Zehnte Szene

[67] Während die Wächter weitersprechen, erscheint hinter der Gittertür der Zelle der Mann.

Der Mann hinter den Gittern in Ketten.


ZWEITER WÄCHTER. Wieviel Gehalt kriegst du?

ERSTER WÄCHTER. Wenn du Anna heiratest, das ist was anderes; da kommst du einmal an meine Stelle.

ZWEITER WÄCHTER. Und das Kind von deiner Tochter?

ERSTER WÄCHTER. Ich lege ein Wort für dich beim Gouverneur ein.

ZWEITER WÄCHTER. So alt das Kind ist, so viel Dienstjahre krieg ich von deinen.

ERSTER WÄCHTER. Ich muß jetzt in den Keller, wo der Sträfling an die Mauer gekettet steht, seine achtundvierzig Stunden sind abgelaufen.

ZWEITER WÄCHTER. Der wird nicht über heiße Füße klagen. Du gehst morgen zum Gouverneur?

ERSTER WÄCHTER. Wenn du ernstlich einheiraten willst, gehe ich zum Gouverneur.

DER MANN. Gouverneur! Wo ist der Gouverneur? Ich will nicht länger.

ERSTER WÄCHTER zum zweiten. Hol mir die Schlüssel, ich muß die Ketten aufschließen.

ZWEITER WÄCHTER. Wieviel hast du in Ketten?

ERSTER WÄCHTER. In jeder Kellerzelle einen.

DER MANN. Die Ketten ertrag ich nicht länger. Ihr sollt mich haben. Ich bin ein einfacher Mensch. Die Augen, die durch die Gittertüre grinsen. In der Nacht krachen die Ketten an mir wie Stücke Eis. Ich will alles sagen, was ihr haben wollt. Ich bin fertig. Ich mache nicht mehr mit. Wenn ihr mich leben laßt, werde ich Schreiber. Ich werde Hausierer. Ich werde Knecht. Ihr könnt mich schlagen.[67] Fragt mich. Preßt mich doch aus. Ihr könnt alles wissen. Ich will frei sein.

ZWEITER WÄCHTER. Wie frei der Kerl hier schreien darf! Müßte ihm das Maul stopfen.

ERSTER WÄCHTER. Das ist noch nichts. Am Anfang beginnt's immer so mit Kleinigkeiten. Aber wenn er erst gegen uns tobt, dann ist's Zeit, ihn zum Schweigen zu bringen, daß er jahrelang noch Schmerzen spürt, wenn er nur von einer Wächterjacke träumt!

DER MANN. Ihr verfluchten Hunde, laßt mich frei. Ihr Marterschweine, die Ketten herunter! Ihr Lumpendreck, der stinkende Teufel hat euch ausgeschissen, ihr tierisches Spitzelpack, ihr seid nie Menschen gewesen, als Nägel, als Peitschen, als Ketten seid ihr geboren, darum quält ihr Menschen! Ich spucke euch an, foltert mich; schließt mir den Mund, ich kotze euch doch an. Stecht mir die Augen aus, und wenn ihr sie schon tot an die Erde geschmissen habt, werden sie sich noch unter eurem Fuß vor euch ekeln!

ERSTER WÄCHTER. Er beginnt. Jetzt ist's Zeit. Hol die Schlüssel. Nimm die Gummiknüppel mit. Auch den Knebel, es brennt mehr, wenn er nicht schreien kann. Bring auch meine Tochter mit dem Kinde mit, es macht der Kleinen immer Spaß, wenn wir einen Anfänger vornehmen. Es soll ja eigentlich nach der Vorschrift nicht sein, aber bei der Art Gefangenen erfahren die Herren doch nie, was wir tun! Mach schnell, die Sachen sind in meinem Zimmer, sag's meiner Tochter.

ZWEITER WÄCHTER. Der sieht bald, wie ihm ohne Ketten zumute wird. Wußte nicht, daß ein Spaß für das Mädel dabei ist.

ERSTER WÄCHTER. Eil dich!


Zweiter Wächter ab.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 67-68.
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