Dreizehnte Szene

[73] Der Mann. Später Anna mit dem Kind.


DER MANN. Und nun, Wunder, sei bei mir. Licht strahle aus mir. Laß diese Eisen an mir verbrennen, wie die Jahre im Hauch der Erde.


[73] Die Tochter des Wächters, Anna, kommt mit dem Kinde an der Hand.


ANNA. Wo seid ihr, Lumpenkerle? Jämmerlinge sind diese Männer. In der Festung rumort's, und ihr seid nicht zu finden, habt euch verkrochen wie die Schnecken, damit keiner von euch dafür einsteht!

DER MANN. Sie sind fort!

ANNA. Fort? Was für eine zimperliche Stimme. Bist du das, Sträfling, hast du schon dein Teil gekriegt, komm ich zu spät?

DER MANN. Die Wächter sind fort.

ANNA. Was soll das? Warum ist keiner hier? Ich will mein Leben haben! Seit Tagen spitz ich drauf, daß der Alte dir den Buckel vollschlägt. Soll ich vielleicht an den Gitterstangen rauf und runter rutschen?

DER MANN. Dein Kind!

ANNA. Das Kind? Sieht oft genug zu. Wo sind die andern?

DER MANN. Frei.

ANNA. Was redest du da sinnlos?

DER MANN. Am Boden liegen die Schlüssel!

ANNA. Die Schlüssel. Wer hat sie hingeworfen?

DER MANN. Dein Bräutigam. Er ist fort.

ANNA. Bräutigam? Der Weichling. Wo ist mein Vater? – Aber was frag ich dich, den Sträfling?

DER MANN. Dein Vater ist mein Kamerad, mein Bruder. Unter die Menschen, Kameraden. In ein neues Leben. In die Freiheit.

ANNA. In die Freiheit? Der alte Narr. Keiner mehr da: warte einmal, dich will ich mir schon holen. – Da die Schlüssel. Ich mach dir jetzt auf. Hast du Hunger, oder bist du schon mürbe geworden im Keller?

DER MANN. Mach meine Zelle nicht auf.

ANNA. Ho, du wärst ja der erste Sträfling, der gefangen bleiben wollte.

DER MANN. Ja, ich will bleiben, geh!

ANNA. »Geh!«? Wohin denn? Vielleicht zu den andern? Hab ich nicht nötig. Hab an mir genug.

KIND. Mutter, an mir![74]

ANNA. Schweig, Fratze. Sei froh, daß du überall dabei bist!

KIND. Mutter, hier ist es nicht lustig.

DER MANN. Da liegen die Schlüssel. Die andern sind fort, selbst der Gouverneur ist fort. Wir sind die einzigen.

ANNA. Sie sind toll geworden.

DER MANN. Nein, nicht toll. Sie sind frei.

DAS KIND. Mutter, hier ist ein Schlüsselbund. Horch nur, wie schön das klingelt!

DER MANN. Dein Kind hat die Schlüssel. Das ganze Haus ist in deiner Macht.

ANNA. In meiner Macht? Das Kind klingelt mit dem Schlüsselbund. Ich habe noch nie Macht gehabt, was kann ich damit tun? – Ha, ich weiß, du willst heraus! – O ich kenne die Menschen.

DER MANN. Ich will nicht von dir befreit sein. Ich will dich befreien!

ANNA. Mich befreien! Das Kind klingelt. Was soll ich damit. Ich kenne nur Lust, und ich kriege jeden Mann, den ich will, es sind genug an die Mauer geschlossen. Es ist alles nicht wichtig, und nachher ist alles, wie es immer war.

DER MANN. Doch, es ist alles wichtig. Es bleibt nicht, wie es war. Du hast die Macht. Du kannst davongehen und alle Gefangenen im Hause verhungern lassen.

ANNA. Es kommt vielleicht nicht mehr darauf an. Wir haben sie schon halbtot gequält.

DER MANN. Aber du kannst auch fortgehen, Feuer an das Haus legen und die Schlüssel hineinwerfen!

ANNA. Das will ich nicht.

DER MANN. Sieh auf diese Schlüssel. Sie sind hell. Ein Licht geht von ihnen aus. Jeder ist eine kleine blaue Flamme. Das kommt aus uns, und das geht wieder zu uns zurück. Alle Menschen, die einmal geliebt haben, haben ihren Hauch in diese Gefängnisschlüssel geschickt. Sieh, wie es um sie strahlt. Du hast dein Leben in den Folterkellern verbracht, du kennst die Menschen im Dunkel, du sahst auf ihren Gesichtern nur Gewalt. Du hast nur die Angst und die Gier gesehen. Aber als du dein Kind bekamst, in der Nacht, im dunkelsten Schlaf, in deinen Träumen, da war es bei dir hell, du wußtest, daß du auch geliebt[75] werden kannst; bei dir stand ein strahlender, schöner Mensch in weißem Licht, den hast du geliebt, für den warst du da. Der war in dir. Und nur am Tage fandest du die Gemeinheit in den Gefängniskellern. Dein Leben, wenn du bei dir warst, wenn du ruhtest, dein Leben in dir: war Liebe und Helligkeit. Du warst geliebt. Du kannst helfen!

ANNA. Helfen!


Das Kind klingelt mit den Schlüsseln.


DER MANN. Hilf! Du wirst den andern helfen, allen. Diese Schlüssel, dieses kleine klingende Blinkfeuer weht die Gefängnismauern um!

ANNA. Helfen. – Ich. – Mir ist so sanft. Wer bin ich? Ich bin ganz allein. Ich schwebe hinauf, ich fliege, ich bin so leicht. Um mich ist nur weißes Licht. Ich will hinaus in das Licht, hinauf. Ich bin nicht mehr allein. Sie schweben alle in dem Licht; der Alte schwebt da mit dem langen Bart, den sie dreimal in der Woche hungern lassen. Über mir – der hält mir die Hände entgegen, goldene Flammen – der Geschlagene, den sie an die Mauer gekettet haben. Oh, da bist du, ganz hoch oben, ganz weit, du, du winkst mir, du bist zu weit, ich kann nicht zu dir kommen, hilf mir, du –

DER MANN. Ich bin dir nah.

ANNA. O habe ich dich gesehen? Habe ich dich geliebt? Liebe ich dich? Bist du es?

DER MANN. Nein, nicht ich. Alle. Du bist auserwählt. Dein Leben wird Aufscheinen unter den Menschen sein. Hilf ihnen!

ANNA. Ich bin ganz neu. Ich habe das nicht gewußt. Was ist das in mir?

DER MANN. Freiheit.

ANNA. O ich bin dir ganz nah, ich könnte durch dich hindurchgleiten, verschwinden um dich, über dir, unter dir, um dich sein. Ich könnte dein Bett, deine Bank sein, deine Wand, dein Gitter, deine Ketten, deine Zelle, das Haus um dich. Das alles ist fort. Ich sehe nichts mehr, nur Licht, auf und ab und schwebende Menschen drin. – Freiheit! – Bricht zusammen.


Das Kind klingelt lange mit den Schlüsseln.
[76]

DER MANN. Freundin, Schwester, Kameradin! Hilf ihnen!

ANNA. Wohin?

DER MANN. Auf das Schiff. In das neue Leben. Die Brüder warten.

ANNA. Und du?

DER MANN. Erst sie! Befreiung, alle, sie warten jahrelang!

ANNA. Freiheit. O Freiheit für die Menschen! Und daß ich meine Augen und meine Hände und meinen Leib habe, ihnen zu helfen! Ich gebe ihnen die Freiheit, ich Arme! Aber sind sie nicht begraben und vermodert und vergessen? Zu Hilfe, o her zu mir, zur Freiheit! Ab.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 73-77.
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