Neunte Szene

[65] Gefängnis. Eine Bank, auf der zwei Wächter der Gefangenen sitzen.

Erster Wächter. Zweiter Wächter. Später der Mann.


ERSTER WÄCHTER. In den Zellen geht ewas vor. Da ist nicht alles in Ordnung.

ZWEITER WÄCHTER. Es ist alles ruhig. Ich habe eben noch einmal inspiziert und durch die Türen gesehen. Was sollte auch geschehen? Wir haben das neue Alarmsystem. Es kann gar nichts vorkommen.

ERSTER WÄCHTER. Es geht etwas vor, seit die neuen Gefangenen da sind. Wenn man zwanzig Jahre Dienst in der Festung tut, fühlt man es am Rücken, ob etwas nicht in Ordnung ist.

ZWEITER WÄCHTER. An deinem Rücken spürst du das? Die Kerle sollen es an ihrem Rücken spüren, wenn sie sich unterstehen!

ERSTER WÄCHTER. So etwas sagt man hier nicht.

ZWEITER WÄCHTER. Wußte nicht, daß ich in einem Jungfernstift bin.

ERSTER WÄCHTER. Grünling! Bei uns heißt es: Kein Wort mit dem Mund, aber alles mit dem Gummiknüppel.

ZWEITER WÄCHTER. Habt ihr noch mehr von solchen Bibelsprüchen?

ERSTER WÄCHTER. Wir schlagen nie. Der Gefangene hat sich immer gestoßen.

ZWEITER WÄCHTER. Kenn ich vom Irrenhaus her: Der Patient kommt in Gummi, der kann kein Glied mehr rühren, auch wenn die Ohrfeigen von selbst kommen; nur noch schreien, und das hört keiner. Wenigstens uns hat das Schreien noch nie beim Essen gestört.

ERSTER WÄCHTER. Wir sind hier nicht im Irrenhaus, junger Mann. Das hier ist eine anständige Festung. Da schreit keiner, denen ist das Schreien schon längst vergangen. Wenn da so eine feine, blanke Haut von draußen kommt, wo wir sehen, der hält nicht still; so einer wird gleich in eine Ecke gesteckt, wo ihm monatelang im Dunkel das Wasser von den Mauern über die Knochen rieselt.[65]

ZWEITER WÄCHTER. Und wenn er euch krank wird?

ERSTER WÄCHTER. Soll er ja auch, du Anfänger! Ich geh gewiß nicht im Pflegekittel zu ihm. So einen haben wir bald mürbe.

ZWEITER WÄCHTER. Du sagst aber selbst, daß in den Zellen etwas vorgeht!

ERSTER WÄCHTER. Das ist was andres. Das spür ich. Vor zwanzig Jahren, als ich den Dienst antrat, hab ich es schon mal so gespürt. Damals haben wir ein halbes Dutzend mit unseren eigenen Händen still machen müssen. Die andern wurden an der Mauer von den Posten abgeknallt. Der letzte bekam's so, daß er bald am Schädelbruch starb. Seitdem heißt es, man soll nicht mehr schlagen.

ZWEITER WÄCHTER. Weiß schon. Heute haben wir gebildetere Zeiten.

ERSTER WÄCHTER. Du meinst, weil der Sträfling photographiert wird? Ich spür's doch im Rücken, daß etwas vorgeht, ich spür's viel stärker als damals; zwanzig Jahre lang war hier ein so stilles Leben, und heute ist mir auf einmal, als ob die Steine aus den Wänden fliegen und die eisernen Türen von Pappe sind. Ich bin gar nicht sicher.

ZWEITER WÄCHTER. Mach doch eine Meldung.

ERSTER WÄCHTER. Ich kann's nicht beweisen. Dann heißt es nur, ich bin zu alt zum Dienst geworden.

ZWEITER WÄCHTER. Wie lang muß ich Dienst machen, um dein Gehalt zu kriegen?

ERSTER WÄCHTER. Für dich, mein Jüngelchen, aus dem Amt fliegen? Und was soll meine Frau und meine Tochter machen?

ZWEITER WÄCHTER. Wie alt ist deine Tochter?

ERSTER WÄCHTER. Und dann ist noch das Kind da; das Dreinschlagen nützt nichts, die Weiber wollen ihr Leben haben.

ZWEITER WÄCHTER. Wenn aber deine Tochter heiratet, dann bist du doch versorgt.

ERSTER WÄCHTER. Der Kerl, von dem das Kind ist, der ist längst über alle Berge. Heiraten? Auf dem Halse habe ich sie, und ich habe doch in meinem Alter so sehr meine Ruhe verdient.

ZWEITER WÄCHTER. Ich muß gleich wieder Runde machen.[66] Wenn du meinst, daß in den Zellen nicht alles in Ordnung ist, will ich den Revolver mitnehmen. – Kannst du nicht einen jungen Mann für deine Tochter brauchen?

ERSTER WÄCHTER. Das heute ist kein Revolvertag, ich weiß das. Du willst meine Tochter heiraten?


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 65-67.
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