Fünfte Szene

[113] Vorige, ohne die drei Revolutionärinnen, und das Volk.


JUNGER MENSCH zu Anna. Du bist das! Was soll das! Wer bist du? Feinde werden beseitigt!

ANNA. Du siehst aus wie ein Freund.

JUNGER MENSCH. Du sprichst, als hättest du ein eigenes Recht – und bist doch genau wie alle anderen Frauen. Heute machen wir keinen Unterschied mehr!

ANNA. Gerade weil ich bin wie alle andern, spreche ich mit meinem eigenen Recht zu dir.

JUNGER MENSCH. Du bist nicht schön. Aber etwas an dir reizt einen Mann. Komm!

ANNA. Du bist offen und schnell.

JUNGER MENSCH. Was bleibt einem heute? Vielleicht ist man eine Stunde später tot.

ANNA. Meine Zeit ist um. Leb wohl. Nun muß ich fort.

JUNGER MENSCH. Schon? Warum schon? Komm zu mir, ich weiß einen Platz für uns.

ANNA. Nein, ich kenne einen besseren als dich!

JUNGER MENSCH. Oh. Alle sind wie ich, es ist gleich.

ANNA. Weißt du nichts Besseres von dir? Alle Frauen sind wie ich. Auch das ist gleich. Du brauchst nicht mich. Aber ich such einen, der leben will, nicht sterben.

JUNGER MENSCH. Wie soll das einer heute wissen? Es ist gleich.

ANNA. Du mußt es wollen.

JUNGER MENSCH. Das kann unsereiner nicht mehr, dazu haben wir keine Zeit.

ANNA. So schaff dir die Zeit.

JUNGER MENSCH. Ich muß arbeiten.

ANNA. Wahnsinn, wenn ich euch höre! Du Armer. Hast du denn noch das Auge, mich anzusehen?

JUNGER MENSCH. Es ist wahr. Ich habe mehr eine Lust von dir herüber gespürt. Ich sehe dich jetzt zum erstenmal an.

ANNA. Hast du schon deine Hände zum erstenmal angesehen? Hast du schon deine Arbeit zum erstenmal angesehen? Deine Maschine? Deine Fabrik? Deinen Weg am[113] Morgen bis zur Nacht? Deine Genossen? Deine Stadt? Die Welt draußen?

JUNGER MENSCH. Und die Arbeit?

ANNA. Die Arbeit ist euer Tod!

JUNGER MENSCH. Ah – nein, das weiß ich schon: wie sollen wir uns anders aufrechterhalten?

ANNA. Ihr haltet eure Feinde aufrecht, die Bürger.

JUNGER MENSCH. Wir können heute nicht mehr anders als arbeiten.

ANNA. Dazu hat dich deine Mutter geboren, daß du nicht mehr anders kannst, daß du gehorchst, daß du nicht weißt, was du tust? Du hast ja nicht einmal Zeit und Freiheit, mich anzuschauen und deine Arme um meinen Hals zu legen! Deine Arme? Deine Arme wissen längst nichts mehr von dir seit deiner Kindheit – deine Beine sind nur noch zum Stehen an der Maschine gut, dein Bauch zum Verdauen, dein Glied zum Krankheitverbreiten und zum Zeugen von Kindern, die so jämmerlich leben wie du selbst, und dein Kopf, um über der toten Beschäftigung deines Körpers zu wachen. Du weißt nichts von dir, du weißt nichts von mir. Was hast du vom Leben?

JUNGER MENSCH. Und wenn ich heute aufhöre? Morgen ist es wieder das gleiche. Wir können nicht mehr heraus.

ANNA. Nein! Du bist nicht allein. Ihr alle müßt aufhören. Ihr müßt alle einmal wieder wissen, woher ihr kommt, daß ihr lebt, daß ihr Freiheit habt, zu tun, was ihr wollt, und nichts zu tun. Sieh mich an. Bei mir hast du mehr als Lust: Du hast die Freiheit.

JUNGER MENSCH. Ich höre schon in meinem Ohr eine andere Antwort rauschen, als ich dir sagen wollte. Aber ich bin nicht allein, ich halte fest. Wenn wir aufhören zu arbeiten, dann überrumpelt der Feind uns wie Kinder. Binden werden uns die Bürger, fortschleppen, ermorden oder in die Bergwerke schmeißen und zur Todesarbeit peitschen, sie würden in die Stadt dringen, ohne Widerstand zu finden.

ANNA. Ja, mein Freund, mein Geliebter, laß mich deine Hüfte fühlen! Sie würden kommen, ohne Widerstand zu finden. Wie durch Kissen würden sie gehen, auf Weichem würden sie schreiten – und darin versinken! Auf[114] unheimlich Weichem würden sie schreiten müssen! Einer nach dem andern aus ihrem Heer sinkt ein in eure Widerstandslosigkeit, einer nach dem andern läßt die Hände sinken vor euren ruhenden Händen. Einer nach dem andern hungert neben eurem Hunger. Einer nach dem andern wird umgurgelt von der steigenden und steigenden Flut der Gewaltlosigkeit. Schaut hin, ihr hattet die Feinde mitten unter euch, und während sie noch um sich schlugen, fielen ihnen die Waffen aus den schreckzitternden Händen. Sie waren wissend geworden. Sie waren wissend geworden von sich – durch euch. Die Feinde sind zersplittert, versunken, die Bürger sind verschwunden. – Ihr habt die neuen Brüder unter euch!

JUNGER MENSCH. Komm, ich weiß einen grünen Rasen mit Büschen am Wasser. Dieser Abend wird so schön, die Sonne ist noch rötlich da.

ANNA. Du weißt es heut zum erstenmal. Komm – ich muß bald fort, zu den Brüdern.

JUNGER MENSCH. Oh, warum so schnell! Komm mit mir! Nimm dir doch Zeit, Zeit, Zeit! Was hindert uns? Mach dich frei, wie ich!

ANNA. Nun weiß ich, daß die Erde nicht verloren ist! – Komm.


Beide ab.


JUNGER MENSCH im Abgehen. Frei! Frei! Keine Hand arbeitet mehr! Ab.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 113-115.
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