V.

[193] Der Oberst hielt inne und blickte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. »Ich möchte am liebsten meine Geschichte hier abbrechen,« sagte er dann; »denn die Rolle, die ich nunmehr zu spielen beginne, ist nichts weniger als glänzend. Aber ich will mir die Buße auferlegen und im Kontext fortfahren.

Der Abschied war ein tief ergreifender gewesen. Ich hatte Ginevra beim Scheiden ein Ringlein mit blauem Stein gegeben, welch letzterer im Geschmack jener Zeit ein kleines Herz vorstellte. Sie selbst löste das goldene Kreuz, das sie beständig trug, vom Halse los und reichte es mir. ›Nimm!‹ sagte sie. ›Es ist ein Andenken meines Vaters; das einzige Schmuckstück, das ich von ihm habe. Schon seine Mutter hat es getragen. Trag' es jetzt du als Erinnerung an mich, bis wir wieder vereint sind.‹

Ich kam mir damit wie gefeit vor und fühlte, wie siegreich das Bild Ginevras, deren im Trennungsschmerz zitternde Gestalt, deren bleiches, verweintes Antlitz ich während der Reise beständig vor Augen hatte, allen neuen Eindrücken standhalten würde. Es waren anfänglich nicht allzu viele. Denn fürs erste galt es, im Regiment, wo man den eben nicht erwünschten Einschub mit mißtrauischer Zurückhaltung empfangen hatte, festen Fuß zu fassen, was mir eine doppelt eifrige Diensteserfüllung zur Pflicht machte. Auch hatte ich in Wien keine Anverwandten außer meinem Onkel, und der war ein eingefleischter alter Hagestolz, welcher, trotz seiner hochgestellten Verbindungen, der sogenannten Gesellschaft mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging. Seine Erholung war, allabendlich ein vielgerühmtes Gasthaus in der innern Stadt aufzusuchen, wo er sich im Kreise einiger Alters- und Gesinnungsgenossen nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebte. Da hatte er nun seine Freude daran, mich dort einzuführen und, so oft es anging, auf das köstlichste zu bewirten,[194] wobei der Champagner nicht gespart wurde. So war meine freie Zeit fast ausschließlich von ihm in Anspruch genommen, höchstens, daß ich hin und wieder einmal das Theater besuchte. Dabei war und blieb aber meine größte Freude der Briefwechsel mit Ginevra. Wir schrieben einander regelmäßig alle acht Tage, was unter den damaligen Verhältnissen dem heutigen täglichen Schreiben gleichkam, und es läßt sich nicht sagen, mit welcher Aufregung ich jeden Brief Ginevras erbrach, mit welchem Entzücken ich ihn las – und wieder las .....

So waren mehr als drei Monate verstrichen, als der Adjutant des Bataillons, bei welchem ich stand, schwer erkrankte und ich beauftragt wurde, einstweilen seine Dienstgeschäfte zu übernehmen. Der kommandierende Major, ein Baron Dumont, stammte aus einer französischen Emigrantenfamilie und galt als höchst unfähiger Mann, dem allerdings eine gewisse Gutmütigkeit nachgerühmt wurde. Da er des deutschen Idioms niemals ganz mächtig geworden, hing er gar sehr von seinem Adjutanten ab, den er übrigens auch zu einer Art persönlichen Hofdienstes heranzuziehen liebte. Als schlechter Reiter sah er es gerne, wenn man seine schönen Pferde tummelte; bei Spaziergängen ließ er sich begleiten, und abends war man ein für allemal zum Tee gebeten, wogegen man sich freilich herbeilassen mußte, stundenlang mit ihm Pikett oder Ecarté zu spielen, das einzige Vergnügen, das er kannte. Er war mit einer polnischen Gräfin verheiratet, die zur Zeit meines Eintreffens beim Regiment auf einem Gute in der Nähe Lembergs sich befand, nunmehr aber eines Tages ganz plötzlich in Wien erschien. Beim ersten Anblick dieser Frau hatte ich eine eigentümliche Empfindung; ich wußte nicht, war es Schreck oder Wohlgefallen – vielleicht beides zusammen. Die Gräfin mochte ungefähr achtundzwanzig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war bereits leicht verwittert; bei näherer Betrachtung jedoch zeigte sich ein reizendes Profil, und die blassen Lippen enthüllten im Lächeln zwei Reihen der köstlichsten Zähne. Von[195] nicht allzu hohem Wuchse, zeichnete sie sich durch etwas langsame, aber ungemein graziöse Bewegungen aus; Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, glanzlosen Braun, und auch die grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, das plötzlich in ein überraschendes Aufleuchten übergehen konnte. Dazu die weiche, fremdländische Aussprache, die vornehme Ungezwungenheit einer vollendeten Weltdame – und man mußte sich sagen, daß man sich hier einer höchst verführerischen Erscheinung gegenüber befinde. Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, daß sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuche nach wie vor fortzusetzen. So spielten wir denn jetzt zu dreien Whist mit dem Strohmanne, und nach dem Tee plauderten wir, wobei die Hausfrau es liebte, sich in träger Behaglichkeit auf einer Chaiselongue auszustrecken und Zigaretten zu rauchen, was damals noch etwas ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren; sie liebte es dann, in solch ungezwungener Weise Cercle zu halten. Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Gegen mich erwies sie eine Art mütterlicher Vertraulichkeit, die sich oft zu allerlei unbefangenen kleinen Zärtlichkeiten steigerte. Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter oder ließ im Gespräch ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte.

Es wäre nun an der Zeit gewesen, öfter das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug. Nicht etwa, daß das Bild Ginevras durch den intimen Verkehr mit der schönen Frau getrübt oder gar verwischt worden wäre; nein, es leuchtete mir noch immer in voller Klarheit entgegen, aber aus viel weiterer[196] Entfernung als früher, wo es mich sozusagen auf Schritt und Tritt begleitet hatte.

Eines Abends, als wir wieder beim Whist saßen und ich mir einige Fehler im Spiel hatte zu schulden kommen lassen, sagte die Gräfin: ›Aber was treiben Sie denn, mon enfant? Sie leiden ja an einer unverantwortlichen Zerstreutheit. Sind Sie vielleicht gar verliebt?‹

›Du stellst Gewissensfragen, Lodoiska‹, bemerkte ihr Gatte mit seinem stereotypen Lächeln.

›Und wenn dem so wäre, Gräfin?‹ entgegnete ich halb im Ernst, halb im Scherz.

›So würd' ich es begreiflich finden‹, antwortete sie. ›Denn die Liebe ist das Recht der Jugend. Und wo weilt der Gegenstand Ihrer Gefühle? Hier in Wien?‹

›Keineswegs. Weit – sehr weit von hier entfernt.‹

Sie erwiderte nichts und steckte hastig ihre Karten ineinander. ›Ist es ein junges Mädchen?‹ fragte sie nach einer Weile.

›Das versteht sich wohl von selbst‹, sagte der Major.

›Schön?‹ fuhr sie kurz fort.

›Ungemein‹, warf ich hin, den angeschlagenen Ton festhaltend.

›Brünett?‹

›Blond.‹

Sie schwieg und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiele zu. Als der Robber beendet war, stand sie auf und sagte, sie leide heute an Migräne und wolle sich deshalb zeitig zur Ruhe begeben. So brach auch ich früher als sonst auf, vom Major wie immer mit einem wohlwollenden Händedruck verabschiedet.

Von jenem Abend an beobachtete sie gegen mich eine gewisse Zurückhaltung. Sie nahm seltener am Spiele teil und zog sich währenddessen in den anstoßenden Salon zurück, wo sie auf dem Klavier phantasierte oder Stücke von Chopin spielte. Dann kam sie wieder herein und nahm ihre gewohnte Lage auf der Chaiselongue ein. Wenn ich nach ihr hinsah, konnte[197] ich bemerken, daß ihr Blick mit einem ganz seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet war.

Dies alles verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen, die auf den Briefwechsel mit der entfernten Geliebten nicht ohne Einfluß blieb. Es war mir, als hätte ich etwas zu verschweigen, geheim zu halten, und infolgedessen gerieten meine Briefe weniger rund und fließend als früher; sie wurden gezwungener, fragmentarischer. Ginevra aber schien nichts davon zu bemerken. Ihre Zeilen atmeten die gewohnte gleichmäßig ernste Leidenschaftlichkeit, die sich in Worten jeder Überschwenglichkeit enthielt, jedoch die reinsten und vollsten Herzenstöne anschlug. Und immer kam die stets wachsende Freude darüber zum Ausdruck, daß nun die Zeit näher und näher rücke, um welche ich auf Urlaub in Leitmeritz erscheinen würde.

Das aber war es, was meine Unruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese Angelegenheit erwog, desto deutlicher wurde mir, zu welch unüberlegtem Versprechen ich mich damals hatte hinreißen lassen. Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub nachsuchen – und das gerade jetzt, wo ich mich in einer besonderen dienstlichen Verwendung befand, deren Ende sich gar nicht absehen ließ; denn der Adjutant, obwohl schon auf dem Wege der Genesung, bedurfte noch einer längeren Erholung. Und ganz abgesehen von diesen so gewichtigen Bedenken: ich mußte mein Gesuch doch irgendwie begründen. Womit? Mit Familienangelegenheiten? Man wußte ja, daß mein Oheim in Wien lebte, und wie würde sich dieser, den ich jetzt ohnehin selten genug sah, zu meiner Absicht verhalten? Gewiß verweigernd, um so verweigernder, wenn ich ihn, wozu ich einen Augenblick schon entschlossen gewesen, in den ganzen Sachverhalt einweihte. Ich war also in der Tat ganz ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte.

In dieser peinlichen Gemütslage begab ich mich an einem nebligen Oktoberabende, nachdem ich einen einsamen und gedankenvollen[198] Rundgang um das Glacis gemacht, in die Wohnung des Majors, der ich nun schon drei Tage ferngeblieben war. Im Spielzimmer brannte bereits die Astrallampe; im Halbdunkel des Salons aber saß Gräfin Lodoiska am Flügel, dessen Töne mir schon beim Eintritt entgegengeklungen hatten.

Als sie jetzt mein Erscheinen gewahr wurde, rief sie mir, ohne sich zu unterbrechen, zu: ›Kommen Sie nur da herein. Es ist mir draußen zu hell; die Lampe tut meinen Augen weh.‹ Dann erhob sie sich und trat mir, von dem Schein eines leichten Feuers, das im Ofen flackerte, phantastisch beleuchtet, entgegen. Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter weißer Halskragen und hohe Manschetten glänzend abhoben. Ihr volles, Haar, auf welches sie scheinbar wenig Sorgfalt verwendete, umrahmte in losen Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz.

›Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen‹, begann sie in melancholischem Tone. ›Dumont hat notgedrungen eine Einladung angenommen. Ich selbst ließ mich entschuldigen; denn ich bin so gar nicht gestimmt, in die Welt zu gehen.‹

Sie hatte sich bei diesen Worten auf einen Pouf niedergelassen, der in der Mitte des Salons stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen.

›Ich bin seit einiger Zeit auch nicht in der besten Stimmung‹, sagte ich, mich setzend.

›Ich habe es wohl bemerkt‹, erwiderte sie leise und nachdenklich. ›Vertrauen Sie mir doch an, was Sie drückt.‹

Es wurde mir nicht leicht, darauf zu antworten. ›Nun,‹ sagte ich endlich, ›vielleicht entsinnen Sie sich noch meiner Erklärungen – oder eigentlich Andeutungen über eine Herzensangelegenheit – –‹

›Jawohl; ich erinnere mich.‹

›Ich hatte in dieser Hinsicht,‹ fuhr ich zögernd fort, ›um einen Urlaub einkommen wollen, sehe aber, daß sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen –‹[199]

›Dann denken Sie nicht weiter daran,‹ warf sie leicht hin.

›Ja, wenn das nur so ginge. Ich habe eine bestimmte Zusage gemacht – man erwartet mich – –‹

›Nicht jede Erwartung kann erfüllt werden. Aber beichten Sie mir, mon enfant,‹ fuhr sie im alten vertraulichen Tone fort, indem sie meine Hand faßte, ›wer ist denn eigentlich die junge Dame? Ist sie von guter Familie? Haben Sie ernste Absichten?‹

Es wurde mir wieder schwer, zu antworten. ›Allerdings hege ich solche – obgleich –‹

›Sich auch in dieser Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen?‹ fügte sie rasch bei. ›Ich verstehe. Es ist ein armes Mädchen, das Sie nicht sofort zur Ihrer Frau machen können. Aber sagen Sie: haben Sie ein bindendes Versprechen gegeben? Oder wäre‹, fuhr sie, mir höchst ausdrucksvoll in die Augen sehend, fort, ›wäre das Verhältnis etwa schon so weit gediehen, daß Sie durchaus nicht mehr zurücktreten könnten?‹

Ich verstand, was sie meinte. ›O nein!‹ rief ich; ›das ist keineswegs der Fall.‹

›Dann ist es ja ein wahres Glück, daß Sie hier zurückgehalten werden, lieber Freund! Bedenken Sie, wie gefährlich für Sie – und auch für Ihre Geliebte ein solches Wiedersehen wäre. Es könnte Ihnen dann wirklich die Verpflichtung erwachsen, das Mädchen zu heiraten. Und wie wollten Sie das anfangen? Sie wären vielleicht gezwungen, Ihre ganze Karriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen – zu ewiger Reue. Und das alles schon in Ihren Jahren! Nein, nein; schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn!‹

Ich vernahm schon eigentlich nicht mehr recht deutlich, was sie sprach. Denn sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es sich wie ein schwerer, betäubender Schleier über mich legte. Ich erwiderte nichts und seufzte nur tief auf.

›Armes Kind,‹ sagte sie, indem sie mir das Haar aus[200] der Stirn strich, ›armes Kind, lieben Sie sie denn wirklich so sehr?‹

Sie mochte in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständnis lesen, und ein Ausdruck grausamen Triumphes überflog ihre Züge.

›Sie werden alles vergessen, wenn Sie bei uns bleiben. Und Sie bleiben bei uns – nicht wahr?‹

Sie hielt mir die Hand hin, die ich ergriff und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte.

Sie ließ es lächelnd geschehen; dann drückte sie ihr Haupt fest an meine Schulter, und flüsterte: ›Endlich!‹

Ich sank ihr zu Füßen.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 193-201.
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