II.

[170] Es kam, wie Dorsner vorhergesagt. Zwei Komiteemitglieder – ein älteres und ein junges – waren im Vestibül anwesend, als wir erschienen. Sie sahen uns sehr befremdet und mit gespreizter Zurückhaltung an; da aber Dorsner mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit auf sie zutrat und, sich tief verbeugend, fragte, ob es denn nicht möglich wäre, an dem schönen Feste teilzunehmen, so zuckte es geschmeichelt um ihre Nasenflügel, ein wohlwollendes Lächeln verbreitete sich über ihre Gesichter, und indem sie etwas von ›besonderer Ehre‹[170] murmelten, geleiteten sie uns zuvorkommend in den Saal, wo eben ein Tanz zu Ende ging und die Musik verstummte. Wir befanden uns also einem bunten Gewirr von sich auflösenden Paaren gegenüber und wurden anfänglich kaum bemerkt. Nachdem aber die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren, wendete sich uns nach und nach die allgemeine Aufmerksamkeit zu, die von männlicher Seite keine besonders wohlwollende zu sein schien, während der weibliche Teil eine gewisse angenehme Überraschung nur schwer verbergen konnte. Dorsner, indem er das unbärtige Komiteemitglied vertraulich unter dem Arm faßte, bat, ihn einigen jungen Damen vorstellen zu wollen; denn der Schalk vermied es, geradenwegs auf sein Ziel, die rosige Gerberstochter, loszugehen, welche sein Erscheinen sofort bemerkt hatte und nun, das Antlitz hinter dem ausgespannten Fächer verbergend, mit ihren wohlbeleibten Anverwandten an einem Tische des anstoßenden Speisezimmers saß; man konnte in dieses durch eine offene Flügeltür sowohl, wie auch durch einige hohe Fenster, die nach dem Saale gingen, bequem hineinblicken. Es dauerte nicht lange, so wurde das Zeichen zu einer Polka gegeben, welche Dorsner mit einer stämmigen Brünette eröffnete, die ihn, der von kleinem, zierlichem Wuchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst hatte mich, hinter einer Reihe von Zuschauern, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurücksank. Denn die Gesellschaft, die ich hier vor Augen hatte, zog mich in ihrer spießbürgerlichen Behäbigkeit keineswegs an, und die zwar blühenden, aber plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen erschienen mir so reizlos wie möglich. So beschloß ich denn, noch eine Weile in meinem halben Versteck auszuharren und dann unbemerkt zu verschwinden, da ich ja nunmehr meinen Freund, der sich jetzt im Tanze bereits zu seiner Holden gefunden hatte, getrost seinem Schicksal überlassen konnte. Plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt. In den Armen eines vierschrötigen,[171] ungelenken Tänzers schwebte eine schlanke Gestalt anmutig vorüber. Ein einfaches, hellblaues Kleid reichte ihr, nach der Mode der damaligen Zeit, mit einer leichten Falbel bis an die Knöchel und ließ die zierlichen Füße sehen. Ihr Haar, von schimmerndem Aschblond, war aus der Stirn gestrichen, rückwärts zusammengeknotet und bloß mit einem weißen Sträußchen geschmückt; um den Hals war ein schmales schwarzes Samtband geschlungen, an dem ein kleines goldenes Kreuz hing. Ich ließ die gefälligen Wendungen dieser lieblichen Erscheinung nicht mehr aus den Augen, und als sie jetzt, wieder in meine Nähe gelangend, aufsah, begegneten sich unsere Blicke. Die Polka dauerte schon ziemlich lange; die meisten Paare hatten bereits untereinander abgewechselt, nur der Tänzer der schlanken Blondine schien dies nicht willens zu sein. Er tanzte unerschütterlich weiter, den Arm gleich einer Klammer um den zarten Leib des jungen Mädchens geschlungen, den Blick starr auf ihren Scheitel geheftet. Endlich schien es ihr zu viel zu werden. Mit dem Ausdruck von Mißmut im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufatmend in einen nahen Stuhl. Es war mir, als blicke sie dabei nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten. Aber ein eigentümlich lähmendes Zögern überkam mich – und als ich mich endlich entschließen wollte, hatte sie schon ein anderer junger Mann in den Reigen gezogen, der übrigens sehr bald zu Ende ging. In dem verdrießlichen Gefühl meines ungeschickten Verhaltens vermied ich es jetzt, ihren Blicken zu begegnen; später gewahrte ich, wie sie am Arme ihres früheren Tänzers in das Speisezimmer trat. Dort nahmen beide an einem Tische Platz, an welchem eine vertrocknete alte Frau saß, eine mit kupferroten Bändern verzierte Haube auf dem Kopf; ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein; auch konnte man immerhin den jungen Mann trotz seines breiten, wuchtigen Auftretens für den Sohn halten. Auch Dorsner war da drinnen zu erblicken;[172] er verweilte bereits im besten Einvernehmen bei der Familie des Lohgerbers. Ich erwog nun, ob ich gehen oder bleiben solle, und drückte mich eine Zeitlang unschlüssig an den Wänden hin, als ich mit einem Mal rings herum eine auffallende Bewegung wahrnahm, deren Grund mir auch alsbald klar wurde. Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng anliegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach vorne gestrichen und über der Stirn in eine hoch emporstehende Schraube gedreht, war in die Mitte des Saales getreten und kündigte jetzt mit laut kreischender Stimme an, daß nunmehr eine Française erfolgen würde. Dieser Tanz war damals noch keineswegs etwas Gewöhnliches, er galt vielmehr in kleinen Städten als ganz besondere Neuerung, in deren Schwierigkeit sich die wenigsten gefunden hatten. Daher trat auch, als der Alte mit einem abgenützten Klapphute, den er unter dem Arm hervorzog, dem Orchester das Zeichen zur Einleitung gab, nur eine geringe Anzahl von Paaren heran.

›Was!?‹ rief der Sprecher, der sie sofort mit einem Blicke überzählt hatte, ›was, nur neun Paare!? Sind wir denn in Krähwinkel? C'est une honte! Schämen Sie sich, meine Herrschaften! En avant! Ich bitte, herbei zu kommen!‹

Diese Worte ermunterten manche, die unschlüssig gewesen zu sein schienen; sie näherten sich befangen und zögernd.

›Bravo! Nur immer herbei! Ich bin überzeugt, daß noch viele da sind, die ganz gut mittanzen könnten. Pas de gêne, mes dames! Keine Umstände, meine Damen! J'arrangerai tout! Es wird vortrefflich gehen. Nur Courage, meine Herren!‹

Diese Zurufe lockten noch einige heran, so daß nunmehr etwa zwanzig Paare Aufstellung genommen hatten. Nun aber zeigte es sich, daß ein vis-à-vis fehle.

›Ein vis-à-vis!‹ schrie der Alte wieder. ›Wir brauchen noch einen Herrn und eine Dame! Ein Königreich für ein vis-à-vis! Kommt wirklich niemand? Nun, ich werde schon irgendwo[173] etwas Verborgenes ausfindig machen – vielleicht im Speisezimmer!‹ Und damit eilte er dorthin, trat auf die Schwelle und erblickte die schlanke Blondine, die mit dem Rücken gegen den Saal gekehrt saß, während ihre Tischnachbarn dem Forschenden unwillige Blicke zuwarfen. ›Was?‹ rief er in seinem höchsten Fisteltone, ›Fräulein –‹ er kreischte einen Namen, den ich nicht verstehen konnte – ›was, die beste meiner ehemaligen Schülerinnen macht sich unsichtbar, wenn es an eine Quadrille geht?! Das muß ich mir ausbitten! Es scheint, meine Herrschaften,‹ wendete er sich an die übrigen, ›es scheint, daß Sie die junge Dame hier zurückhalten!‹

›Wir halten niemand zurück, Herr Tanzmeister,‹ erwiderte die alte Frau mit scharfer, beinerner Stimme. ›Wenn das Fräulein tanzen will, so mag sie es immerhin.‹

Diese aber schien in großer Verlegenheit und im Kampfe mit sich selbst zu sein. Der Alte jedoch ließ ihr keine Zeit zu weiterer Überlegung. Er ergriff sie rasch beim Arm und zog die allerdings nur schwach Widerstrebende in den Saal hinaus. Dort fiel sein Blick sofort auf mich, denn ich war inzwischen dem Schauplatz dieser Szene näher getreten. ›Und da haben Sie auch gleich einen vorzüglichen Tänzer!‹ rief er aus. ›Ich habe es wohl bemerkt, wie halsstarrig der Herr Offizier vorhin meiner Aufforderung ausgewichen ist; jetzt aber, hoff' ich, wird er sich nicht länger bedenken!‹ Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, voreinander stehen. Wir erröteten beide, verneigten uns gegenseitig und traten, nachdem ich ihr den Arm geboten, in die Reihe.

Noch hatten wir in unserer Befangenheit kein Wort gewechselt, als schon die Quadrille begann, bei welcher man in jener Zeit nicht bloß nachlässig hin und her schlenderte, sondern jeden Schritt aufs genaueste markierte. Und da war es eine Freude zu sehen, mit welcher Grazie sich meine Tänzerin bewegte. Die schmächtigen Arme an den Hüften hinabsenkend, schien sie damit ein leichtes Heben ihres Kleides andeuten zu[174] wollen, während die schmalen Füßchen, in knappen Schuhen mit Kreuzbändern, nur so über den Boden hinschwebten. Mit vollendeter Anmut streckte sie mir, wenn wir uns nach kurzer Trennung wieder zusammenfanden, die Hand entgegen. Dabei lag ein fast feierlicher Ernst in ihren Zügen; man konnte bemerken, daß sie von ihrer Aufgabe, sich als fertige Tänzerin zu erweisen, erfüllt war, indes ich nun Gelegenheit hatte, in nächster Nähe jede Einzelheit ihrer jugendlichen Schönheit zu bewundern: die schimmernde Stirn, das etwas kurze, aber fein modellierte Näschen, die durchsichtig zarte Muschel des Ohres. Noch immer verhielten wir uns schweigend; erst als der Tanz bewegter wurde und trotz der schrillen Feldherrnstimme des Alten mehrfache Irrungen und Stockungen entstanden, fand ich Anlaß zu einigen scherzhaften Bemerkungen, die sie jedoch bloß mit einem reizenden Lächeln erwiderte.

Jetzt aber, als alles glücklich zu Ende war und die Paare Arm in Arm einen Rundgang durch den Saal antraten, begann ich mit der allerdings banalen, aber am nächsten liegenden Phrase: ›Wahrhaftig, mein Fräulein, Sie tanzen wundervoll, und ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt war, dies an Ihrer Seite zu erkennen.‹

Sie errötete ein wenig und sagte dann mit einer ganz eigentümlich tiefen und wohllautenden Stimme: ›Nun ja, ich habe mir Mühe gegeben, die Quadrille ordentlich zu erlernen. Es ist auch gar nicht so schwer; man muß nur ein bißchen den Kopf zusammenhalten. Aber die meisten Mädchen sind so zerstreut und ziehen daher die einfachen Rundtänze vor.‹

›Diese sind vielleicht auch in mancher Hinsicht angenehmer,‹ erwiderte ich, noch immer sehr unsicher in der Fortführung des Gespräches. ›Aber ich habe bis jetzt verabsäumt, mich Ihnen vorzustellen.‹ Ich nannte meinen Namen.

Sie verneigte sich leicht und sagte dann: ›Ich heiße Ginevra – Ginevra Maresch.‹

›Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener.‹[175]

›Ich bin auch eine Italienerin,‹ entgegnete sie lächelnd, – ›das heißt, eine halbe. Meine Mutter ist aus Bassano im Venezianischen, wo sie mein Vater, als er noch Offizier war, kennen gelernt.‹

›Ihr Vater war Militär?‹

›Jawohl; aber er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können. Sie besaßen beide kein Vermögen. Es wurde dem Vater sehr schwer, eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubringen. Vor drei Jahren ist er hier als Einnehmer gestorben,‹ setzte sie ernst hinzu.

›Und Ihre Mutter?‹

›Die lebt – dem Himmel sei Dank. Aber sie hat in diesem Winter eine schwere Krankheit, – eine Lungenentzündung, durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt. Dies hielt sie auch ab, mich auf den Ball zu begleiten.‹

›Sind Sie mit Verwandten hier?‹

›Nicht mit Verwandten. Es sind bloße Bekannte, die sich erboten, mich mitzunehmen. Aber ich hätte es vorziehen sollen, zu Hause zu bleiben.‹

›Wieso?‹

›Nun sehen Sie, diese Leute haben uns vor längerem einen nicht unbedeutenden Dienst erwiesen, für welchen wir ihnen auch sehr dankbar waren. Aber sie wollen uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen – besonders die alte Frau, die eine wohlhabende Witwe ist, und das verträgt sich schwer. Die Tochter wäre eigentlich ein ganz gutes Mädchen, es ließe sich mit ihr auskommen. Aber leider ist sie gar nicht hübsch, und das empfindet sie sehr schmerzlich – besonders bei solchen Gelegenheiten, wo sie kaum einer um eine Tour bittet. Da muß es ihr auch doppelt weh tun, wenn sie wahrnimmt, wie andere von allen Seiten bestürmt werden. Um ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen, wollte ich mich eigentlich von der Quadrille zurückziehen, die sie überhaupt gar nicht tanzen[176] kann – so wie ihr Bruder, der sie gewissermaßen aus Hochmut nicht lernen will. Hingegen scheint er zu wünschen, daß ich sonst mit keinem andern tanze, als mit ihm.‹

›Und hat er ein Recht zu solchem Verlangen?‹

Sie erbleichte flüchtig. ›O nein! Nicht das geringste! Aber er tut sich etwas auf seine Wohlhabenheit zugute. Ich mag ihn gar nicht leiden, und zeig' es ihm auch, so weit es angeht. Aber er will es nicht verstehen, und nur die Rücksicht auf den erwähnten Umstand hat mich bis jetzt abgehalten, es ihm rund heraus zu sagen.‹

›Das ist freilich unangenehm.‹

›Sehr. Und ich sehe immer deutlicher ein, daß es für mich besser gewesen wäre, den Ball gar nicht zu besuchen. Aber es war mein erster, und dieser Verlockung vermag ein junges Mädchen nicht zu widerstehen.‹

›Konnten Sie sich denn nicht jemand anderem anschließen?‹

›Nein; wir haben uns im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zurückgezogen. Die Menschen hier hatten uns immer gewissermaßen als Fremde behandelt – und so sind wir es zuletzt geblieben.‹

Wir hatten während dieses Gespräches den Saal mehrmals umschritten und gar nicht bemerkt, daß sich die übrigen Paare allmählich verloren hatten, was uns jetzt zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit machen mußte. Nun aber begann das Orchester einen Walzer zu spielen, den man wahrscheinlich deshalb so bald folgen ließ, damit die von der Française Zurückgebliebenen entschädigt würden. Von den raschen Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen dahin – und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken, daß ich es unwillkürlich ihrem anspruchsvollen Begleiter nachtat und sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war. Tief Atem schöpfend, das losgegangene Haar aus der Stirn[177] zurückschüttelnd, machte sie eine Verbeugung, blickte dann, wie sich besinnend, im Saale umher und eilte in das Speisezimmer.

Um mich drehte sich noch alles, und als ich mich jetzt mit hochklopfendem Herzen nach einem Stuhl umsah, trat Dorsner lächelnd an mich heran. ›Nun,‹ sagte er, ›dein Geschmack ist nicht übel. Aber es ist ein noch ganz blutjunges Ding – und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gib acht, daß du nicht hängen bleibst.‹

Ich verstand kaum, was er sagte, und wollte mich eben setzen – da gewahrte ich, wie Ginevra an der Schwelle des Speisezimmers erschien. Sie war ganz bleich und ihre blauen Augen hatten einen dunklen, metallischen Glanz angenommen. Ich näherte mich ihr; sie kam mir sofort entgegen.

›Denken Sie,‹ begann sie mit zitternder Stimme, ›was man mir angetan! Meine Begleiter sind fort und haben mich allein hier zurückgelassen.‹

Einen Augenblick schwieg ich betroffen. Dann aber sagte ich: ›Nun, das wäre ja eigentlich das Schlimmste nicht.‹

›Gewiß nicht, wenn ich jetzt ungescheut bleiben könnte. Und eigentlich könnt' ich es auch,‹ fuhr sie fort, indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte, ›das Gerede der Leute sollte mich wenig kümmern. Aber meiner Mutter wegen darf ich es nicht. Im übrigen ist es gut, daß es so gekommen. Diese Menschen haben nun selbst das Band zerrissen, das uns drückte. Ich will mich nur noch ein wenig abkühlen, dann gehe ich nach Hause.‹

›Allein?‹

›Warum nicht? Ich kenne den Weg, und der ist kurz. Wir wohnen gleich in der Nähe – außerhalb der Stadt.‹

›Wie glücklich wäre ich, dürft' ich Ihnen trotzdem meine Begleitung anbieten.‹

›Das können Sie – wenn Sie meinetwegen den Ball verlassen wollen. Auch ist es ja, wie gesagt, nicht weit – in zehn Minuten sind Sie wieder da.‹[178]

›Ich werde nicht zurückkehren; denn was sollte ich hier noch, wenn Sie fort sind?‹

Jede andere würde nun, obgleich ich diese Worte in überzeugendem Tone gesprochen hatte, doch irgend eine spöttisch bezweifelnde Einwendung hingeworfen haben. Ginevra aber blickte nachdenklich zu Boden. ›Wirklich?‹ fragte sie dann, indem sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem vollen Blick ansah.

›Gewiß‹, bekräftigte ich.

Sie schwieg wieder. Dann sagte sie mit ihrer weichen, dunklen Stimme: ›Das freut mich.‹

Inzwischen hatte sich der Saal fast gänzlich geleert; denn die Raststunde war herangekommen, und alles drängte und zwängte sich behufs Erquickung und Stärkung in den Nebenraum, diesen überfüllend. Ich konnte mich daher mit Ginevra ruhig niederlassen, und zwar unweit einer offenstehenden Nebentür, die zur Damengarderobe führte. Vor dieser, in einem ganz kleinen Zimmerchen, war eine äußerst primitive Konditorei eingerichtet; es gab allerlei Backwerk, Orangen und Fruchtsäfte; Eis war nicht zu haben.

›Kann ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?‹ fragte ich.

›Nein, ich danke. Oder doch – um ein Glas Wasser möchte ich bitten.‹

Ich trat zu der alten Frau, die mit verdrießlichem Gesicht bei der Ware saß, begehrte Wasser, und um doch etwas zu erstehen, ließ ich auch einige Orangen auf den Teller legen, den ich Ginevra überreichte.

›Die Orangen sind schön‹, sagte sie. ›Ich werde eine davon nehmen und sie der Mutter bringen.‹

Nachdem sie getrunken hatte, blieben wir noch eine Weile schweigend nebeneinander sitzen. ›Nun aber bin ich bereit‹, sagte sie jetzt, indem sie sich erhob. ›Erwarten Sie mich draußen am Eingang; ich nehme nur meine Sachen aus der Garderobe.‹[179] Ich eilte nach dem Vestibül, wo mein Mantel hing. Es dauerte nicht lange, so erschien sie, in einen ganz leichten Überwurf gehüllt, ums Haupt ein schwarzes Schleiertuch geschlagen, aus welchem ihr lichtes Antlitz wundervoll hervorschimmerte. Draußen bog sie gleich links ab und schlug einen schmalen Fußpfad ein. Ich wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, und hielt mich in ehrerbietiger Entfernung an ihrer Seite. Es war eine mondlose Nacht; aber die Sterne flimmerten, und man konnte die Landschaft deutlich wahrnehmen.

›Sehen Sie die Reihe kleiner Häuser?‹ begann sie. ›Dort wohne ich.‹

›Das ist noch näher, als ich gedacht. Nur mehr ein paar Augenblicke – und Sie sind mir entschwunden. Vielleicht für immer.‹

Sie erwiderte nichts.

›Soll ich Sie wirklich nicht mehr wiedersehen?‹

›Ich werde die Mutter fragen,‹ sagte sie nach einer Pause.

›Und wie werde ich den Bescheid erfahren?‹

Sie schien zu überlegen. ›Kommen Sie morgen um vier Uhr nachmittags in jene Allee.‹ Sie deutete auf zwei Reihen kahler Bäume, die sich dunkel quer über die Felder gegen den Fluß hinzogen. ›Es ist mein Lieblingsweg; besonders in dieser Jahreszeit, wo es hier herum noch ganz einsam ist. Wollen Sie?‹

›Sie fragen? – –‹

›Es dürfte morgen gutes Wetter sein,‹ fuhr sie, stillstehend, mit einem Blick nach dem Himmel fort; ›auch schlechtes würde mich nicht abhalten. Jetzt aber bleiben Sie zurück. Gewahren Sie die erleuchteten Fenster? Meine gute Mutter wacht noch.‹ Sie reichte mir die Hand. ›Also addio! Auf morgen!‹

Sie eilte nach vorwärts, den matten Lichtern entgegen. ›Addio!‹ rief sie leise zurück. Dann klopfte sie leicht an eine Scheibe. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet und wieder geschlossen.[180]

Ich aber stand noch eine Weile und spähte nach dem Schatten Ginevras, der sich auf den durchschimmerten Fenstervorhängen abzuzeichnen schien. Endlich trat ich den Heimweg an, die Brust voll seliger Empfindungen, in welchen jede Erinnerung an meine Festungscirce spurlos unterging.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 170-181.
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