VI.

[201] Mehr als ein Jahr war seitdem verstrichen, ich selbst aber ganz in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, mich mit all den Qualen zu erfüllen, welche ähnliche Beziehungen mit sich bringen. Ich hatte damals Ginevra ganz kurz mitgeteilt, daß es mir unmöglich sei, einen Urlaub anzutreten; die Gründe würde ich in meinem nächsten Briefe ausführlich auseinandersetzen. Das verschob ich aber von Tag zu Tag – um es schließlich zu unterlassen. Was hätte ich auch schreiben sollen? Zwei Briefe, die inzwischen von Ginevra eingetroffen waren – den Empfang des zweiten hatte ich auf einem Schein bestätigen müssen – fand ich gar nicht den Mut zu lesen, sondern schob sie unerbrochen in ein Fach meines Schreibtisches und legte das Kreuz dazu, auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne. So gebärdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch aus Leitmeritz keine weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit jenem Leichtsinn der Unreife, der einem in späteren Jahren ganz unfaßlich vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgetan, und die Stimme des Gewissens sprach immer seltener und schwächer.[201]

Da, an einem strahlend kalten Januartage, als ich eben im Begriffe war, an einer Schlittenpartie in den Prater teilzunehmen, welche Lodoiska, die dieses Vergnügen sehr liebte, vorgeschlagen hatte, wurde mir – ich trat gerade aus meiner Wohnungstür – ein Brief überbracht. Ein Blick auf die Adresse genügte, um mich erkennen zu lassen, daß er von der Mutter Ginevras war. Erschrocken schob ich ihn rasch in die Brusttasche meines Mantels, entschlossen, mir durch diese unerwartete Mahnung die Freude des Tages nicht verkümmern zu lassen. Als ich spät in der Nacht nach Hause kam und den Brief hervorlangen wollte, fand er sich nicht mehr vor; er mußte, da ich den Mantel inzwischen mehrmals abgelegt, der Tasche entglitten sein. Dieser Verlust berührte mich höchst peinlich. Wer konnte wissen, wem das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage hegte ich die Erwartung, daß es in irgend einer Weise an mich zurückgelangen würde. Aber das geschah nicht, und ich glaubte endlich einen Wink des Schicksals darin zu erkennen. War mir doch so die bittere Wahl erspart geblieben, ob ich den Brief hätte lesen sollen oder nicht; zudem konnte ich mir ja leicht vorstellen, was er enthalten haben mochte. Dennoch wurde durch diesen Zwischenfall mein Gewissen wieder in Aufruhr gebracht, und ich mußte, trotz aller Übertäubungsversuche, in einem fort an die blasse, hinfällige Frau denken, die mir in ihrem mütterlichen Schmerze geschrieben. Mit der Zeit freilich wurden auch diese Nachwirkungen schwächer und gingen endlich ganz vorüber.

So war es, seit ich Theresienstadt verlassen, zum zweiten Male Karneval geworden. Obgleich die Pariser Februarrevolution Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand. Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, wo damals die Damen weniger durch ihre Toiletten, als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen suchten und sich den[202] Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. Lodoiska, in einen rosenroten Domino gehüllt, machte von der Maskenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch und umschwärmte fortwährend einige junge Kavaliere, die sie zu kennen schien. Sie hatte nämlich im verflossenen Sommer ein Landhaus in Hietzing bezogen und war dort wieder mit den Kreisen in Berührung gekommen, denen sie angehörte. Dabei hatten sich für mich bereits mehrfache Anlässe zu beschämender Eifersucht ergeben, die ich um so peinlicher empfand, als ich mich auch sonst mehr und mehr durch ein Verhältnis entwürdigt fand, das der Major, nach Art gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte.

Ich war also gegen Morgen höchst mißmutig von der Redoute nach Hause gekommen und hatte dann weit in den Tag hinein geschlafen. Als ich eben mit dem Ankleiden fertig war, erschien mein Diener und meldete, daß eine junge Dame in Trauer mich zu sprechen wünsche.

Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglicherweise eine pauvre honteuse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Offiziere in Anspruch zu nehmen pflegten. Ich sagte also meinem Diener, er möge die Dame nur ins Nebenzimmer treten lassen.

Als ich, dennoch bangen Herzens, die Tür öffnete, stand sie – stand wirklich Ginevra aufrecht in der Mitte des Zimmers, die Arme, wie es ihre Art war, an den Hüften hinabgesenkt, die Hände leicht ineinandergeschlossen. Sie war auffallend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt. Eine elfenbeinartige Blässe lag über ihrem Antlitz, und die Augen hatten den mir bekannten dunkel metallischen Glanz der Erregung. Ihr Haar schimmerte noch goldiger als früher unter dem schwarzen Krepphute hervor.

›Verzeihen Sie,‹ begann sie mit einem leichten Senken des Hauptes, ›daß ich Sie aufgesucht. Es würde nicht geschehen[203] sein, wenn Sie den Brief meiner Mutter einer Antwort gewürdigt hätten.‹

›Den Brief Ihrer Mutter –‹ stammelte ich in atemloser Verwirrung. Und mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung fuhr ich fort: ›Ihre Mutter –‹

›Ist vor zwei Monaten gestorben,‹ sagte sie ernst.

›Mein Gott –‹ erwiderte ich tonlos.

›An einem Rückfall in jene Krankheit, von der Sie ja wissen.‹

Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen.

›Mein Gott –‹ wiederholte ich, während sich jetzt ihre Augen langsam mit Tränen füllten. ›Aber ich bitte, setzen Sie sich doch –‹

Sie drückte ihr Tuch an die Wimpern und machte eine kurz ablehnende Bewegung. ›Ich werde Sie nicht lange stören. Ich bin nur gekommen, um eine Bitte auszusprechen, die ich durch meine Mutter an Sie richten ließ. Ich ersuche Sie, mir das Kreuz zurückzustellen, das ich Ihnen gegeben. Sie kennen den Wert, den es für mich hat – und hoffentlich befindet es sich noch in Ihrem Besitz.‹

›Gewiß, gewiß‹, entgegnete ich und wollte an meinen Schreibtisch treten. Aber unwillkürlich hielt ich inne. ›Und Sie, Ginevra – was werden Sie jetzt – –‹

›Ich folge dem Rufe von Verwandten, die in Graz leben; denn in Leitmeritz mag ich nun nicht länger bleiben. Aber ich werde niemandem zur Last fallen, sondern Unterricht im Italienischen erteilen, der in jener Stadt sehr gesucht sein soll.‹

Wie sie jetzt so vor mir stand, ungebrochen von allem, was da geschehen, in mädchenhafter Selbständigkeit, im Vollbewußtsein ihrer Hoheit und Würde, da überkam mich das ganze Gefühl meiner eigenen Erbärmlichkeit und drohte mich zu ersticken. Wie aus einem Sumpfe blickte ich zu ihr empor.[204]

›Ginevra,‹ rief ich, ›Sie verachten mich – Sie müssen mich aufs tiefste verachten!‹

›Ich verachte Sie nicht‹, entgegnete sie ruhig. ›Was können Sie dafür, daß Sie mich nicht geliebt haben?‹

›O! Nicht geliebt!‹

›Nicht so, wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt – nicht so, wie ich Sie geliebt. Wie sehr ich durch diese allmähliche Erkenntnis gelitten, werden Sie mir ohne weitere Versicherung glauben. Jetzt aber habe ich überwunden und sehe ein, daß es nicht anders kommen konnte. Daher hege ich auch keine Verachtung, keinen Groll gegen Sie; vielmehr bin und bleibe ich Ihnen dankbar für die erste schöne Täuschung meiner Jugend. Sie war trotz allem die glücklichste Zeit meines Lebens – und wird es wohl in meiner Erinnerung immer bleiben. Und so stelle ich Ihnen auch‹ – sie zog bei diesen Worten einen Handschuh halb ab – ›den Ring, den Sie mir damals gaben, nicht zurück – wie ich es vielleicht sollte. Ich werde ihn tragen bis ans Ende meiner Tage.‹

In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle.

›Ginevra!‹ rief ich leidenschaftlich und wollte, ihre Hand erfassend, vor ihr niederknieen.

Sie trat rasch einige Schritte zurück. ›Was soll das?!‹ rief sie mit herber Stimme. ›Es ziemt sich nicht zwischen uns.‹

›Verzeihen Sie! Und doch, wenn Sie – wenn Sie vergessen könnten – –‹

Sie zog die Brauen zusammen. ›Nun, nun, sprechen Sie weiter!‹

›Es könnte noch alles gut werden‹, hatte ich sagen wollen. Aber ich brachte die Worte nicht mehr hervor. Denn ich empfand, wie hohl und nichtig eine solche Versicherung aus meinem Munde klingen müsse, und die unklare Vorstellung eines versöhnenden Ausgleiches, die sich meiner bemächtigt hatte, ging unter in dem Bewußtsein vollständiger Unkraft. Ich schwieg.

Sie betrachtete mich mit einem Blick des Mitleids. ›Sehen[205] Sie, Sie wissen selbst nicht, was Sie sagen sollen, und fühlen, daß wir für immer geschieden sind. Und nun bitte ich: das Kreuz.‹

Keiner Erwiderung fähig, ging ich an den Schreibtisch, suchte es hervor, und reichte es ihr. Sie nahm es und wickelte mit zitternder Hand die Papierhülle los. In ihrem Antlitz zuckte es schmerzlich, als jetzt ihr Blick auf das matt schimmernde Gold fiel. Ich sah, wie sie sich gewaltsam beherrschte, um nicht in Tränen auszubrechen. Ein Schüttern ging durch ihren ganzen Körper, sie mußte sich setzen. ›Mein Gott! Mein Gott!‹ sagte sie still. Dann stützte sie die Stirn mit der Hand und begann leise zu weinen.

Ich wagte nicht zu atmen.

›Es ist vorüber‹, sagte sie endlich, indem sie aufstand, und sich die Augen trocknete. ›Leben Sie wohl!‹

Noch einmal war es mir, als sollte ich die Hand, die sie mir jetzt reichte, nicht wieder loslassen, sollte die herrliche Gestalt an mich ziehen, wie einst. Sie schien es zu fühlen, und rasch sich mir entreißend, schritt sie der Tür zu.

›Ginevra!‹ stieß ich hervor und wollte sie zurückhalten. Aber sie winkte mir heftig abwehrend zu und verschwand. Ich sank auf den Stuhl, den sie eingenommen hatte, und blieb regungslos sitzen .....

Bald darauf folgten jene Märztage, deren stürmische Ereignisse auch mich über mich selbst hinausrissen. Freilich in einem anderen Sinne als diejenigen, die damals das Banner der Freiheit entfalteten. Wir waren eben Soldaten und erfüllten unsere Pflicht. Ich selbst stand noch bei den Truppen, die Wien belagerten. Dann kam der ungarische Feldzug mit seinen wechselvollen Geschicken und blutigen Schlachtfeldern – und als spätere Jahre über so Vieles den Schleier der Vergessenheit breiteten, war auch über meine jugendlichen Herzenskämpfe das Gras gewachsen.«


[206] * * *


»Und haben Sie nichts mehr von Ginevra gehört?« fragte man nach einer Weile.

»Allerdings; ich war in der Lage, Erkundigungen einzuziehen. Sie lernte in Graz einen jungen Triestiner kennen, der sich im Laufe der Zeit eine sehr glänzende Stellung in Ägypten gemacht. Sie hat ihn geheiratet. Auch gesehen glaube ich sie zu haben – und zwar während der Wiener Weltausstellung in einem offenen Wagen vorüberfahren mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter. Es ist jedoch möglich, daß ich mich getäuscht.«

»Sie wird es wohl gewesen sein,« sagte die Hausfrau nachdenklich. »Und so haben Sie wenigstens das Bewußtsein, daß sie glücklich geworden.«

»Daran habe ich nie gezweifelt. Denn sie war eine starke Natur; unglücklich sind allein die Schwachen.«

»Und die Polin?« fragte eine andere Dame.

»Das wäre eine Geschichte für sich«, antwortete der Oberst, indem er aufstand und den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher warf. »Vielleicht erzähle ich sie Ihnen nächstens. Jetzt aber muß ich nach der Stadt zurück; ich werde erwartet.« Er verabschiedete sich und ging.

Die anderen blickten ihm nach, bis seine hohe Gestalt im Abenddunkel zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte. »Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht. Sie ist zwar zehn Jahre älter als er – also bereits eine Greisin –, aber er konnte nicht mehr loskommen. Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man, wie Goethe sagt, zuletzt abgewunden gleich Wocken.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 201-207.
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