Achte Szene

[140] Vorige. Nauke.


NAUKE stürzt auf. Betrug! Da sind sie! Greift sie! Nieder mit den Schwindlern. Schlagt sie nieder, die Schufte, sie bringen euch Unglück, sie bringen jedem Menschen Unglück! Schlagt sie tot! Sie lügen euch an. Sie sind schuld, daß ihr vor Hunger zugrunde geht. Sie sind schuld, daß ihr mit den Bürgern im Kampf seid. Ohne sie hättet ihr Essen und ruhiges Leben! Die Bürger sind über euch, ihr seid besiegt! Erschlagt die falschen Brüder, das ist eure einzige Rettung vor den Bürgern, sonst werdet ihr selbst niedergemacht.

DER MANN. Volk, hör mich! Die Bürger sind besiegt!

NAUKE. Lüge, sie sind auf dem Marsch gegen euch.

DER MANN. Wir alle, ihr und wir, sind stärker als alle Bürger der Welt!

DER KRÜPPEL. Wem kann man glauben?

DER BUCKLIGE. »Wir«? Wer ist das – »wir«?

KLOTZ. »Wir«, das sind wir alle hier, alle Völker der Erde, alle, die arbeiten, denken, leben wollen!

NAUKE. Spion! Agent!

STIMMEN AUS DEM VOLK. Zurücknehmen! Nimm das zurück! Beweis!

NAUKE holt zum Reden aus. Volk! Helden! ...

STIMMEN AUS DEM VOLK. Es gibt keine Helden! Nieder mit dem Kerl! Nimm das Wort zurück!

ANDERE SIMMEN. Nieder mit dem Kerl! Seine Worte lügen uns an!

DIE FRAU. Er ist euer Verräter!

ANNA. Er hat die Bürger in die Stadt geführt!

NAUKE. Sie brachten euch Essen!

VOLK. Essen!

KLOTZ. Lüge! Lüge! Sie brachten euch nichts, ihr habt es erfahren – nichts! Ihr hungert, weil sie es wollten!

NAUKE. Volk, Sieger ...

VOLK. Wir sind nicht Sieger. Er lügt. Nieder!

DER GOUVERNEUR. Laßt ihn! Er ist nur schwach und zweifelnd! Wir sind die Schuldigen, wir die Söhne der Erde,[140] wir die Sternbrüder, wir die Erweckten. Opfert uns – so werdet ihr den Sieg haben!

JUNGER MENSCH. Seid ihr die Retter?

DER GOUVERNEUR. Wir haben keine Waffen. Wir haben kein Brot!

JUNGER MENSCH. Wie retten wir uns?

DER GOUVERNEUR. Noch schweben wir zu fern von euch. Nehmt uns: erschlagt uns, wenn ihr wollt. Tötet uns, wenn ihr sehen müßt, wie unsere Seele in euch lebt: Die Menschheit! Schluckt uns auf. Laßt uns verschwinden unter euren Füßen und Fäusten – und ihr habt unsere Waffen.

JUNGER MENSCH. Eure Waffen?

KLOTZ. Unsern Willen.

DER MANN. Unser Denken, unsre Arbeit: Euer Brot!

DIE FRAU stürzt dazwischen, zu den Brüdern. Nein! Nein! Zuviel! Haltet zurück. Nicht das Opfer! Noch lebt ihr, Freunde. Wir sind gemeinsam durch die Schrecken der Welt gegangen, und nun sollt ihr sterben! Dies eine Mal laßt euer Denken nicht den Schritt zur Wirklichkeit machen. Bleibt! Es ist zu grauenhaft auf dieser letzten Schwelle!

DER MANN. Nein, Frau, wir bleiben nicht zurück. Unser Weg kostet unser Leben.

DIE FRAU. Und deine Schöpfung? Ist sie, wenn du stirbst?

DER MANN. Sie wird erst, wenn ich nichts mehr vor ihr bin!

DIE FRAU. Sterben – Opfer? Wenn nichts anderes herrscht, dann ist die Erde eine Wüste!

DER MANN. Nein, das neue Morgenreich! Nur zu wollen brauchen wir und zu tun!

DER GOUVERNEUR. Ich hab das Wort gesprochen: Opferung. Ich sprach das Gesetz aus. Nun war ich wieder ein Tier wie ehemals. Gab Gesetze. Ungeläutert immer noch. Das war Sünde, wenn auch zur Rettung. Das letzte Mal, es bleibt nichts anderes. Wir müssen hinab.

NAUKE zum Volk. Sehr ihr, wie sie beraten? Seht da den Feind – fort müssen sie! Hört auf mich! Sie helfen euch nicht, wenn sie leben. Es sind Fremde! Sie sprechen eine andere Sprache als ihr. Ihr seht die Feinde nicht? Hört ihre Sprache, seht ihre Gestalt![141]

DAS VOLK. Sie sprechen eine andere Sprache. Sie sind Fremde.

KLOTZ. Volk, du zögerst. Glaube uns dies letzte Wort, daß wir nicht Schonung brauchen.

STIMMEN AUS DEM VOLK. Geht! Verlaßt die Stadt!

DER MANN. Und euer Kampf? Ihr wollt unterliegen? Die Bürger fallen über euch her und schlagen euch zu wehrlosen Sklaven!

DAS VOLK. Die Bürger?!

DER GOUVERNEUR. Wer seid ihr? Denkt, wer ihr wart vor eurer Geburt! Taucht hinab in euch – kommt über uns, weil wir euch fremd sind, und blickt in euch selbst: Da – einmal wußtet ihr, daß die Erde euch gehört, das Feld, die Fabrik euch, wie euer eigener Arm! Vergessen habt ihr. Habt euch heut hinübergehungert über den letzten Verfall. Seid im Greisenalter. Hinein müßt ihr in neue Jugend, hören wieder die Schilfgräser summen an eurem Fluß. Hinab tauchen müßt ihr in euch. Hinaus springen über uns, ohne Dienerscheu; nie sonst werdet ihr befreit von eurer schielenden Zweideutigkeit. Volk, deine Gewißheit und deine Kraft geht über uns! Dann habt ihr Kraft über die Bürger.

VOLK in großer Angst. Die Bürger!

NAUKE. Was habt ihr Angst vor den Bürgern, die ihr nicht seht? Die hier sind gegen euch! Ihr flieht vor den Bürgern? Das da sind eure Bürger!

KLOTZ. Volk, wir sind es, wir. Ihr wartet auf die Gewalt? Übt sie an uns! Ihr hungert? Fort mit unseren Mäulern! Ihr meint noch, wir seien euch Führer? Wollt ihr wissen, wer wir sind? Ich sag euch alles, das Verruchteste! Heut nacht hatt ich einen Traum – ich bin nur einer von uns –, und ich träumte unsere Wahrheit, denn der Traum schob die Riegel fort von meiner Verstellung. Da war in einem Saal mit glattem, weitem Boden ein Befehlsmensch, ein Blutherrscher. Ich stand gekrümmt vor ihm. Was ich dabei dachte? Ich dachte an das Ehrenregiment, das mir verliehen wurde. »Hol mir ein Auto!« rief der Herrscher. Ich fand mich sehr geehrt und lief unterwürfig hinaus wie ein Diener. Ich hätt es geholt, da erwachte ich. Das bin ich, das sind wir. Hab ich nach diesem Traum noch das Recht, für die Menschen zu arbeiten?[142]

STIMMEN AUS DEM VOLK. Verräterei! Sie verkaufen uns an die Herrscher! Nein, tut ihnen nichts, es ist nur ein Traum!

KLOTZ. Nur ein Traum? Aber das Schlimmste wißt ihr noch nicht. Jetzt zeig ich es euch. Er ballt die Hände hohl übereinander und streckt sie vor, als enthielten sie etwas. Wißt ihr, was ich in meinen Händen bewahre? Hier? Orden, Auszeichnungen, Dokumente, Freundschaftsbriefe und Pläne feindlicher Herrscher!


Das Volk in wütender Unruhe.


DER MANN leise zu Klotz. Was hast du in den Händen?

KLOTZ leise zum Mann. Du weißt es – nichts! Laut zum Volk. Volk, so werf ich diese Schätze von Ehre und Reichtum unter dich! Verachte sie, sie sind deine größte Gefahr!


Er macht mit beiden Händen eine weite Wurfbewegung über die Köpfe des Volkes hin. Das Volk blickt in die Höhe und streckt alle Hände fangbereit hoch.


DIE EINE GRUPPE DES VOLKES. Gefahr, er verkauft uns! Niedertracht!

DIE ANDERE GRUPPE DES VOLKES. Wo ist es? Wer hat etwas bekommen? Hast du's gefangen?

DAS GANZE VOLK. Es ist nichts da! Wutgebrüll. Lüge!

NAUKE schrill. Sie haben gemacht, daß ihr hungert!

STIMMEN AUS DEM VOLK. Wer sind sie? Fremde. Lügner. Verräter. Sie wissen nichts von uns. Sie mästen sich an uns.

DER BUCKLIGE. Seht ihre Sitten!

DER KRÜPPEL. Sehr ihre unverschämte Leichtigkeit.

NAUKE. Volk, sie haben verhindert, daß ihr Essen findet! Sie sind am Fortzug unserer Retter schuld. Sie haben die Bürger besiegt.


Im Volk anschwellender Lärm.


DER GOUVERNEUR über dem Lärm. Nicht besiegt. Wir siegen nicht. Es gibt keinen Sieg! Hinaus mit dem Sieg aus der Welt! Wir sind nicht Soldaten, wir sind Menschen! Nicht Sieg befreit euch – nur eure Erkenntnis!

VOLK anschwellend. Tod![143]


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 140-144.
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