Ludwig Rubiner

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Im Moment des Kriegsendes muß die geistige Welt dieser Erde bereit sein. Sprechen wir gar keine großen Worte aus; lassen wir die Schwüre, daß dieser Krieg der letzte sei. Das haben wir den kommenden Generationen als Geburtsgeschenk mitzugeben: die Verneinung, Verlachung, Verunmöglichung des Krieges. Aber dies kann erst eine Folge der ganzen Haltung und das Ziel im kommenden Zeitalter sein.

Für den Moment des Friedensschlusses geht es nicht um die Entschlüsse der Zukunft, sondern um eine ungeheure verödete, ausgesaugte, Schritt für Schritt grauenhaft isolierte Gegenwart. Wir dürfen unsere Aufgabe nicht aufschieben; nicht kleinkrämerisch warten, bis die Verhältnisse im Laufe der Zeiten wieder ins Menschlichere gerollt sind. Hier muß unser Wille stehen. Die Geistigen aller Länder müssen in diesem Moment sichtbar vor dem Auge der Völker sich die Hände reichen. Die Entschlüsse jedes Einzelnen sind längst gefaßt; sie sind einander nicht fremd. Die Schöpfungspläne der Einzelnen für die Zukunft der Welt stimmen alle in den Grundzügen so überein, daß man sagen muß, der geistige Weg für das Wollen der Besten ist schon vorgezeichnet. Es handelt sich also nicht mehr um Diskussionen. Es handelt sich um einfachste, reale Vereinigung der Wollenden.

Und nichts andres ist unsere kleine, harmlose, so bescheidene Zivilisationsaufgabe, als bis zu diesem Moment festzubleiben, nicht zu vergessen und nicht vergessen zu lassen. Einer Welt (ihre namenlose Leidenszerbröckelung ist heute nur noch der eigenen, schwerfällig weiterrollenden Trägheit des Willens verschuldet) die Beharrlichkeit, Kontinuierlichkeit und Zuverlässigkeit unseres Willens entgegenzustellen.

Dies alles ist: den Moment des Kriegsendes geistig vorbereiten.

Aber das ist nicht zu machen, wenn der öffentliche Ausdruck[302] der geistigen Tätigkeit des Menschen so schwindelhaft bleibt, wie wir ihn bisher als Leser gar nicht anders kennen.

Es ist nicht wahr, daß öffentliche, veröffentlichende Menschen in Wahrheit als letzten Schrei ihres Leben, als verzweifeltste Mitteilungsnot vor der Katastrophe sich in solchen Vorstellungen bewegen:


Beethovens Skizzenbücher und Debussys Notenschrank.

Die Ellipse bei Greco.

Die Quellen zu Flauberts Bovary.

Sind die Werke von Hölderlins Wahnsinnszeit echte Dichtungen?

Die siebzehn Ströme der Sozialdemokratie.

Irische, altdeutsche und flämische Mystik.

Zur Psychologie Cagliostros.

Über den Begriff des Tanzes.

Der amerikanische Mensch.

Der italienische Mensch.

Der deutsche Mensch.

Der kanadische Mensch.

Der französische Mensch.

Jeanne d'Arc und Deutschland.

Dickens, ein Spiegel englischen Wesens.

Der Panslawismus bei Dostojewski.


Es ist nicht wahr, daß die Gesichterettung, die letzte Augenhilfe der verzweifelten Menschheit, die letzte Auslieferung an eine Seh-Mitteilung zur Wiederbesinnung auf unser Geistiges, es ist nicht wahr, daß die uns angehenden Gaben eines Malers, Holzschneiders, Zeichners so aussehen:


Komposition Nr. 13.

Landschaft mit Fahnenstange.

Akt I.

Akt II.

Akte III-X.

Nature morte (!! wo es schon nichts anderes mehr gibt).

Komposition Nr. 20.

Bildnis des Gefängnisdirektors, des Künstlers, des Generals z.D.

Dame mit Sonnenschirm.

Negerinnen.[303]

Seinebrücke.

Komposition Nr. 30.


Es ist nicht wahr, daß dies Menschen angeht.

Es ist nicht wahr.

Das alles ist darum Betrug. Zeit-, Kraft-, Raum-, Interesse- und Talentvergeudung, weil es in dumpfer Unbewußtheit den Versuch macht, heutiges Empfinden auszudrücken durch einen alten, abgelegten, erstorbenen, nicht mehr existierenden Inhalt (der vielleicht vor Zeiten einmal wirklich so lebendig war, Menschen auf sich zur Besinnung zu bringen, der aber heute nur noch historisch-lexikalische Bildungssache ist). Ein Schein-Inhalt. Lebens- und Aktivitätsströme werden in Kadaver geleitet, um der Mitwelt das Schauspiel des galvanisierten Zuckens toter Glieder zu zeigen. Irrtum, Selbstmord, Betrug und Selbstbetrug!

Die Themen des Dichters, Schriftstellers, Publizisten – des öffentlichen Menschen – sind die, die uns Kraft geben, für die Zukunft feste zu stehen. Ungefähr so, und wem eines das Herz bedrängt, der soll es laut aussprechen:


Wir dürfen nie wieder vergessen.

Bund der Geistmenschen.

Neuschaffung der Welt aus dem Wissen in Wirklichkeit.

Die neue Wirklichkeit.

Aus der Nationalität zum Erdballmenschen.

Aufruf an die Verzweifelten.

Aufruf an die noch Lebenden.

Aufruf an die Geretteten.

Dreitausend Aufrufe an die Frauen der Erde.

Dreitausend Aufrufe an diese Überhälfte des Menschengeschlechts (in allen Graden).


Die Musiker der neuen Zeit komponieren die Tuba mirum des Jüngsten Gerichtes und das Gloria in excelsis des Menschen. Die Tänzer tanzen die Tänze »Gegen den Krieg«, »Himmel und Hölle« und »Das Schweben des Geistmenschen«.

Die Maler der Zukunft zeichnen Flugblätter, als Vorbilder zum Leben, so intensiv heutig brennend gedacht, wie die – auch ihrer Zeit nicht kunstgenießerisch, sondern lebendig vorbildlich und zeitungshaft wirkenden! – Holzschnitte Dürers und seiner Genossen aus einer damals neuen Religionsperiode, diese Apokalypsen und Marienleben, Erschütterungen[304] und Verantwortlichmachungen für jeden Menschen, dem sie in die Hand fielen. Mit allen Fähigkeiten des neuen Auges hat der Maler heute wiederum Vorbilder in die Öffentlichkeit zu zeichnen. Vorbilder für die Aufpeitschung und die Aufrichtung, in denen kein Stück der Komposition aus Gefälligkeit und Formenspaß gemacht ist, sondern jede Form die Tatsache eines Dinges vertritt, das den Menschen wesentlich ist. Und es gibt hier das große, den Ateliers noch so unbekannte Mittel, das längst allen Völkern bekannt und vertraut ist und auf sie unendlich aktiver wirkt als die empfindungsreichste Spezialität der Kunstsalon-Maler: Dies ist die Malerei der Propaganda für und gegen. Erinnert euch an die Reklame-Prospekte der Geschäftshäuser mit den Zeichnungen »Vor dem Gebrauch – nach dem Gebrauch!« Was dort von Dilettanten entworfen, kindlich ausgeführt schon auf hunderttausend wirkte, wie wird es erst Menschen umschaffen im Antrieb wahrer Fähigkeiten, in der Kraft der Erfindung, schöpferisch.

Heute gilt das ungeheure Werk Giottos als Kunst. Aber zur Zeit, da es geschaffen wurde, war es genußlosestes, erhabenstes, verantwortungsvollstes Vorbild für eine Nachfolge von Heiligenleben des Franziskus unter allen Menschen, die Augen hatten zu sehen.

Und nun, Dichter und Maler, ihr habt euch zu stellen. Entweder ihr arbeitet für die Rente; dann wundert euch nicht, wenn ihr nächstens noch bei lebendigem Leibe nach Verwesung stinkt. Oder ihr arbeitet für die Menschheit, dann habt ihr Vorbilder zu entwerfen, nach denen Hunderttausende sehnend zielen werden, Vorbilder über euch hinaus, und ihr werdet euch eines Tages mit dem Musiker verbündet sehen, diesem bisher idiotischesten aller Selbstgenußparasiten, der euch seine hohe Messe bringt, unzweifelhaft mit dem ersten Hauptstück unzerbrechlichster Festigkeit: Et in terra pax; und der aus den neuen, von euch geformten Menschen seinen Chor aufstellt zur singenden Aufweckung der Gemeinschaft.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 302-305.
Lizenz:

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