I.

[11] In der Landeshauptstadt waren Arbeiterunruhen entstanden, die sich mehr und mehr steigerten und auch auf die benachbarten Fürstlich Roggendorffschen Eisenwerke überzugreifen drohten. Es galt also dort, einen voraussichtlichen Streik hintanzuhalten. Man erwartete das Eintreffen des Fürsten, der sich mit seiner Mutter und seiner jungen Gemahlin in Florenz befand, während die Leiter der Betriebe Tag und Nacht auf ihren Posten blieben, eingehende Verhandlungen in Aussicht stellend. Inzwischen aber war es in der Stadt zum Äußersten gekommen. Man hatte Militär aufbieten müssen; die bei solchen Anlässen unvermeidlichen Opfer hatten geblutet, worauf eine dumpfe, unentschiedene Ruhe eingetreten war.

In dieser bang erwartungsvollen Zeit saß ich eines Abends mit dem Grafen Erwin in dem kleinen Salon des Schlosses. Es war ein traulicher Raum, nach einer Seite hin durch einen prachtvollen alten Gobelin abgegrenzt. An der Wand gegenüber hingen einige intimere Familienporträts, unter denen eines ganz besonders hervorleuchtete. Von Lampi gemalt, stellte es den Urgroßvater des Fürsten dar in der grünen Uniform eines Landsturmmajors aus den Befreiungskriegen. Hohe Intelligenz sprach aus den edlen, aber keineswegs scharfen Zügen des noch im kräftigsten Alter stehenden Mannes, der das Haar, der Tracht seiner Zeit gemäß, leicht gepudert und nach rückwärts in einen Beutel zusammengefaßt trug. Die Farben des meisterlichen Bildes waren noch so frisch, als stammte dieses[11] von heute, und die ungemein lebensvolle Wiedergabe der bedeutenden und doch anmutigen Persönlichkeit reizte immer wieder zu längerer Betrachtung. So blickten wir beide auch jetzt schweigend darauf hin.

Endlich sagte der Graf: »Ja, der Mann dort ahnte nicht, wie sehr sich die Verhältnisse, unter denen er seine – wenigstens für damals – großartige Schöpfung unternahm, im Laufe der Zeit ändern würden. Als er hier Erzlager erschloß, Hochöfen baute und so mit den Hüttenwerken die erste große Eisenindustrie des Landes ins Leben rief, schuf er auch den vergleichsweise nicht unbeträchtlichen Wohlstand der ganzen Gegend. Denn der Syenitboden hier herum ist nicht ergiebig; die Landwirtschaft hat niemals etwas Rechtes abgeworfen. So lebte, mit Ausnahme einiger größerer Besitzer, die Bevölkerung in Not. Nun waren mit einemmal unvermutete Erwerbsquellen erschlossen. Von meilenweit kamen die Leute herbeigeströmt, um Arbeit zu suchen und zu finden. Waren die Löhne auch gering, mußte auch bei Errichtung so manchen Objektes noch die Robot mithelfen: man segnete den unternehmenden Gutsherrn und nannte ihn den Wohltäter der Gegend. Heute nennt man uns die Ausbeuter. Vielleicht sind wir es auch, obgleich ich Ihnen ganz bestimmt versichern kann, daß mein Neffe, wenn er die Löhne nur einigermaßen nennenswert erhöhen wollte, aus den Werken nicht den geringsten Nutzen zöge. Aber vielleicht braucht er auch keinen zu ziehen. Denn es sind ja nur die Arbeiter, die das Unternehmen im Gang halten – und warum sollten sie den Roggendorffern durch ihre Mühen Gewinn schaffen müssen? Sie könnten doch den Betrieb selbst in die Hand nehmen und weiterführen. Dahin zielt ja, wie ich glaube, die sozialistische Bewegung überhaupt. Ich sage: ich glaube. Denn bestimmt weiß ich es nicht. Man kann, wie ich schon einmal, vielleicht zur Unzeit, ausgesprochen habe, diese Doktrin in gewissen Jahren sich ebensowenig zu eigen machen, wie das Seiltanzen. Aber immerhin. Daß die[12] alte Gesellschaftsordnung im Absterben begriffen ist, erkenne ich sehr wohl, und es fällt mir nicht ein, für sie eine Lanze brechen zu wollen. Aber Institutionen, die durch das Leben selbst geworden sind und sich im Laufe von Jahrhunderten gewissermaßen eingefleischt haben, besitzen denn doch ein zähes Leben, so daß sich manches bereits Totgesagte plötzlich wieder zu ganz unerwarteter Daseinsfrische erhebt. Zum Beispiel die Macht der Kirche, die man nach dem Fall des Konkordats schon für immer gebrochen glaubte. Dagegen hat der Liberalismus, der sich damals so siegreich gebärdete, ein ziemlich rasches Ende gefunden. Ob der sozialdemokratischen Idee eine weitaus längere Dauer beschert sein kann, darüber erlaube ich mir keine Meinung. Jedenfalls wird sie das Schibboleth der nächsten Epoche sein, und den Tatsachen, wenn sie sich vollziehen, wird man sich beugen müssen. Das ist seit jeher meine Maxime gewesen, und so hab' ich mich den Ereignissen gegenüber stets objektiv verhalten, wenn mir auch begreiflicherweise der Feudalismus, in dessen Zeichen ich geboren bin, hin und wieder in den Nacken schlägt.«

Ein bejahrter Kammerdiener war leise eingetreten und brachte den Tee.

»Hört man Neues aus der Stadt?« fragte der Graf.

»Nichts Gutes. Die Arbeiter bestehen noch immer auf ihren Forderungen. Wer weiß, ob es morgen nicht wieder losgeht. Und es hat doch genug Tote und Verwundete gegeben. Auch Weiber sind erschossen worden. Und wissen Erlaucht, wer darunter war?«

»Na, wer denn?«

»Die Tochter des Worel.«

»Des Worel? Die Olga?«

»Jawohl«, fuhr der Alte fort, während er den Tisch besorgte. »Seit sie ihren zweiten Mann geheiratet hat, ist sie die reinste Anarchistin geworden. Sie soll den ersten Stein nach den Soldaten geschleudert haben.«

Der Graf erwiderte nichts.[13]

»Mein Gott, wer hätte das von dem schönen Mädel gedacht, das sozusagen im Durchlauchtigsten Hause aufgewachsen war! Aber ihr Vater, dieser eingebildete Narr, trug an allem die Schuld. Er hat seine Familie ins Unglück gebracht.« Damit, entfernte sich der Mann.

Der Graf schwieg noch immer. Nach dem Tee zündete er eine Zigarre an und sagte: »Sie haben gehört, was unser Mischko da berichtet hat, und werden erstaunt sein, wenn ich hinzufüge, daß ich einst dieses Mädel heiraten wollte.«

Ich blickte ihn wirklich höchst überrascht an.

»Staunen Sie übrigens nicht allzu sehr. Es war eben eine Stimmung – eine Laune, wenn Sie wollen. Aber die Absicht hatt' ich. Da wir just so hübsch allein beisammen sitzen, will ich Sie einmal etwas tiefer in mein Leben blicken lassen, indem ich Ihnen die Geschichte der Familie Worel erzähle. Angesichts der jüngsten Vorgänge ist sie in gewissem Sinne lehrhaft. Sie können daraus entnehmen, wie die Schicksale der einzelnen mit dem Zuge der Zeit im Zusammenhang stehen – wie die Menschen von ihm ergriffen und je nach Umständen emporgetragen oder dem Untergange zugetrieben werden.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 11-14.
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