Das Haus Reichegg

Das allgemeine Krankenhaus der Stadt G .... ist wie die meisten älteren Anstalten dieser Art ein düsteres, schwerfälliges Gebäude, das sich auf einem öden, entlegenen Platze befindet, wo eine Kirche, eine Kaserne und eine altertümliche Fronfeste seine nächste Umgebung bilden. An dem kahlen Mauergeviert ziehen sich lange Reihen halb erblindeter Fenster hin, und wenn man durch das wuchtige, gelb angestrichene Tor tritt, so gelangt man in einen mäßig großen, mit Bäumen und spärlichem Rasen bepflanzten Hof, wo bei günstiger Jahreszeit Kranke und Genesende, in lange Spittelröcke gehüllt, an der Luft sitzen oder gruppenweise mit kaum hörbaren Schritten und leisen Gesprächen auf und nieder wandeln. Der Anblick der hinfälligen, bresthaften Gestalten, das dämmerige Halbdunkel der Treppen und Korridore, die eigentümlich bewegte Stille, die aus den Krankensälen dringt – dies alles fällt dem Besucher mit ergreifender Wehmut aufs Herz und läßt ihn, ernster als sonst, über die Gebrechlichkeit des menschlichen Daseins nachsinnen, der auch er unterworfen ist. –

Diesen traurigen, die Seele beklemmenden Ort hatte ich im Sommer des Jahres 187* häufig aufgesucht, um eine schmerzliche Pflicht zu erfüllen. Einer meiner ältesten und vertrautesten Freunde, welcher, angezogen von den landschaftlichen Reizen der Umgegend, in G ... seinen wissenschaftlichen Bestrebungen lebte, war nämlich von einem körperlichen Leiden befallen worden, das, anfänglich nicht beachtet, immer heftiger und gefahrdrohender hervortrat. Häuslicher[203] Pflege und Fürsorge entbehrend, sah er sich endlich gezwungen, in der öffentlichen Heilanstalt Aufnahme zu suchen, wo man ihm ein abgesondertes, für ähnliche Fälle bereitgehaltenes Zimmer zur Verfügung stellte. Auf die Nachricht hiervon war ich also herbeigeeilt, um dem Einsamen tröstend, vielleicht auch hilfreich in diesen schweren Tagen zur Seite zu stehen, die bei seinen eigentümlichen Lebensschicksalen um so ernster und bedeutungsvoller erschienen. In seiner Jugend zu einem anderen Berufe bestimmt, hatte er später auf seiner Laufbahn, eine lange Reihe von Jahren hindurch, unzählige Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Und nun, da er endlich das Ziel seiner Bestrebungen erreicht, die langersehnte Anerkennung und Geltung gefunden: nun sollte der Vielgeprüfte an sich selbst erfahren, wie grausam oft das Geschick mit denjenigen spielt, die sich durch eigene Kraft emporgerungen. Denn schon während einer Reise durch Italien, die er, gehoben und begeistert von seinen ersten Erfolgen, mit mir gemeinsam unternommen hatte, waren ihm die ersten Anzeichen jener tückischen Krankheit fühlbar geworden, welche seine Kraft lähmen – und vielleicht für immer vernichten sollte. –

So brachte ich denn jetzt den größten Teil des Tages bei ihm in der düstern Krankenstube zu, in die nur selten ein freundlicher Sonnenstrahl fiel, und deren einziges Fenster auf einen kleinen, von hohen Mauern umschlossenen Nebenhof hinausging, wo ein bemooster Steinbrunnen melancholisch plätscherte. Außer mir kamen nur wenige Besuche. Desto häufiger aber fand sich der Arzt ein, der meinen Freund mit großer Sorgfalt behandelte. Es war ein älterer, behaglicher Junggeselle. Seine vollen Wangen zeigten das Rot der Gesundheit, und um die Lippen spielte ein feinsinnlicher Zug; aber seine Stirn war frei und hoch, und seine Augen strahlten von Geist und Erkenntnis. Auf der Höhe des heutigen Wissens stehend und in seinem Fache ein leidenschaftlicher Forscher, hatte er sich[204] doch jene tieferen Gemütslaute bewahrt, die auf den Patienten so wohltuend wirken und der neueren ärztlichen Schule mehr und mehr abhanden kommen. Vor allem aber war es sein köstlicher Humor, der ein Gespräch mit ihm als wahren Genuß empfinden ließ; wie denn auch mein armer Freund in seiner Gegenwart fast ganz des quälenden Leidens vergaß und gleichsam neubelebt aufatmete.

Eines Morgens hatte ich wieder Himmel und Sonnenschein draußen zurückgelassen und die Anstalt betreten. Vor dem Tore war mir eine schwerfällige Kutsche samt einem alten, schwarzgekleideten Diener, der am Schlag lehnte, ins Auge gefallen, und als ich die Treppe hinanstieg, konnte ich im Hause ein außergewöhnliches feierliches Treiben wahrnehmen. In dem bekannten Zimmer angelangt, fand ich den Doktor am Bette, aber eben im Begriffe, sich zu verabschieden.

»So eilig, Bester?« fragte mein Freund. »Bleiben Sie doch noch ein wenig bei uns!«

»Geht nicht. Wir haben heute große Visite. Die Oberin der Schwestern, die hier den Dienst der Krankenpflege versehen. Aber erschrecken Sie nur nicht! Hierher wird sie sich wohl schwerlich verirren, obgleich ich Ihnen beiden wünschen möchte, sie kennen zu lernen. Eine ganz merkwürdige Persönlichkeit. Die Tochter des ehemaligen Staatsrates Reichegg. Auf sie ist jedoch das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von jener finsteren Bigotterie und starren Unduldsamkeit, durch welche sich ihr Vater einst eine so traurige Berühmtheit erworben. Sie ist vielmehr eine echte Frauenseele, voll Nachsicht und Menschenliebe – und jener Frömmigkeit, die einen bedauern läßt, daß man sie selbst nicht mehr besitzen kann. Und auch da oben« – er deutete mit dem Finger nach der Stirn – »sieht es ganz respektabel aus; es ist mir jedesmal ein Vergnügen, sie durch die Krankensäle geleiten zu können. Schade, ewig schade, daß sie Nonne geworden. Es ließe sich zwar annehmen, daß[205] sie der Alte bei seiner demütigen Hinneigung zur Kirche von Kind auf dazu erzogen – aber ich glaub's nicht. Wenn die Weiber ins Kloster gehen, steckt immer eine unglückliche Herzensgeschichte dahinter. Falls es Sie interessiert, sie zu sehen« – wandte er sich an mich – »so finden Sie sich in etwa einer Stunde unten im großen Hofe ein. Dort muß sie, wenn sie die Anstalt verläßt, an Ihnen vorüberkommen. Es wird Sie nicht reuen; solche Erscheinungen werden in unserer Zeit immer seltener.«

Damit ging er und ließ mich allein bei dem Kranken zurück, der eine üble Nacht gehabt zu haben schien und müde die Augen schloß. Ich aber setzte mich ans Fenster und blickte vor mich hin. Die Worte des Doktors hatten in mir Erinnerungen geweckt – nähere und entferntere, und wie sie sich jetzt wechselseitig belebten und ergänzten, zog folgendes im Geist an mir vorüber.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 7, Leipzig [1908], S. 197-200,203-206.
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