II.

[74] Auch am nächsten Tage hielt diese Verstimmung an, und wurde zu einer recht ärgerlichen Empfindung, als mir die Karte, die ich von Nina erhalten hatte, wieder in die Hand und deutlich vor Augen kam. »Fräulein Ninon Ninoni.« Und unten in der Ecke: »für den Abend des 20. Februar im Pasqualatti-Theater.« Ich brach in ein bitteres Lachen aus. Zwar hatte ich schon damals den Bühnen und ihren Leitern gegenüber herbe Erfahrungen gemacht, hatte tiefer, als mir lieb sein konnte, in diese Welt des doppelten Scheines hineingeblickt; aber noch waren die Ideale meiner Jugend: die großen Dramen unserer großen Dichter, die großen Leistungen unserer großen, nach und nach dahingehenden Schauspieler in mir lebendig geblieben. Und nun sollte ich mit ansehen, wie dieses herzlose, frivole, freche Geschöpf, die Nina-Ninon, als Maria Stuart auftrat! Wie drastisch hatte sie selbst den Widerspruch, der darin lag, hervorgehoben! Nein, nie und nimmer![74]

Und doch! War nicht die Mehrzahl der Bühnenkünstlerinnen ähnlich geartet? Konnte sie nicht wirklich begabt sein? Schauspielerisches Wesen ist ja dem Geschlechte mehr oder minder angeboren, und diesem weiblichen Proteus konnte man schon eine gehörige Dosis davon zutrauen. Auch waren ja ihre geistigen Anlagen keine gewöhnlichen, und im Verlauf der Jahre schien sie sogar für einige Bildung gesorgt zu haben. Wer weiß also? Außerdem: der gänzlichen Talentlosigkeit, dem bloßen Dilettantismus erschloß sich auch dieses Versuchstheater nicht, das ja bekanntermaßen als Vorhalle größerer Bühnen galt. Es wäre immerhin interessant – und man sollte doch sehen. Wohlan, ich werde mich einfinden! –

Der Sonntag war da – und mit ihm ein wahres Frühlingswetter, wie es oft im Februar einzutreten pflegt, um bald wieder einem harten Nachwinter Platz zu machen. Ich ging schon früh am Nachmittage fort; denn ich wollte die Zeit bis zur Theaterstunde im sonnigen Freien zubringen. Langsam schritt ich die Favoritenstraße hinauf, die feiertäglich menschenleer war; nur selten rollte ein Wagen an mir vorüber. Alle Kaufläden waren geschlossen, die Häuser wie ausgestorben; unter den Toren standen müßige Dienstmägde, die gelangweilt in den hellen Tag hinausblickten. Auch draußen vor der Linie alles still und öde. Wo mochten die Menschen sich aufhalten, von denen es hier im Laufe der Woche wimmelte? Einzelne Fußgänger, meist Arbeiter im Sonntagsstaat, schlichen über die leere Fläche vor dem Südbahnhofe, der sich auch ausnahm, als wäre heute jeder Verkehr eingestellt; das Pfeifen und Brausen eines eben näherkommenden Zuges ließ freilich diese Täuschung nicht aufkommen. Ich durchschritt nun den Viadukt und betrat den Vorort Favoriten, welcher damals in seiner ersten weiteren Ausbreitung begriffen war. Dort herrschte schon regeres Leben. In der Hauptstraße schritten unternehmend herausgeputzte Mädchen, barhäuptig und mit rauschenden, gesteiften Röcken, an der Seite von jungen Burschen[75] und Soldaten auf und nieder; aus mancher der zahlreichen Gastwirtschaften klang fröhliche Musik, wie es schien, schon jetzt zum Tanze einladend. Auf einem wüsten Baugrunde, wo bereits einzelne Anfänge stattlicher Gebäude zu sehen waren, hatte sich ein »Ringelspiel« angesiedelt, und eine Schar lärmender Rangen trieb dort beim Klange einer Drehorgel ihr Wesen. Bald war das freie Feld mit seinen öden Sandstätten erreicht, darauf noch stellenweise angehäufter, schmutziger Schnee lag; doch wehte es wie ein Hauch des Lenzes darüber hin; es war, als sollte jetzt und jetzt eine Lerche schmetternd in die Luft emporsteigen. Aber es blieb alles still, und die Steinumrisse der »Spinnerin am Kreuz« blickten ernst durch die beginnende Dämmerung zu mir herüber. Ich kehrte jetzt im Rundgange, an dem schweigenden Friedhof vorbei, durch die Matzleinsdorfer Linie zurück und trat, da es noch immer nicht Theaterzeit war, in ein nahes Kaffeehaus, wo eine Gesellschaft von Pfahlbürgern beim gemütlichen Tarock saß, während eine Anzahl jüngerer Leute am Billard sich vergnügte. Ich blieb bei meiner Tasse und den Zeitungen bis gegen sieben Uhr sitzen; dann begab ich mich in den kleinen, versteckten Musentempel.

Die Räume waren noch sehr dürftig erhellt, und eine moderige Kühle schlug mir samt dem eigentümlichen Mißduft eines wenig besuchten Theaters entgegen. Die Karte, die ich vorwies, eröffnete mir einen Sitz in der letzten Reihe; er war so eng und unbequem, daß ich kaum Platz finden konnte. Nach und nach durchdrang mein Auge die herrschende Dunkelheit und nahm den abgeschabten Bühnenvorhang wahr, auf dem eine Lyra samt anderen Attributen der dramatischen Kunst zu sehen war. Endlich wurde der Kronleuchter angezündet und verbreitete einiges Licht, so daß ich doch auch die übrigen Besucher unterscheiden konnte, die sich nunmehr rasch nacheinander, einzeln und in Gruppen, eingefunden hatten. Die meisten waren auf den ersten Blick als Bühnenangehörige und solche, die es werden wollten, zu erkennen. Man sah untergeordnete Mitglieder,[76] männliche und weibliche, der Vorstadttheater; aber auch an ›Hofschauspielern‹ fehlte es nicht, welche in der Regel Aufwärter und Bediente darstellten, oder auch bloß bei der Komparserie beschäftigt waren. Sie saßen ganz vorne in den ersten Reihen und strichen sich, genial die Häupter zurückbiegend, das Haar zu recht, während die betreffenden Damen riesige Fächer aufklappten. In den wenigen Logen befand sich ein höchst seltsames Publikum. Man wußte nicht, was man aus den Leuten machen sollte, die sich, teils wunderlich herausgeputzt, teils in vernachlässigten Hausanzügen an den Brüstungen zeigten. In der Loge, welche sich der Bühne zunächst befand, hatte eine ganze Familie Platz genommen; der jüngste Sprößling, etwa sechs Jahre alt, kramte begehrlich in einer großen Zuckerdüte, die man ihm beim Eintritt gereicht haben mochte; es waren gewiß alle nähere Bekannte der Debütantin.

Nun begann auch schon das lückenhafte Orchester eine schwindsüchtige Ouvertüre; die Bühnenklingel ertönte, die Lyra rollte sich mit dem Vorhang in sich selbst zusammen – und Hanna Kennedy, eine kleine dicke Person, begann den armen Ritter Paulet kreischend herunterzukanzeln. Aber da kam auch sie – Maria Stuart, im Schleier, ein Kruzifix in der Hand. Ich gestehe, daß ich überrascht war, so schön, so ganz ihrer Rolle angemessen sah Nina aus. Sie hatte sich möglichst schlank gemacht; die Sammethaube, der historische Kragen hoben ihr schimmerndes Antlitz hervor, welches sie so trefflich herzurichten gewußt, daß es fast dem ihrer Jugend gleich kam. Und sie sprach auch, abgesehen von der gewiß angelernten Unart, die Konsonanten zu brechen, und die Vokale zu dehnen, ganz gut, wußte sich in den vorgeschriebenen Resignationston mit entsprechendem Augenaufschlag vollständig hineinzufinden. Dabei keine Spur von Befangenheit; vielmehr, wenn auch noch keine Routine, so doch eine gewisse familiäre Vertrautheit mit den Bühnenbrettern, als habe sie sich Zeit ihres Lebens darauf bewegt. Nur darin zeigte sie sich noch als Neuling, daß sie ihrem Mortimer[77] gegenüber nur mühsam das Lachen verbeißen konnte. Dieser unglückliche Schwärmer wurde gleichfalls von einem Anfänger, einem hageren Jüngling mit auffallend kurzem Oberleib und dementsprechend langen, nach auswärts gedrehten Beinen dargestellt, welcher mit jedem Worte, jeder Geberde den damals so gefeierten Joseph Wagner kopierte, und schließlich mit aller Gewalt durch eine bloß gemalte Dekorationstür abgehen wollte. Als der Vorhang fiel, wurde Fräulein Ninoni stürmisch gerufen; nicht mit Unrecht, denn für ein erstes Auftreten hatte sie wirklich ganz ausgezeichnet gespielt. Sie erschien dreimal an der Rampe, von dem alten Löwen, der nicht wieder zu erkennen war, im Triumphe hinausgeführt.

Der zweite Akt, in welchem sie nicht auftrat, verlief sehr eintönig. Denn die übrigen Rollen waren mit Schauspielern vom Handwerk besetzt, die hier gegen ein »Weniges« aushalfen und ihre Aufgaben mehr oder minder erträglich durchführten.

Nun kam der dritte Akt und mit ihm der Höhepunkt des Stückes. Ich war neugierig, wie sich Nina bei der leidenschaftlichen Begegnung der beiden Königinnen bewähren würde. Wenn ich an ihre einstigen Zornausbrüche (allerdings im berauschten Zustande) dachte, an das maßlos heftige Wesen, das sie dabei hervorkehrte: so ließ sich jetzt eine packende und überzeugende Darstellung erwarten. Aber seltsam: gerade dieser affektvollen Szene schien sie nicht gewachsen zu sein. Sie tobte zwar, überschrie sich zum Schlusse: dennoch hatte ihr Spiel etwas Falsches, Dünnes, Eingelerntes. Sie konnte sich offenbar in die Empfindung des ins Innerste getroffenen Weibes nicht finden und tastete mit Worten und Geberden unsicher vor sich hin. Jetzt erkannte man, daß ihr die Rolle wirklich nicht lag; den ruhigen, kalten, giftigen Haß der Elisabeth hätte sie gewiß besser zum Ausdruck gebracht. Dennoch erhielt sie ungeheuren Beifall, in welchen sogar ein junger, über Nacht berühmt gewordener Charakterdarsteller des Burgtheaters mit einstimmte. Er war plötzlich in einer bis jetzt leeren Loge aufgetaucht, und[78] indem er den interessanten Kopf mit dem schlichten, straffen Haar wohlwollend vorstreckte, bewegte er leicht die Fingerspitzen gegeneinander. Doch ebenso plötzlich verschwand er wieder. Er hatte sich offenbar auf dringende und demütige Bitte des alten Löwen für eine Viertelstunde in das entlegene Theater begeben, um sich die »große Streitszene« anzusehen und sein Urteil abzugeben.

Auch ich hatte nunmehr genug und verließ den engen Raum, wo es nachgerade schon unerträglich heiß geworden war. Wozu hätte ich mir auch noch die berufene »Abschiedsszene« auferlegen sollen? Hatte ich doch bereits die Überzeugung gewonnen, daß die Debütantin nicht ohne Talent war. Ganz gewiß: sie besaß genau so viel Talent, wie Hunderte neben ihr; sie konnte getrost alles spielen, was man ihr zu spielen gab: Maria Stuart und Deborah, Iphigenie und die Waise von Lowood, Adelheid im Götz und die Kameliendame – ja selbst, wenn es gerade not tat, auch die »Nandl« im »Versprechen hinter'm Herd«. Es handelte sich also nur mehr um ein Engagement – und das würde sie schon finden; sie hatte ja einen Gönner und Förderer. Wie es mit dem »Nimbus« aussehen werde, den sie sich zulegen wollte, mochte freilich dahingestellt bleiben. Indes, auch der konnte sich ja noch einstellen .....

So dachte ich, während ich jetzt durch die abendlich belebten Gassen schritt, um mein gewohntes schlichtes Gasthaus aufzusuchen, wo ich dann, einsam wie immer, bei einem Glase Bier weiter über Kunst und Künstler nachsann.


* * *


Schon in den nächsten Tagen meldeten einige Zeitungen, daß Fräulein Ninon Ninoni infolge ihres glänzenden Debüts als Maria Stuart einen sehr vorteilhaften Antrag von seiten des Stadttheaters zu O ... erhalten und angenommen habe. Die Laufbahn war also eröffnet – und schien schon ein Jahr darauf[79] mit einem Engagement an einer kleinsten deutschen Hofbühne – ich hatte von dieser Tatsache durch ein obskures Theaterblättchen, das mir ganz zufällig in die Hände kam, Kunde erhalten – auch abgeschlossen zu sein. Denn seither war und blieb Nina – für mich wenigstens – verschollen.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 74-80.
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