I.

[165] »Ich war zwanzig Jahre alt und Fähnrich bei einem Regiment, das einen Teil der Friedensbesatzung von Theresienstadt bildete. Diese Festung mag – abgesehen von ihrer anmutigen Lage[165] in einem der gesegnetsten Landstriche Böhmens – auch noch heute kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort sein; damals aber – in den vierziger Jahren – konnte er wahrhaft trostlos genannt werden. Denn außer dem großen, mit zwei Baumreihen umpflanzten Hauptplatze, der fast durchgehends militärische Gebäude aufwies, gab es dort nur vier Gassen. Sie führten in den entsprechenden Windrichtungen nach den Toren und Wällen und bestanden zumeist aus kleinen, hüttenähnlichen Häusern, in denen sich Krämer und Handwerker, Bierwirte und Branntweinschänker angesiedelt hatten. Die Offiziere waren daher ganz und gar auf den kameradschaftlichen Verkehr angewiesen, und wir Jüngeren führten nicht eben das erbaulichste Dasein. In den Vormittagsstunden mehr oder minder dienstlich beschäftigt, verbrachten wir die übrige Zeit im Militärkasino am Billard und am Spieltische, oder begaben uns nach der jenseits der Elbe gelegenen Kreisstadt Leitmeritz, wo wir zum Mißvergnügen der ehrsamen Pfahlbürger in Kaffee- und Gastwirtschaften sehr anspruchsvoll auftraten, leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen suchten, und nach der Rückkehr in die Festung begaben sich manche noch in ein höchst zweifelhaftes Lokal, um dort halbe Nächte bei Punsch und Glühwein zu durchschwelgen.

Was nun mich selbst betraf, so machte ich dieses wüste, gedankenlose Treiben schon deshalb mit, weil man sich nicht ausschließen konnte. Zudem war ich jung, und nach der strengen Zucht, die ich früher in einem Kadettenhause erdulden mußte, hatten derlei Ausschreitungen für mich den Reiz der Neuheit. Mein Oheim, der mich, den früh Verwaisten, gewissermaßen an Sohnesstatt angenommen und einen ziemlich hohen und einflußreichen Posten beim damaligen Hofkriegsrate bekleidete, setzte mir eine ganz ansehnliche Geldzubuße aus; ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb.

So kam es auch, daß ich eines Abends, im Karneval, einmal[166] und nachdenklich in meiner öden Kasernenwohnung saß und mich höchst unglücklich fühlte, und zwar aus folgendem Grunde.

Der Festungskommandant, ein invalider General, erfreute sich einer Tochter, welche zwar weder besonders jung, noch besonders hübsch zu nennen war, aber schon vermöge ihrer Stellung Anreiz genug besaß, um einem Neuling, wie ich, den Kopf zu verdrehen. Sie war auffallend schlank gewachsen, hatte glänzend schwarze, stechende Augen, sehr weiße, leicht zwischen den Lippen hervorstehende Zähne, und wußte ihren etwas vergilbten Wangen durch zartes Auflegen von Rot künstliche Frische zu verleihen. Bei erfahrenen Kameraden galt sie als eine ausbündige Kokette, und man hatte mich gleich anfangs, halb im Scherz, halb im Ernst, vor ihr gewarnt. Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anläßlich einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Oratorium der Garnisonskirche beiwohnte. Obgleich sie sehr andächtig in ihr Gebetbuch versunken schien, konnte ich doch bemerken, daß sie von Zeit zu Zeit nach mir hinblickte, anfänglich nur so von der Seite, dann aber mit Zuwendung des Antlitzes immer länger und eindringlicher. Ich glaubte dies um so mehr zu meinen Gunsten auslegen zu dürfen, als sie fortan stets hinter den Fensterscheiben erschien, wenn ich – und das geschah mehrmals des Tages – am Kommandantenhause vorüberging; ja einmal konnte ich sogar wahrnehmen, daß sie in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl gestiegen war, um mich von dort aus, wie sie wohl meinte, ungesehen beobachten zu können. Ich hatte daher keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr endlich persönlich näher zu treten, und der offizielle Ball, den ihr Vater demnächst zu geben verpflichtet war, erschien mir als huldvollste Gelegenheit. Ich stellte mir bereits sehr lehbaft vor, wie auch sie diesem Abend sich entgegen freue, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde – und was dergleichen[167] jugendliche Erwartungen mehr waren. Aber ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung vollständig ohne den Wirt gemacht. Denn zu dem Balle wurden auch auswärtige Gäste geladen, und unter diesen befanden sich neben höheren Standespersonen vom Zivil auch die Offiziere eines Chevauxlegers-Regiments, das auf dem platten Lande stationiert war. Da hatte ich nun den Schmerz, zu sehen, wie diese interessanten Ankömmlinge die Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses derart auf sich lenkten, daß sie für mich keinen Blick, und als ich mich später vorstellen ließ, auch kein aufmunterndes Wort übrig hatte. In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht den Mut, sie zum Tanze aufzufordern, und während die Grausame fast die ganze Zeit über von einem sehr aristokratisch aussehenden Rittmeister in Beschlag genommen wurde, fiel mir durch ein Verhängnis, wie es derlei Niederlagen stets zu begleiten pflegt, die schwindsüchtige Tochter eines Kreisrates zu, welche, da sie sonst niemand aufzufordern Lust bezeigte, mit ihren rötlich blonden Schmachtlocken gleich einer Klette an mir hing, bis ich mich endlich, sobald dies in anständiger Weise geschehen konnte, aus dem Staube machte und vom Balle verschwand.

So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen den kahlen vier Wänden, während die Dämmerung längst hereingebrochen war und ich kaum mehr die Rauchwolken sah, die ich aus einer langen Pfeife mechanisch vor mich hinblies. Plötzlich vernahm ich hastige Tritte, die sich draußen auf dem Gange der Tür näherten; diese wurde polternd aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien eine mantelumhüllte Gestalt, die sich schwarz in schwarz von der sie umgebenden Dunkelheit abhob.

›Bist du hier?‹ rief eine kräftige, etwas schnarrende Stimme, an der ich sofort einen meiner näheren Freunde, den Leutnant Dorsner, erkannte. Und da ich mich jetzt bemerkbar machte,[168] fuhr er eintretend fort: ›Zum Teufel, was treibst du denn da im Finstern?‹

Ich legte die Pfeife weg und zündete eine Kerze an, bei deren zweifelhaftem Schein ich wahrnahm, daß Dorsner, der jetzt den Mantel auseinanderschlug, in eine schmucke, ganz neue Halbuniform gekleidet war und Lackstiefel an den Füßen hatte.

›Ich gehe nach Leitmeritz hinüber‹, sagte er, meine Frage vorweg nehmend. ›Es ist heute dort Ball auf der Schießstätte. Und du sollst mit mir kommen.‹

›Wir sind ja gar nicht geladen.‹

›Das tut nichts. Ich habe einer Dame versprochen, zu erscheinen, und so muß es geschehen.‹

Ich wußte, daß er in geheimnisvollen Beziehungen zu der hübschen Tochter eines wohlhabenden Lohgerbers stehe, die er auch später geheiratet hat.

›Gut,‹ erwiderte ich; ›aber wie willst du das anfangen?‹

›Ganz einfach; ich gehe eben hin. Was bleibt den Herren »Ballausschüssen« anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aber deshalb siehst du auch ein, daß ich nicht ganz allein dort erscheinen kann. Ich hatte mich schon mit Heillinger verabredet; aber dieser ist im letzten Augenblicke verhindert worden. Also tu' mir den Gefallen.‹

Aber ich war an diesem Abend zu derlei Unternehmungen ganz und gar nicht aufgelegt und wandte daher neuerdings ein; ›Und wenn man erfährt, daß wir dort waren? Du weißt doch, wie sehr man höheren Orts dagegen ist, daß wir an derlei Unterhaltungen teilnehmen.‹

›Unterhaltungen? An was für Unterhaltungen?‹ rief er ärgerlich. ›Es kommen die anständigsten Bürgerfamilien von Leitmeritz zusammen. Und überdies: auf einen Verweis mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Seit wann bist du denn so ängstlich geworden? Ich, als dein Vorgesetzter, befehle dir, mit mir zu gehen. Vorwärts! Marsch!‹

Noch immer konnte ich mich nicht entschließen und schützte[169] Unwohlsein vor. Ich hätte mich auf dem Kommandanten-Balle erkältet.

›Ach was! Flausen! Derlei Erkältungen tanzt man sich am besten gleich wieder aus dem Leibe. Und gib acht, was für Mädchen du da drüben in die Arme bekommen wirst. Ganz andere Geschöpfe, als diese dürren Gliederpuppen, wie sie gestern an uns herumbaumelten.‹

Ich sah, daß es kein Entrinnen gab, und da endlich doch auch der Gedanke einer möglichen Zerstreuung in mir auftauchte, so erklärte ich mich schließlich bereit und ging daran, mich umzukleiden, während Dorsner ebenfalls von Zeit zu Zeit vor den kleinen Wandspiegel trat und sein dichtes, von Natur gekräuseltes Haar unternehmend auflockerte.

Endlich war ich fertig, und wir traten, die Festung hinter uns lassend, den Marsch nach Leitmeritz an. Tagsüber war Tauwetter eingefallen; nun aber hatte der Boden, sehr zum Vorteil unserer Beschuhung, wieder angezogen. Trotz des Frostes war in der herben Luft etwas wie ein Vorhauch des Frühlings zu spüren, und so schritten wir behaglich in gleichmäßigem Takt den hell erleuchteten Saalfenstern entgegen, welche von der am Eingange der Stadt gelegenen Schießstätte durch feine weiße Nebel herüberstrahlten.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 165-170.
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