Zehnte Szene

[101] Vorige. Der Kranke.


DIE MEUTERNDEN SCHIFFSGEFANGENEN sind auf dem Verdeck angelangt, in ihrer Mitte ein Kranker. Sie stehen zum Angriff bereit. Luft! – Nieder mit den Schurken!

DER GOUVERNEUR zur Schiffsbesatzung. Kameraden, nehmt mein Leben, ich rette uns. Nicht Gewalt!


Die Schiffsbesatzung läßt die erhobenen Arme sinken und steht regungslos da.


DIE MEUTERNDEN. Nieder mit euch!

DER GOUVERNEUR. Menschen! Gemeinschaft!

DIE MEUTERNDEN. Feinde! Tod!

KLOTZ, DER MANN, DIE FRAU, ANNA mit ausgestreckten Armen. Gemeinschaft!


Die Meuternden lassen entsetzt die Fäuste sinken.


DER KRANKE. Ich sterbe. Warum erschlagt ihr uns nicht?

NAUKE, OFFIZIER, ERSTER WÄCHTER, ZWEITER WÄCHTER, ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GEFANGENER bewegungslos. Rettung. Wir glauben.

OFFIZIER. Wie konnte ich vergessen. Brüderschaft!

GOUVERNEUR zu den Meuternden. Ihr seid die Brüder!

DIE MEUTERNDEN. Wir sterben!

DER KRANKE. Warum wehrt ihr euch nicht? Wir sind krank. Ist das die Pest? Dann sterb ich wie ein Hund. Sie machen euch alle nieder.

DER GOUVERNEUR. Sie tun uns nichts – Du stirbst nicht. Du wirst leben. Ich liebe euch, Brüder!

DIE MEUTERNDEN. Brüder?

DER GOUVERNEUR ergreift den Kranken. Freund, Kamerad, mein Bruder! Du bist die Zukunft, wie wir die Zukunft sind. Nimm mein Leben, wenn ich es geben soll, und lebe du! Alle Menschenkraft, die durch die Welt fließt, strömt jetzt durch mich. Alle Brüder geben ihre Liebe für dich. Unser Leben ist für dich da!

KRANKER zitternd, erstaunt. Ich hab nur noch Stunden!

DER GOUVERNEUR. Wer Bruder der Erde ist, wird leben. Ich umarme dich. Du bist nicht krank. Ich will es. Du bist nicht krank. Wir wollen es!


Er umschlingt ihn.
[101]

DIE MEUTERNDEN leise. Die Pest!

KLOTZ, DER MANN, DIE FRAU, ANNA umschlingen gemeinsam den Kranken. Du bist nicht krank!

DER GOUVERNEUR. O fühlt ihr, wie die Zukunft wieder durch euer Blut schießt? Du bist nicht krank! Du lebst in der Liebe!

NAUKE, OFFIZIER, ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GEFANGENER, ERSTER WÄCHTER, ZWEITER WÄCHTER lösen sich aus ihrer Starre, umarmen Klotz, den Mann, Anna, die Frau, den Gouverneur, schwach, jeder in einem anderen Seufzer. Liebe!

DER GOUVERNEUR. O Kraft, wieder ist sie unter uns! Unser Wille trägt uns wie ein Sternenwind zur Freiheit der Menschen!

DIE MEUTERNDEN schwach. Freiheit?

KRANKER. Was habt ihr nur getan? Ich fühle meine Glieder stark. O Rettung! Soll ich euch dienen?

DER GOUVERNEUR. Nein, du dienst uns nicht. Wir werden dir dienen! Spüre, wie die Erde hell wird vor unserer Reinigung!

DER OFFIZIER. Komm, ich wasche dich! O daß ich ins alte Dunkel zurückgefallen war!

NAUKE zu den Meuternden. Brüder, ich hab zu trinken für euch, heimlich versteckt, Flaschen für mich, ihr sollt sie haben!

DER GOUVERNEUR. Spürt ihr, wie das Schiff über das Wasser saust! Unser neues Blut treibt seinen Lauf. Das Ziel ist nahe!

KLOTZ UND DER MANN zum Kranken. Willst du meine Hände, meine Arme haben, meine Arbeit? Ich gebe mich für dich!

DER GOUVERNEUR. Was sind wir für die Menschen? Tragen wir schon die Freiheit in unseren Händen? Nein, so haben wir nur uns selbst gewonnen! Wir haben noch uns! Wir haben noch alles zu verlieren!

ANNA zum Gouverneur. Ich war ferne von dir. Aber nun sage ich zu dir: Geliebter!

DER GOUVERNEUR. Ich wollte aus uns allen: Liebe! Aber nun darf ich es nicht mehr sagen. Das ist noch Hochmut. Es ist zuviel. Wir sind noch zu reich. Wir müssen hinab, ganz tief hinab zur letzten Armut![102]

ANNA. Geliebter, vernichte mich, zerstöre mich, dring in mich, tu mir Gewalt vor allen, ich will niedrig sein. Nicht einmal die Hand leg ich über die Augen!

DER GOUVERNEUR. Nicht ich, Geist soll dich durchdringen. Ich bin ein armer Mensch, ich bin nur noch für die Menschheit da!

ANNA. Bin ich nicht die Menschheit?

DER GOUVERNEUR. Oh, wie tanzen wir alle noch in der Macht und der Gier der Gegenwart. Wir sind noch nicht arm genug für die Zukunft!

NAUKE. Ich bin verloren, wenn ich nicht mehr in der Gegenwart leben soll. Die Zukunft ist hoffnungslos.

DER GOUVERNEUR. So hoffnungslos, daß sie verzweifelt ist. Die Verzweiflung muß über uns sein. – Wir haben noch zu viel Hoffnung, noch schlafen wir! – Verzweiflung über die Welt: aus ihr die Kraft, das Äußerste zu wollen! Das Schiff tobt an den Städten vorbei, und wir fürchten noch ihre Gefahr für unser Leben, unsern Willen. Und jetzt sage ich euch, Kameraden, wir müssen an Land!

NAUKE. An Land? In die Pest, in die toten Städte?

DER GOUVERNEUR. So müssen wir die lebendige Stadt schaffen! Wir müssen durch den letzten Tod, durch den letzten Unrat, durch die erstickende Pestwolke. Wir müssen zu den Menschen!

DER KRANKE. O seht, wie lang ist es her, daß dies nicht mehr war: dort unten die Stadt! Türme und Häuser wie Kornähren dicht, und darunter klein: lebende Menschen!

DIE MEUTERER. Die Stadt! Lebende Menschen!

DER GOUVERNEUR. O meine Brüder, wir müssen hinein in das Schicksal, wissend! Was haben wir getan! Wir haben durch die Flucht und durch die Erniedrigung nur uns gewonnen. Nun müssen wir uns wieder verlieren. Wir sind zu sehr Selbst; wir haben noch ganz unser Ich. Wir müssen uns sprengen! Jetzt müssen wir zerstören!

ANNA, DIE FRAU. Zerstören?

DER GOUVERNEUR. Zerstören müssen mir unsere letzte Rettung. Zerstören müssen wir die Planken unter unseren Füßen. Wir müssen unsere letzte Sicherheit zerstören. Wir dürfen nicht mehr zurück. Wir dürfen nicht mehr fliehen können.

ANNA. Was willst du tun?[103]

DER GOUVERNEUR. Wir müssen an Land und das Schiff zerstören.

MEUTERER. Das Schiff zerstören?

ANNA, DIE FRAU, KLOTZ, DER MANN. Nein!

DER GOUVERNEUR. Wollen wir nicht die Befreiung? Wir befreien die Menschen nur, wenn wir als Freie zu ihnen kommen!

ANNA. Aber das ist unser Tod!

DER GOUVERNEUR. Nein, es ist unser Glaube für die Menschen! Wir müssen durch die größte Versuchung, um alles zu verlieren!

DIE MEUTERER. Land, Land! Die Stadt! Der Hafen ist da!

NAUKE. Der Hafen – Hilfe! Wir verrecken an der Pest! Fort vom Hafen!

DER GOUVERNEUR. O ihr Brüder, zuerst müssen wir ganz verschmolzen sein, einig wie eine Wabe Honig, ein einziges aufblitzendes Feuerlicht in Liebe, eh wir den Menschen die Freiheit bringen. Brüder! Wir sind eins in Liebe!

ALLE. Brüder! Liebe!

DER GOUVERNEUR. Menschen! Wir glauben!

ALLE. Wir glauben!

NAUKE. Volldampf auf den Fluß! Rettung! – Nur weg vom Land!

DER GOUVERNEUR. Welt! Unser Leib trägt die Freiheit um die Erde. Brüder, Kameraden, für die Menschheit werft ihr euer Leben fort, unser Glaube wirft uns in die Zukunft.

ALLE. Freiheit!

NAUKE. Freiheit zu leben – nicht zu sterben! Das Land kriecht schon über uns! Fort! Fort!

DER GOUVERNEUR. Den letzten Besitz von uns Armen zerstör ich zur Freiheit. Frei geben wir uns der Welt hin.

ALLE. Hingabe!

DER GOUVERNEUR. Dieser Hebel sprengt unser Schiff – er ist heiße Glut. – Mut, Glaube! Wir können nicht mehr zurück. Vor uns die Stadt! Wir müssen an Land – wir dürfen uns nicht mehr aufs Schiff zurück retten! Ich sprenge das Schiff! – Hingabe!

NAUKE. Nein! Um alles in der Welt: nicht der Hebel! Ich hab's nicht für Ernst gehalten! Die Hand fort vom Hebel! [104] Stürzt hinauf zur Kommandobrücke, um dem Gouverneur in den Arm zu fallen.

DER MANN. Das Ufer! Hier ist das Land! Wir sind an Land!

ALLE. Wir sind an Land!

DER GOUVERNEUR. Zurück! Ich sprenge! Wer leben will: an Land!


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 101-105.
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