Ein funkelnagelneues Jahr.

[202] Übrigens so schlimm ist es ja gar nicht. Der Mensch ist allmächtig und allwissend. Allmächtig durch die Phantasie und allwissend durch die Theorie. Er ist der Schöpfer der Begriffe. Er stellt sich was vor und mit dieser beliebigen Vorstellung mißt er alle Dinge. Vorwegs ist ja alles unbegreiflich, aber der Mensch macht sich einen »Begriff«. Der Begriff ist sein Eigentum, sein ganzes Um und Anf. Zum Beispiel: der Begriff von nebeneinander, das ist der Raum. Der Begriff von nach einander, das ist die Zeit.

Wir haben da ein neues Jahr im Kopf. Im Kopf ist es fix und fertig. Dieses »Jahr« ist nicht etwas Gewordenes, es ist etwas Gemachtes. Etwas ganz willkürlich Gemachtes und Eingeredetes. Es hält sich nicht etwa an das durchschnittliche Menschenalter, dann müßte das Jahr an fünfzigmal so lang sein. Es hält sich nicht an den Sonnenlauf, sonst müßte es an einem Sonnwendtage oder an einem Tage der Tages- und Nachtgleiche beginnen. Ohne allen Sinn, nur an lässiges Herkommen geheftet, läßt der Mensch sein Jahr irgend einmal beginnen und nennt den Tag den ersten Jänner. Der letzte Dezember ist zwar von Natur wegen genau so ein Tag, wie der erste Jänner. Aber der Mensch mit seiner Phantasie und Theorie macht zwischen diesen zwei Tagen einen großen Unterschied. Den Unterschied zwischen Greis und Kind.[203]

Da es schon alle Welt so treibt, so kann man es dem phantastisch-wilden Waldbauernbuben nicht verdenken, wenn er am Abend des Silvestertages auf der Anhöhe hinter dem Berghause steht und dem sterbenden Jahre zuschaut.

Spät und mühesam war die Sonne hinter dem Wechselgebirge heraufgestiegen, mit blassem Gesicht und tiefhängendem Kopf kroch sie am Himmel mühsam dahin. Um zehn Uhr vormittags, als die Hausmutter das zweitemal ihr Herdfeuer anblies, kam die Sonne an der kahlen, reifgrauen Esche vorbei; um Mittag war sie erst bei den Fichtenwipfeln. Höher ging's nicht mehr, erschöpft sank sie dem Waldschachen zu und hinter demselben hinab. Der Schein auf dem schneebedeckten Hausdach erblaßte, die Wipfel der Fichtengruppe, die erst wie grünes Gold geleuchtet hatten, wurden schwarz und standen als finstere Zacken in den Himmel hinein. Über den fernen Almen lag glatt und blaß das Leichentuch und hinter ihnen dunkelte feierlich die Nacht herauf, in der allmählich Sternlein zu glimmen begannen, wie Ampeln an einer Bahre. Tagsüber waren von den Dachrändern Tropfen gefallen, zu hören, wie das Ticken von Uhren; das war nun still geworden. An den Dachrändern hingen Eiszapfen – erdwärts wachsend. Auch der Hausbrunnen hatte ein Eismäntelchen angelegt und sein bisher ununterbrochenes Rauschen eingestellt, gleichsam nur noch hinter der hohlen Hand Geheimnisse flüsternd. Die Hühner hatten ihre Stangen gesucht und gackerten nicht mehr, sondern hockten unbeweglich und horchten. Die Rinder im Stalle lagen auf frischer Streu und scharrten im Wiederkäuen mit den Zähnen. Der Vater aber ging würdigen und leisen Schrittes mit einem Rauchgefäß im Hofe herum, beräucherte sein Hab und Gut: das Haus, den Brunnen, die Ställe, den Dunghaufen, die Vorräte und Werkzeuge, die Tiere und die Menschen. Das war[204] sein Segnen am Ende einer Zeit. Denn die Sonne des Jahres war gestorben und versunken.

Trotz der feierlichen Stimmung sagte ein schalkhafter Knecht: »Jetzt wird's lang finster bleiben. Die Sonn' geht erst im nächsten Jahr wieder auf.« Und beim Nachtmahl hieben sie mit den breiten Hornlöffeln tief in die Schüssel: »Brav Sterz essen, heunt! Heuer kriegen wir nix meh'!«

Und dann – es war ja in meinem Vaterhause – legten wir uns schlafen. Die Neujahrsstunde erwarten, das war im Waldhause nicht der Brauch. Der Schlaf des Gesunden, die Leiden des Kranken, die Träume und die Sorgen, das alles war wie in jeder Nacht. Ich aber in meinem Dachkammerbette hatte weder Schlaf noch Schmerzen, weder Träume noch Sorgen – ich wachte, hielt Ohren und Augen auf und wartete auf das neue Jahr. Das Geheimnis der Nacht lag über dem einsamen Hause. Wenn sonst draußen der Wind ging, da ächzte immer ein wenig die Holzwand; heute ächzte sie auch manchmal, aber so, als ob jemand im Sterben läge. Durch das Fenster sah ich Sterne. Sie benahmen sich nicht viel anders als sonst, und doch merkte man, es gehe was Besonderes vor, dort oben. Auch wußte ich's von der Ahne: In der Neujahrsnacht tun die lieben Engelein Sterne scheuern, daß sie schön funkelblank werden fürs neue Jahr. – Unten in der großen Stube schlug heiser röchelnd die Wanduhr. Elf Schläge. Das ist nun die letzte Stunde. Ich hub an zu denken, was in diesem jetzt vergehenden Jahre alles gewesen war. Zu Lichtmeß hatte die Katze den Finken in der »Vogelsteigen« getötet. Zu Ostern hatte mir der Fleischhacker, als er das Kälbel holte, zwei Groschen Futtergeld geschenkt. Eine Woche vor Pfingsten hatte ich mein Taschenmesser mit der Schildkrötenschale verloren. Am Peter- und Paulitag war die[205] Geschichte mit der Tabakspfeife und dem Angstschweiß. Zu Jakobi einen Zahn reißen lassen, hat fünf Groschen gekostet. Zu Michaeli ein Schaf von einem Jagdhund verjagt worden. Drei Tage vor Allerheiligen beim Forellenfangen in den Bach gefallen, vom Fischpächter herausgezogen und geschopft worden. Das waren die hervorragendsten Ereignisse des Jahres. Möglicherweise waren in der Welt noch wichtigere vorgegangen; möglicherweise sogar um mich und in mir selber. Man sieht nur die oberflächlichsten, es geht auch den Erwachsenen nicht anders. Die geheimen Mächte in unserem Innern, die sachte wirkenden Wünsche und Leidenschaften, die Entwicklung von Schuld oder Seligkeit – diese stillen aber großen Schicksalsgewalten, die uns das Jahr über geändert haben, so daß wir am Ende desselben nicht mehr das sind, was wir am Anfang gewesen – selten gedenken wir ihrer bei der Rückschau am Silvesterabend.

Aber die Ereignisse, die flüchtigen, versinken mit dem Jahre. – Noch die letzten Minuten. Die Spannung wächst. Es ist, als ob man einem Sterbenden zusähe bei seinen letzten Atemzügen. Man wünscht, daß es zu Ende wäre, und will ihn doch nicht lassen scheiden. Noch ein Atemzug – und noch einer. – – Und noch einer... Nun schlägt die Uhr. – Es ist aus. Es geht an.

»Hat's nicht einen Schnalzer gemacht irgendwo am Himmel? Nicht einen Ruck, einen Stoß gegeben in der Weltkugel? Nein, die Uhr geht ihren gleichmäßigen Schritt, und der, mit dem sie über den Abgrund gestiegen, war nicht größer gewesen als die anderen.

Ich dachte, in Gottes Namen, jetzt ist das neue Jahr! Und legte mich aufs andere Ohr. Nun schlafen. Neben Sterbenden wacht man, neben Neugeborenen schläft man. Die ersten Stunden des funkelnagelneuen Jahres gehören[206] dem Traum – dem Zukunftsgesichte. Vielleicht kann es weissagen. Doch siehe, auch die neue Straße ist nächtig und nebelig.«

In einer solchen Neujahrsnacht sah der kleine Waldbauernbub einmal einen Fußsteig, der in der Wildnis steil bergan ging. Ein Knabe mit dem Hirtenstabe stieg munter hinaus. Der Hirtenstab ward zum Wanderstabe – ein neues Land, ein neues Leben in Wort und Geist, ein dornenreiches, freudenreiches, köstliches! – Plötzlich erwachend, wußte ich, es war meine Zukunft. Aber groß verwundert habe ich mich nicht. War es doch in einem der früheren Leben auch einmal so ähnlich gewesen. Ist ja recht, wenn's so kommt, ist ja recht. – Damit legte ich mich aufs andere Ohr. In dem darauffolgenden Jahre kam aber gar nichts, als wieder die Reihe der Kindereien. Der Traum indes wiederholte sich, er gehörte zur Art jener Träume, die immer wieder einsetzen und weiterspinnen und mit denen man allmählich so vertraut wird, daß sie neben dem wirklichen Leben wie ein zweites wirkliches Leben einherranken, bis endlich die beiden Leben, das wirkliche und das geträumte, in eins zusammenfließen, um sich zeitweilig wieder zu spalten und gelegentlich auch die Rollen zu wechseln. Hatte ich einst einen glücklichen Büchermann geträumt, so träume ich jetzt den noch glücklicheren Waldbauernbuben.

Nun, und wie war nach solcher Neujahrsnacht der erste Morgen? War er wirklich funkelnagelneu? Nein. Die Fensterscheiben hatten geradeso ihre Eisgärten, wie an gewöhnlichen Wintertagen. Die Sonne ging geradeso trüb und träge auf, kroch geradeso kraftlos über die kahle Esche hin, kam geradeso spät zu den Fichtenwipfeln und ging geradeso schläfrig und frühzeitig zu Bette, wie gestern. Und doch – es war eine andere Sonne! Gestern konnte sie nicht[207] empor, weil sie eine alte Frau war, heute kann sie nicht, weil sie noch ein Kind ist.

Die Sonne hatte dem Buben aber schon Gedanken gemacht. Da stimmte etwas nicht.

»Vater, wie ist denn das, daß über dem Wechselgebirge alle Tage eine Sonne ausgeht?«

»Mein Kind, das ist die Allmacht Gottes.«

»Ja, hat Gott denn so viele Sonnen im Sack?«

»Kind, ich sage es dir noch einmal, das ist die Allmacht Gottes.«

Dann aber kam der Schulmeister. Zuerst der kleine und hernach die großen, und die Schulmeister wollten gar nicht mehr aufhören. Sie stellten die Welt auf den Kopf, so daß der Himmel einmal unten war und die Erde oben. Sie ließen die Erdkugel tanzen, wie mein jüngstes Brüderchen den Schnurrhiesel, den ihm der Vater gemacht hatte. Und sie ließen diese tanzende Weltkugel alle Jahre einmal um die Sonne kreisen, die unendlich größer war als die Erde und anderseits doch wieder unendlich kleiner als andere Sonnen, die im unendlichen Raum unter- und durchein anderwirbelten, jede auf ihrer bestimmten, unabänderlichen Bahn. – So war's, jetzt wußte man's. Aber seit wann es war? Warum es war? Durch wen es war? Das wußte man nicht.

Früher die Welt und die Allmacht Gottes darüber, das war so einfach gewesen. Und jetzt alles so ungeheuerlich und unbegreiflich, tausendmal unbegreiflich. Man hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, kein Dach mehr über dem Haupte, keine Richtschnur mehr in der Hand – man hing nur so da und wurde mitgewirbelt, daß dem armen Waldbauernbuben Hören und Sehen verging.

Früher hatte er gewußt, daß zur Jahreswende das[208] Knistern der Kohlen in dem Ofen, das Miauen der Katze von der Zukunft spricht; hatte gewußt, daß die Form des gegossenen Bleies, das Begegnen gewisser Personen am Neujahrsmorgen von der Zukunft spricht; hatte gewußt, daß man mit Almosen und Beten den Himmel bewegen kann, ein glückseliges Jahr niederzuregnen und herabzulachen. Und jetzt sagte der Schulmeister, auf das alles sei kein Verlaß. Und wenn der Knabe fragte, auf was denn eigentlich ein Verlaß wäre, wußte der alte Herr keine rechte Antwort. Er suchte lange nach einer herum und sagte schließlich ganz leise: Urkraft. Allmacht. Weltgeist. – Gott.

Wie? – Allmacht? Gott?

So war wieder ein funkelnagelneues Jahr gekommen. Es stand im Glanze des Himmels. Trotz allem Leide es war zum Jauchzen.

Wenn nun die Menschen, bangend vor dem Rollen der Zeiten, draußen in der starren Schneelandschaft nachsinnen den ewigen Dingen, oder wenn sie in der Kirche beten, so andächtig, wie man das ganze Jahr hindurch nicht beten sieht, da sagt der alte Waldbauernbub leise vor sich hin: Bange sein sollen wir nicht, wir sollen freudig sein. Und wenn in der langen Winternacht alles zu ersterben droht und das zitternde Menschenherz beim Jahresbeginn sich fragt: Werde ich mich noch einmal durchzuschlagen vermögen? Und wenn am Fenster ein Sarg vorbeigetragen wird, gerade am Neujahrstage, und der Abergläubische nichts gesehen haben will und doch des unheimlichen Zeichens nicht zu vergessen vermag, da sagt der alte Bub: Bange sein sollen wir nicht, wir sollen freudig sein. Der Herr der Zeiten hebt die Sonne höher von Tag zu Tag und läßt sie hinfliegen über Winter und Sommer, über Sarg und Wiege. Das irdische Jahr mit all seinem Wandel, nichts bedeutet[209] es vor Gottes Ewigkeit, der an Größe nur eines standhält – die unsterbliche Seele des Menschen. Vor dieser sind alle Jahresläufe und alle Geschicke im letzten Sinne ohnmächtig. Arm in Arm mit Gott ist sie die Schöpferin der Zeit und die Beherrscherin des Raumes, schreitet groß und des ewigen Lebens froh über Welten und Sonnen dahin.

So ist der alte Bub vom kindlichen Glauben durch die Erkenntnis gegangen und mit der Erkenntnis wieder zum Glauben gelangt. Und so – denkt er – möchte allen, die guten Willens sind, endlich wieder ein mal kommen ein funkelnagelneues, ein glückseliges neues Jahr, eine Zeit göttlicher Weltfreudigkeit.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 202-210.
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