es noch an demselben Abend benützt, ob der Jager noch etwas zu essen bekommen hatte, oder welche Liegerstatt ihm eingeräumt worden war, das weiß ich nicht mehr, denn mit meiner Würde habe ich auch die Sorgen zurückgegeben.

Das Ehrenfest des Schneiders beim Stockerwirt war mißlungen. Begonnen hatte es auf die erfreulichste Weise: viele Leute, prächtige Blechmusik, verzuckertes Getränke; der Herr Pfarrer von Kathrein war vorhanden und rauchte seine lange Pfeife, was allemal ein Zeichen seiner[195] besonderen Nachsicht war. Wenn der Pfarrer die lange Pfeife schmauchte, da durfte getanzt werden, da durften die Bursche Schnaderhüpfeln singen, ihre Dirndeln unter den Achseln anfassen und hoch in die Luft heben. Der Pfarrer bastelte an der Pfeife um und tat, als merke er nichts. Einer der Lustigsten war der Federlschneider, der flog heute tatsächlich mehr, als er ging oder saß. Trinken tat er nichts als ein Glas Apfelmost. Wein war ihm unheimlich, Wein var der einzige Gegner, der ihn entschieden zu Boden brachte. Aber das gelang nicht oft, starke Getränke haßte er wie höllisches Feuer. Es war ihm so auch hübsch warm. Tanzen, das war seine Passion und kaum berührte er dabei mit den Zehenspitzen den Boden. Dazu konnte er zierlich pfeifen, machte allerlei Vögelein nach, so daß es war wie mitten im Mai. Die schlanken Burschen vergleichbar mit blühenden Lärchstämmen, die Dirnlein mit Rosenstöcken. – Als der Abend dunkelte, kam der Wagen des Bezirksvorstehers angefahren, das machte den Schneider stutzen. Er hatte geglaubt, das wäre nichts als eine gewöhnliche Tanzunterhaltung. Denn man hatte ihm gesagt, sein Ehrentag wäre verschoben worden auf ein anderesmal. Er hatte nämlich verlauten lassen: Wenn sie mit ihm Geschichten machen wollten, da müßten sie ihn wohl erst mit den Gendarmen ins Wirtshaus holen!

Und als nun die Lichter angezündet waren, die Lustbarkeit etwas gedämpfter wurde und der Bezirksvorsteher an seinem weißgedeckten Tische eine feierliche Würde hervortat, da war der Federlschneider nicht zu finden. War nicht oben und war nicht unten, nicht drinnen und draußen. Sein Hut war auch weg, und wie ein Schreckhauch[196] ging's durch das ganze Haus: »Der Schneider ist durchgegangen!« – Sie haben angefangen, ihn zu suchen, zu suchen im Stockerhause und seiner Umgebung, bei den Nachbarhäusern, im Almbauernhof, wo er sein Wohnzimmer hatte. Aber der Federlschneider, der konnte so zierlich pfeifen... das haben sia gemerkt, aber leider nicht gehört. Die Leute blieben beisammen bis spät in die Nacht, in der Erwartung, daß man endlich doch des Flüchtlings habhaft werden würde, um ihm sein Recht anzutun. Am schlimmsten war der Gemeindevorstand dran, der dicke, ehrenwerte Thomeggel. Der hatte eine große Rede im Leib und die ging ihm im Kopf herum wie ein Rad.

Wenn der Schneider nicht zustande gebracht wurde, so mußte der würdige Mann mit samt seiner Rede ins Bett und es war kein Absehen, wann er sich ihrer entledigen konnte.

Als denn der Schneider nicht eingebracht wurde, hat der Bezirksvorsteher dem Pfarrer ein zartes Paketlein übergeben: Wenn der Schneider einmal die Gnade haben würde, vorhanden zu sein, dann möchten es Seine Hochwürden ihm anhängen. – Die Leute haben sich hernach allmählich verzogen, und so sind auch mein Vater und meine Mutter nach Hause ge kommen, ärgerlich darüber, ihre fünf Groschen für Wein um zwei Semmeln umsonst ausgegeben zu haben.

Am nächsten Morgen kam frühzeitig jemand zu uns ins Waldbauernhaus und wer war es? Der Federlschneider. Er hatte sein Werkzeug bei sich, nahm dem Vater und mir das Hosenmaß und begann am großen Stubentische ruhig zu arbeiten, als ob weiter nichts[197] wäre. Er war im Werktagsgewande, das als solches weit netter und adretter stand, als anderer Sonntagsgewand. Er war ein durchaus niedliches und überaus bewegsames Herrlein, schon ziemlich in jenem Alter, wo der Mensch nicht mehr das Haar von vorne nach rückwärts kämmt, um eine hohe Stirn zu gewinnen, sondern von hinten nach vorn, um einer ungeziemend hoch werdenden Stirn möglichst zu steuern. Im übrigen war er glatt rasiert und kaute an einem Fadenstümpfchen, dessen äußeres Ende munter auf- und niederschlug, während er auf den braunen Loden mit ner Kreide allerlei Striche und Halbkreise zog als eine Wegmarkierung für die nachfolgende Scheere.

Beim Mittagsessen nahmen der Schneider und der Jagerschwager die Ehrenplätze ein. Und während letzterer bei Knödeln und Geselchtem das am Abende zuvor Vermißte reichlich einzubringen suchte, sagte mein Vater plötzlich ganz vorwurfshart: »Na, der Schneider hat uns gestern sauber sitzen lassen beim Stockerwirt.«

»Uh, na freilich,« entgegnete der Angeredete, »ich werd' just der Narr sein und mich eine Weil anfingen lassen.«

»Der Schneider hätt' halt sein Ehrenzeichen bekommen.«

»Mir ist auch so schön warm,« antwortete dieser und aß gar emsig mit der Gabel Krautfasern.

»Mit der Gabel heißt's nichts,« unterbrach der Jagerschwager, den Schneider belehrend, »mit dem Löffel muß man in die Schüssel fahren. sonst zahlt sich's nicht aus. So macht man's!« Und er erhärtete seinen Unterricht mit einem praktischen Beispiel.[198]

Mein Vater aber fuhr fort: »Da meint ihm's der Kaiser so gut, daß er ein Ehrenkreuzel schickt, und der Herr Bezirksvorsteher fahrt so weit her und die Leut' laufen zusammen und alles für die Katz!«

Jetzt hätte aber ein anderer die Gabel weggelegt und hätt' in schönem Ernste folgendes gesagt: »Meine lieben Herren! Wenn ihr glaubt, daß ich die alte Kundel aus dem Wasser gezogen habe, damit ich auf die Brust das Kreuzel krieg, so irrt ihr sehr! Ich hab's getan aus Menschenpflicht, ohne Gedanken auf Lohn oder Ehr', und ich will mich für meine selbstverständliche Tat nicht feiern lassen, dieweil manch anderer mit größeren Verdiensten unbedankt seiner Wege gehen muß. Lasset mich meine bescheidenen Werke der Nächstenliebe im Verborgenen vollbringen und mich jenen schönen Lohn genießen, der im eigenen Gewissen liegt!«

Solche Rede hätte er ganz gut auch vor dem Bezirksvorsteher halten können, nachdem das güldene Ehrenzeichen schon am Rockflügel gehangen wäre, die Leute hätten vor Rührung geweint und dann ausgerufen: »Dieser kleine Schneider hat ein großes Herz. Vivat!« Und am Ende wäre es gar noch in die Zeitung gekommen.

Aber unser Federlschneider hat die schöne Rede dort nicht gehalten und hier nicht. Er hat nichts getan als Kraut gegessen mit der Gabel.

Da schleuderte der Jagerschwager jäh seinen großen Löffel weg, hieb seine Hand schwer auf die zarte Achsel des Schneiders und brüllte: »Mensch, du gefallst mir! Und paß auf, was ich dir jetzt sag': Ich bin der Forstjäger vom Pusterwald und du sollst von mir was bekommen! Gib acht! Was du von mir kriegst, das wird[199] ein bissel was Besseres sein, als ein Kreuzel oder ein Sterndel oder ein Münzel, oder was weiß ich für Tandelmandel. Nicht umsonst sollst du ins kalte Wasser geflogen sein. Du kriegst was von mir!«

Es war ein geradezu erhebender Augenblick. Und die Mutter sagte auch ein Wort: »Wenn ein Mensch so demütig ist, da verdient er erst recht was Schönes.«

Der Jagerschwager nickte noch wiederholt mit dem Kopf, sagte aber nichts mehr, als: »Schneider, du kriegst was von mir!«

Und um Heiligendreikönig kam vom Pusterwald her der Bote gegangen. Er fragte dem Schneidermeister Justus nach, er trug im inneren Sack seines Mantels einen schweren Gegenstand. Als ar denselben niederließ im Almbauernhof vor dem Schneider auf dem Tisch, da war's noch wie eine verhüllte Kunststatue; als aber das blaue Tuch abgenommen ward, da stand ein bauchiger Schnapsplutzer da: »Den schickt der Forstjäger aus dem Pusterwald!«

Der Federlschneider soll ein langes Gesicht gezogen und dann nachgedacht haben, ob er nicht irgendwo auf der Welt einen grimmigen Feind hätte. Er fand aber keinen, dem er den Plutzer hätte versetzen mögen. Hingegen hieß es, daß die alte Kundel sich gar nicht mehr erwärmen könne seit jenem kalten Bad in der Fresen. Dem alten Weiblein schickte der Schneider den Branntwein: »Immer einmal ein kleines Schlüpferl!«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 1: Das Waldbauernbübel, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 11, Leipzig 1914, S. 186-200.
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