IV.

[188] »Und nun«, fuhr der Oberst fort, »begann für mich eine selige Zeit. Ich suchte, so oft es nur anging, das kleine Haus auf, dessen Stille und Abgeschlossenheit den Reiz eines Verhältnisses[188] erhöhte, das sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete – und dabei das reinste und lauterste blieb, das sich denken läßt. Denn bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre junge Seele erschloß, erwies sie doch eine jungfräuliche Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte. Ich kam gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Dann saß Ginevra am Nähtisch und ich neben ihr, plaudernd oder still in ihren Anblick versunken, und wenn die Lampe angezündet war, lasen wir, während die Mutter zuhörte, in den Büchern des Vaters: Sonette Petrarcas, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia, und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovicos phantastischem Gedicht. Aber nicht lange mehr duldete es uns in den Stubenräumen. Denn es war Frühling geworden und sonnige, warme Tage lockten uns vor das Haus. Die Mutter ließ sich ihren Lehnstuhl in das Gärtchen schaffen, wo bereits das erste Grün schimmerte und die Knospen dem Aufbrechen nahe waren. Dort weilte sie, während wir an deren in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen, und Ginevra die ersten Veilchen sowie andere frühe Blumen zum Strauße pflückte, den sie mir beim Abschied mitgab. So lebten wir wie in einem schönen Traum dahin und ahnten nicht, daß die Tage des Glückes gezählt seien .....

Als ich einmal bei einbrechender Nacht nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Oheims vor, worin mir dieser mitteilte, daß es seinem Einflusse möglich geworden sei, meine Versetzung zu einem in Wien befindlichen Regimente zu erwirken. Und zwar mit gleichzeitiger Beförderung zum Leutnant; eine sprungweise Vorrückung, wie sie in jener Zeit durch die Gunst eines befreundeten Regimentsinhabers nicht allzu schwer zu erreichen war. Er hoffe daher, so schloß er, mich recht bald umarmen zu können. Unter anderen Umständen wäre diese Nachricht eine höchst erfreuliche gewesen; in diesem Augenblick[189] aber fuhr sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich nieder. Was sollte mir jetzt eine Beförderung? Was eine Versetzung nach Wien und das Wiedersehen meines Oheims, wenn mich dies alles so rasch und plötzlich von der Geliebten wegriß!? Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, und schon am nächsten Morgen wurde ich von der Angelegenheit auch dienstlich verständigt, mit dem Beisatze, daß ich binnen dreier Tage an meinen neuen Bestimmungsort abzugehen habe. Also nur drei Tage, drei kurze Tage waren mir noch vergönnt – und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den allerkleinsten Bruchteilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den kameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir auferlegte. Ich konnte also höchstens noch einen vollen Abend für mich retten. Der heutige war schon von einer gemeinsamen Fechtübung in Anspruch genommen, welche allwöchentlich stattfand und mit einer Tafel im Kasino zu schließen pflegte. Drüben war man davon unterrichtet und erwartete mich daher nicht. Aber die Stunden, die knapp vor mir lagen, konnte ich erhaschen und machte mich sofort auf den Weg nach Leitmeritz. Es war ein schwerer Gang; mußte ich doch die Frauen von der so bald bevorstehenden Trennung in Kenntnis setzen!

Ich traf die Mutter allein zu Hause. Sie war in letzter Zeit etwas zu Kräften gelangt und schien eben beschäftigt, Verschiedenes im Zimmer zu ordnen.

›Ah, Emilio!‹ rief sie überrascht, als sie mich eintreten sah. ›Wie schön, daß Sie wieder einmal vormittags kommen und uns für den verlorenen Abend entschädigen. Ginevra besorgt eben ein paar kleine Einkäufe in der Stadt; sie wird jedoch gleich wieder zurück sein. Aber was haben Sie denn?‹ fuhr sie mit besorgten Blicken fort, da sie meine ernste und niedergeschlagene Miene wahrnahm. ›Ist vielleicht etwas vorgefallen?‹[190]

›Allerdings, carissima madre‹ – ich pflegte sie stets so zu nennen – ›allerdings ist etwas vorgefallen. Etwas ganz Unerwartetes, Trauriges – –‹ Und nun teilte ich ihr zögernd und mit aller Vorsicht mit, was nicht verschwiegen bleiben konnte.

Sie mußte sich setzen. ›Mein Gott,‹ brachte sie mühsam hervor, ›so rasch, so plötzlich! Und was wird Ginevra dazu sagen? Sie ist zwar ein starkes Mädchen – aber dennoch – – Ich glaube, da ist sie schon‹, setzte sie aufhorchend hinzu.

In der Tat waren draußen die leichten Schritte Ginevras zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst ins Zimmer geeilt, das Antlitz von der Luft gerötet, ein Körbchen am Arm, das sie rasch beiseite stellte, um mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust zu fliegen.

›Da bist du ja!‹ rief sie. ›Ich hab' es gewußt! Den ganzen Weg über ist es mir im Geiste vorgegangen, daß ich dich beim Nachhausekommen hier treffen würde!‹

›Mit deinen Ahnungen!‹ sagte die Mutter. ›Wenn du wüßtest, was ihn hierher geführt –‹

Sie erblaßte leicht. ›Was willst du damit sagen, Mamma?‹ fragte sie mit stockender Stimme, indem sie uns beide mit atemloser Spannung ansah.

Und nun erfuhr auch sie, was da kommen sollte.

Bei jedem Worte, das sie vernahm, wurde sie bleicher, ihre Arme sanken langsam an den Hüften hinab; so stand sie eine Weile wie erstarrt. Dann aber strich sie mit der Hand langsam über die Stirn und sagte: ›Wir hätten darauf gefaßt sein können, daß dies früher oder später geschehen würde. Und da es nicht zu ändern ist, so wollen wir es mit Standhaftigkeit tragen. Wann mußt du schon fort?‹

›In drei Tagen.‹

›Das ist freilich bald, sehr bald. Aber gleichviel. Wien ist nicht aus der Welt, und du wirst mich dort wie hier lieben.‹

›Nun, wer weiß,‹ warf die Mutter mit erzwungener Scherzhaftigkeit ein, ›ob er uns in Wien nicht vergißt.‹[191]

›Wie kannst du nur so sprechen, madre‹, brauste sie auf. ›Als ob du nicht aus deinem eigenen Leben wüßtest, daß selbst die größte Entfernung, die längste Trennung an Gefühlen, wie die unseren, nichts zu ändern vermögen! Im Gegenteil werden sie dadurch nur gefestigt. Nicht wahr?‹ – wandte sie sich an mich und schlang den Arm um meine Schultern – ›nicht wahr, wir gehören einander an fürs Leben?‹

›Für ewig!‹ erwiderte ich und küßte sie auf die Stirn. ›Und sieh‹, fuhr ich, plötzlich von einem tröstlichen Gedanken überkommen, fort, ›vielleicht reißt mich das Schicksal in bester Absicht von deiner Seite. Ich treffe in Wien mit meinem Oheim zusammen, der ein vielvermögender Mann ist. Er liebt mich wie einen Sohn und wird sich gewiß bestimmen lassen, irgend etwas für unsere Zukunft zu tun. Wir sind ja beide noch jung und können warten.‹

›Ja,‹ erwiderte sie, ›wir können und wollen warten.‹

Aber schon hatte mich die Empfindung überkommen, eine grundlose Hoffnung ausgesprochen zu haben. Gerade von meinem Oheim hatte ich, fürs erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältnis stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswert erscheinen konnte. Um dieses unangenehme Bewußtsein zu übertäuben, sagte ich rasch: ›Und wie es auch sein möge, jedenfalls komme ich nach den Waffenübungen um einen Urlaub ein, den man mir nicht verweigern kann. Ich kehre also ganz gewiß im Spätherbst zurück und werde in der Festung bei einem Freunde oder hier in einem Gasthofe wohnen. Dann können wir uns einige Wochen für die Trennung schadlos halten.‹

›Und uns um so inniger des Wiedersehens freuen‹, setzte sie hinzu, mir tief in die Augen blickend. ›Aber heute bleibst du doch?‹[192]

›Du weißt, ich kann nicht; höchstens bis drei Uhr. Es wird uns überhaupt nur ein Abend mehr vergönnt sein – der morgige. Ich werde so früh wie möglich kommen – zum Abschied.‹

›Zum Abschied‹, wiederholte sie still. ›Aber heute kannst du wenigstens mit uns zu Mittag essen. Ich werde gleich das Nötige veranlassen.‹ Und sie erhob sich, um nach der Küche zu sehen, wo sich bereits die Hauswirtin am Herde zu schaffen machte.

›Merkwürdiges Mädchen!‹ sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. ›Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Tränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen. Und sie! Sie ist wirklich ganz ihr Vater.‹

Später deckte Ginevra, bleich zwar, aber ruhig wie sonst, den Tisch, und wir setzten uns zum Mahle, von welchem unter einsilbigem Gespräch nur wenig berührt wurde. Auch später blieb es ganz still in der vertrauten Stube. Ich saß mit Ginevra Hand in Hand auf einem kleinen Sofa, der Mutter gegenüber, die eine Strickarbeit vorgenommen hatte und uns dabei von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtete. Endlich war es drei Uhr und ich erhob mich.

›Also morgen‹, sagte Ginevra, indem sie mir die Hand drückte.

›Morgen – zum letztenmal!‹

›Nicht zum letztenmal!‹ sprach sie kraftvoll.

Als ich aber jetzt der Mutter die Hand reichte und mich der Tür zuwandte, da brach in ihr der zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt hervor. Laut aufweinend stürzte sie auf mich zu und umschloß mich mit den Armen.

So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt und mit ihren heißen Tränen benetzte; dann riß ich mich los.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 188-193.
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