IX.

[158] Zwei Jahre waren seitdem verflossen, als der Bankbeamte Herr Viktor Jaksch aus dem Kaffeehause, das er in den späten Nachmittagsstunden zu besuchen pflegte, in seine Wohnung zurückkehrte. Es war ein ganz nettes kleines Heim, ausgestattet mit dem üblichen Einrichtungsprunk aus den großen Möbelmagazinen, und bestand, nebst einer Küche und einem winzigen Vorzimmerchen, aus zwei Gelassen, davon das eine als eheliches[158] Schlafgemach benützt wurde. Ein anstoßendes schmales Kabinett schien das Boudoir der Gattin zu sein.

Es war ein feuchtkalter Abend, und in dem schmächtigen Tonofen des ersten, bereits von einer Lampe erhellten Zimmers brannte ein behagliches Feuerchen. Herr Jaksch legte Hut und Oberrock ab; dann begab er sich in das Schlafzimmer, wo er seine großen und plumpen Füße von den beengenden Stiefeletten befreite und in bequeme Hausschuhe von zartem gelben Leder schlüpfen ließ. Hierauf entledigte er sich seines Jacketts und zog einen ganz neuen Schlafrock an, der vorne an der Brust blau ausgeschlagen war. Auch die Krawatte entfernte er und knüpfte, nachdem er eine Kerze vor dem Toilettespiegel angezündet hatte, ein buntes Seidentuch um den Hals. Er sah nun, wie er fand, ganz malerisch – und vor allem für seine Jahre sehr wohlerhalten aus. Der Scheitel war allerdings schon so weit gelichtet, daß man, wenn man gerade wollte, von einer Glatze sprechen konnte, dafür aber erschien die Stirn bedeutender, und der unternehmend aufgedrehte Schnurrbart gelangte zu größerer Geltung. Kurz, Herr Jaksch war mit sich ungemein zufrieden. Er warf mit einer Seitenwendung den letzten Blick in den Spiegel, blies das Licht aus und kehrte in das erste Zimmer zurück, wo er sich erwartungsvoll in einem Fauteuil niederließ.

Seine Frau hatte ihn, als er nach dem Essen ins Kaffeehaus ging, ein Stückchen Weges begleitet, und sich dann, um Besuche zu machen, mit dem Versprechen von ihm entfernt, zeitig wieder zu Hause zu sein. Nun, das war nicht der Fall, aber sie dürfte gewiß bald kommen.

Herr Jaksch wartete mit einiger Ungeduld. Er hatte sich auf diesen Abend ganz besonders gefreut. Es war ihm nämlich heute morgen im Bureau vertraulich eröffnet worden, daß er zu Neujahr eine nicht unbedeutende Gehaltsaufbesserung zu erwarten habe. Er hatte diese längst gehoffte Kunde seiner Frau schon bei Tisch mitgeteilt, wollte aber jetzt eine kleine intime Feier dieses frohen Ereignisses veranstalten. An einer[159] Weinhandlung vorüberkommend, hatte er sich eine Flasche Refosco, davon die Gattin, wie er wußte, nicht ungern einige Tropfen nippte, in Papier wickeln lassen; beim Abendessen, das von der Magd bereits gekocht wurde, sollte sie entkorkt und durch das süße Feuer des Weines eine vertrauliche Schäferstunde eingeleitet werden, nach welcher er um so mehr Verlangen trug, als er lange genug Strohwitwer gewesen. Seine Frau hatte im Sommer zuerst Franzensbad – und dann in einer berühmten Nerven-Heilanstalt eine endlose Kur gebraucht. Bis weit in den Oktober hinein hatte sie sich gezogen – dafür aber auch Wunder gewirkt. Seine Paula war gesund und blühend wie ein junges Mädchen in seine sehnsuchtsvollen Arme zurückgekehrt. Gleichwohl sollte er sich – nach ärztlicher Anordnung – noch immer einer gewissen Enthaltsamkeit befleißigen. Er war bis jetzt nach Möglichkeit folgsam gewesen. Aber heute sollte und mußte ihm endlich voller Lohn werden!

Halb neun! Und noch immer nicht da! Er erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. Dabei fiel ihm ein, daß er, seiner Gewohnheit nach, auch ein Abendblatt gekauft und zu sich gesteckt hatte; im Kaffeehause kam er ja, von einer fixen Billardpartie in Anspruch genommen, nur selten dazu, die Zeitungen näher anzusehen. Er zog es nun aus der Tasche seines Oberrockes, setzte sich nieder und begann, in das volle Licht der Lampe rückend, zu lesen.

Bei der zweiten Seite angekommen, stutzte er und faßte mit gespannter Aufmerksamkeit eine Stelle ins Auge, die ihn besonders zu interessieren schien.

Da ertönte draußen die Klingel – und die Ersehnte trat herein. Sie war in Halbtrauer; denn sie hatte gegen Ende des vorigen Jahres ihren Vater verloren.

Er stürzte auf sie zu, umschloß sie mit den Armen und küßte sie wiederholt.

»So laß mich doch nur erst den Hut weglegen!« rief sie widerstrebend und begab sich in das Schlafzimmer, wo sie auch den[160] Mantel von den Schultern gleiten ließ. Dann kehrte sie, das Haar an den Schläfen glattstreichend, zurück. Er betrachtete sie mit trunkenem Blick.

Sie sah auch wirklich entzückend aus. Ihr Wuchs war voll, fast üppig geworden. Das früher so fahle Gesicht hatte eine gesunde, bräunliche Farbe angenommen, so daß sie mit ihren roten Lippen und den weitgeschlitzten, dunkel umschatteten Augen einer Kreolin ähnelte.

»Du bist spät gekommen, mein Engel!« sagte er und zog sie, sich setzend, auf seine Kniee.

Sie ließ es gleichgültig geschehen. »Du weißt doch, daß mich Mama nie fortlassen will. Auch war ich ja noch in der Josephstadt. Der Tante geht es nicht gut. – Was neues?« Sie griff nach dem Blatte, das auf dem Tisch lag. Sie pflegte meistens nur die Inserate durchzusehen; das übrige ließ sie sich gern erzählen.

»Neues? Nun ja – eigentlich etwas für dich –«

»Was denn?«

»Es ist jemand gestorben.«

»Wer?«

»Nun, der – der – wie heißt er nur gleich? Deine erste Liebe. Na, da lies selbst!« Er wies ihr die Stelle mit dem Finger.

Bei den Worten »deine erste Liebe« war sie errötet. Jetzt las sie, noch immer auf seinem Schoße, über den Tisch gebeugt, folgendes:

»(† Leo Bruchfeld.) Man schreibt uns aus Florenz: Gestern ist hier der österreichische Musiker und Komponist Dr. Leo Bruchfeld nach kurzer Krankheit gestorben. Seit zwei Jahren schon weilte er in unserer Stadt, um in fast gänzlicher Zurückgezogenheit an einer größeren Tondichtung zu arbeiten, die sich auch unter dem Titel ›Requiem der Liebe‹ in seinem Nachlasse vorgefunden hat.«

Die von der Redaktion beigefügte biographische Skizze las sie nicht mehr. Sie hatte sich erhoben und war jetzt so blaß,[161] daß in ihrem Antlitz das bläuliche Geflecht der Adern zum Vorschein kam.

»Mein Gott! Paula!« rief er erschrocken. »Wie töricht von mir, daß ich dich aufmerksam gemacht –«

»Es ist nichts«, sagte sie, und fuhr langsam mit der Hand über die Stirn.

»O doch! Es hat dich sehr ergriffen. Hast du ihn denn wirklich – –? Schau, ich war auf so viele eifersüchtig – aber auf den niemals.«

»Es war auch nichts.« Sie wendete sich ab.

Die Magd trat ins Zimmer, um den Tisch zu decken, während sich Paula auf das Sofa niederließ und in Gedanken vor sich hinblickte.

»Was für ein Dummkopf war ich,« sagte Herr Jaksch zu sich selbst, »daß ich das Blatt nicht sofort versteckt habe. Nun ist alles verdorben.«

Sie setzten sich zu Tisch. Paula legte ihm von den Speisen vor.

»Und du?« fragte er.

»Du weißt doch, daß ich abends nicht esse.«

Sie nahm übrigens eine Kleinigkeit auf ihren Teller und kostete davon.

Er entkorkte die Flasche.

»Refosco«, sagte er.

Sie reichte ihm das Spitzgläschen hin. Er goß ein und sie trank.

Allmählich fing ihr Gesicht zu glühen an ....


* * *


Des Nachts merkte er, daß sie nicht schlafe, obgleich sie ganz ruhig neben ihm lag.

»Du schläfst nicht?« flüsterte er.

»Laß mich.«


* * *
[162]

Am Morgen war sie wie gewöhnlich zu Bette geblieben, während er im Nebenzimmer gefrühstückt hatte und nun, zum Gange in sein Bureau bereit, an ihre Seite trat.

»Paula! Mein schönes, mein göttliches Weib!« Er bog sich zu ihr hinab und liebkoste sie. Sie ließ es geschehen und hielt ihm die Hand zum Abschied hin.

Als er fort war, verweilte sie eine Zeitlang regungslos mit geschlossenen Lidern. Dann erhob sie sich, wusch sich und kämmte vor dem Spiegel ihr langes, volles Haar, in welchem schon einige Silberfäden schimmerten.

Als sie vollständig angekleidet war, trat sie an ein Fenster und blickte durch die Scheiben. Dann setzte sie den Hut auf, nahm den Mantel um und verließ, nachdem sie der Magd mit ruhiger Stimme einige Befehle erteilt hatte, die Wohnung. Ihr Antlitz sah heute wieder etwas blutlos aus, so daß es eine leichte gelbliche Färbung zeigte. Mit gesenkten Wimpern schritt sie langsam die Treppe hinab, verließ das Haus und wendete sich nach rechts.

Dort, wo einst Bruchfeld gestanden, stand ein sehr vornehmaussehender Herr. Er war nicht mehr jung, aber keineswegs alt und wies in Haltung und Miene jene weltmännische Sicherheit, welche die Frauen besonders anzieht. Sein etwas verschleierter Blick leuchtete auf, als er sie kommen sah.

Sie lächelte ihm entgegen .....

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 158-163.
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