Elfte Szene

[68] Vorige ohne den zweiten Wächter.


DER MANN. Aus. Nun ist keine Hoffnung mehr. Ich war schwach, habe sie beschimpft. Die Gitterstäbe sind ganz[68] schwarz und fest da; erst waren sie fast durchsichtig, daß ich glaubte, ich könnte nur durch sie hindurchgehen, wenn die Ketten hart wären. Es ist so trübe, früher zischte ein blaues Licht hinter mir. Als ich schwach wurde, flammten ihre Jacken auf wie gelber Dampf. Das Leben ist vorbei. Meine Knochen werden in der Dunkelheit zerkracht werden, mein Fleisch wird mir heruntergefetzt, ich werde hier wie ein blinder Wurm mich zu Tode zucken.

ERSTER WÄCHTER. Es ist zu spät, zu bereuen.

DER MANN. Bereuen? Welches Wort. Ich bereue nicht, denn ich war es nicht, es war die Dunkelheit, ich hatte alles an mir vergessen.

ERSTER WÄCHTER. Seit ich in der Festung bin, höre ich von jedem Sträfling dieselben Worte. Der Mensch ändert sich nicht.

DER MANN. Der Mensch! Wo war ich? Der Mensch. Ich vergaß. Der Mensch ändert sich nicht. Ich war es nicht, der gegen euch schrie. Ich ändere mich nicht, ich bin immer vom Licht geboren. Dieses Gefängnis hat gegen euch geschrien, die Stäbe, die zerpressenden Mauern, die Ketten. Ihr werdet das Gefängnis foltern. Ich bin der Mensch, und ich lebe für den Menschen. Das Gefängnis ist tot und morsch. Ich habe dir nichts Böses gesagt, Wächter, die Mauern hier haben dich beschimpft. Du bist ein Weiser, du warst gütig; du hast recht: der Mensch ändert sich nicht. Du bist es nicht, der mich quält, du hast mich nicht zum Haß gereizt. Du bist ein Mensch. Das war das Gefängnis um dich. Du wirst mich nicht foltern, du verkaufst deine Tochter nicht dem andern, du nicht. Das Gefängnis. Die gelben Flammen eurer Jacken, die Dunkelheit um euch, du nicht, du bist Mensch.

ERSTER WÄCHTER. Schweige. Reden wird bestraft.

DER MANN. Ich verstehe. Oh, nun kommen wieder helle Lichter um mich. Ja, schweigen in sich, sich sammeln. Nicht dem Munde entlassen, was tot ist und nicht vom Menschen kommt! Welche neue Ruhe um mich. Diese Ketten tönen an mir wie Seidengerausch. Wächter, ich sehe jetzt dein Gesicht, deine Backenknochen, deine Augen. Dein Kleid ist nicht mehr gelb; ich sehe alles; es ist sanft und hell um mich, Wächter!

ERSTER WÄCHTER. Ich antworte nicht mehr.[69]

DER MANN. Du bist ein Mensch wie ich, nicht niedriger als ich. Du brauchst dich nicht zu rächen. Du hast deinen Willen wie ich; du brauchst nur Antwort zu wollen. Warum gibst du deine Tochter dem anderen Wächter?

ERSTER WÄCHTER. Will versorgt sein. – Aber das geht dich nichts an!

DER MANN. Nein, es geht mich nichts an, du hast recht. Es geht deine Tochter an; weißt du, wenn sie will, könnte sie eine feine Dame sein.

ERSTER WÄCHTER. Hat schon ihr Kind von der Feinheit.

DER MANN. Eine große Dame, eine Gräfin, eine Prinzessin, eine Fürstin!

ERSTER WÄCHTER. Wir sind arme Leute, nicht einmal, wenn Urlaub ist, kriegen wir große Damen zu sehen.

DER MANN. Aber ihr seid Menschen, man vergißt das mitunter. Du brauchst nur zu wollen. Den festen Willen haben, dann kommt alles. Ich will auch.

ERSTER WÄCHTER. Nützt dir nichts. Was kannst du machen?

DER MANN. Viel, Nachbar; höre, warum hast du keine Auszeichnung auf der Brust?

ERSTER WÄCHTER. Unsereiner hat noch Jahre zu dienen, ehe er die Medaille kriegt.

DER MANN. Medaille – nein. Ich könnte dir einen Orden verschaffen, einen schönen Orden, zweiter Klasse für Ehrendienste.

ERSTER WÄCHTER. Einen Orden – ohne daß ich auf Krücken ginge?

DER MANN. Du brauchst nicht auf Krücken zu gehen. Du sollst deine geraden Glieder haben als richtiger Mensch. Deine Tochter bekommt einen vornehmen Mann. Du brauchst nicht mehr in den feuchten Gängen im Dunkel zu leben. Ihr lebt wie Menschen, im hellen Licht, unter Menschen, in der Freiheit.

ERSTER WÄCHTER. In der Freiheit habe ich lange nicht mehr gelebt.

DER MANN. Aber ich. Ich kenne sie. Ich lebe für die Freiheit. Kamerad, ich befreie dich!

ERSTER WÄCHTER. Freiheit, o das habe ich schon seit Jahren vergessen. Man brauchte nicht Dienstberichte mehr abzufassen. Niemand wär, der mir kommandierte. Leben[70] unter feinen Menschen. Man könnte ganz von vorn anfangen, als wenn man jung wäre.

DER MANN. Du bist jung. Wer von vorn anfängt, ist jung.

ERSTER WÄCHTER. Aber du bist ja selbst nicht frei!

DER MANN. Ah, ich nicht frei? Schau zu mir herein, was siehst du? Siehst du meine Ketten? Nein, du siehst meine Augen, die umhergehen, wie sie wollen. Du siehst meinen Mund, der zu dir spricht, die Lippen, die Zähne, die Zunge; meinen Kopf siehst du, der jahrelang für dich gedacht hat! Ich sage dir, Kamerad, Bruder, erinnere dich, daß du ein Mensch bist, wie ich. Sei frei!

ERSTER WÄCHTER. Und meine Frau, meine Tochter und das kleine Kind?

DER MANN. Laß sie. Geh, schnell. Du hast Jahre Zeit gehabt, nun ist die Stunde für dich gekommen, laß sie nicht vorbeigehen. Sie kommt auch für die andern. Kümmere dich zuerst um dich.

ERSTER WÄCHTER. Bruder, was soll ich tun? Ich weiß, das Leben ist nun anders für mich. Ich will keinen Orden. Ich will dir helfen.

DER MANN. Hilf mir nicht, hilf dir, Bruder.

ERSTER WÄCHTER. Bruder, sag das Wort! Ich bleibe, was ich bin. Ich schaffe dich aus dem Gefängnis.

DER MANN. Nein, ich bleibe. Gehe du, schnell, eh die andern kommen! Hinaus, eil dich, für immer aus der Festung, zu den Brüdern. Sie brauchen neue Menschen, hilf ihnen.

ERSTER WÄCHTER. Freund, nimm diesen Händedruck von mir, ich bin ein alter Mann. Wo sind sie?

DER MANN. In deiner Hand pulst ein Siebzehnjähriger. Draußen wartet das Schiff auf die neuen Menschen. Ich weiß, heute nacht geht es aufs Meer.

ERSTER WÄCHTER. Auf das Schiff! Und du?

DER MANN. Ich bleibe. Ich gehe nicht eher, als diese Mauern vor meinem Mund in Freiheit zerwehen. Geh, du mußt!

ERSTER WÄCHTER. Das Blut stürzt durch mich, als wäre ich über Äcker und Flüsse gesprungen. Ich will! Zu den Brüdern! aufs Schiff!


Ab.
[71]

DER MANN. Große helle Wölbung Licht strahlt. Lichtschalen schweben um mich her. Eine blaue sanfte Flamme rollt durch mein Blut. Durch die Mauern brennen meine Augen Lichtwurf. Dieses Haus ist weiches Glas.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 68-72.
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