II.

[14] »In unserem kleinen Schlosse Blansek, das nun ganz leer steht, waren seinerzeit die herrschaftlichen Verwaltungen untergebracht: das Forstamt, das Rentamt, die Buchhaltung der Eisenwerke – und was eben sonst noch Bureaus benötigte. Auch wohnten dort einige Beamte. Dabei war ein der Tischlerei kundiger Mann angestellt, der die Dienste eines Hausbesorgers und Kanzleidieners zu verrichten hatte. Zu tun gab es für ihn genug, denn er wurde, da es damals keine Telegraphen, noch weniger aber Telephone gab, auch als Botengänger verwendet. Dafür bezog er keinen allzu hohen Gehalt. Aber er hatte ein kleines Nebengebäude mit vielfachen Räumlichkeiten[14] zur Verfügung; dahinter einen Obst- und Gemüsegarten. Außerdem ein schönes Stück Feld, auf dem man abwechselnd Korn und Kartoffeln bauen konnte. So führte er mit seiner Familie eine den damaligen Verhältnissen entsprechende und zufriedenstellende Existenz. Er hieß Worel. Hoch und kräftig gewachsen, blond und blauäugig, wie er war, machte er beim ersten Anblick den Eindruck einer deutschen Reckengestalt. Sah man aber näher zu, so erkannte man an der runden, vorspringenden Stirn, an den stark entwickelten Backenknochen und der etwas verkümmerten Nase den Slawen. Seine Frau, eine zierliche, lebhafte Brünette, deren Augen wie zwei große schwarze Kirschen glänzten, gab ein ganz hübsches Gegenbild ab. Es war eine Freude zu sehen, wie sie in der kleinen Wirtschaft waltete und mit Hilfe ihrer Mutter, die im Hause lebte, die Feld- und Gartenarbeit verrichtete. Kinder hatten die Leute damals zwei, Mädchen. Das erste, der Großmutter ähnlich, ein unschönes, verwachsenes Geschöpf, das zweite hingegen, erst ein paar Jahre alt, ein höchst lieblicher Anblick – ein wahres Christkindl. So also nahm sich die Familie Worel aus, die wir jüngeren Geschwister nicht ungern aufsuchten, wenn wir zuweilen nach Blansek fuhren. Denn der Mann hatte immer etwas Besonderes vorzuweisen. Entweder einen ausgestopften schönen Vogel, oder den Wurf einer seltenen Kaninchenart, die er züchtete – und ähnliches. Und die Frau pflegte uns mit gewissen Kuchen zu regalieren, die sie sehr schmackhaft zu bereiten verstand.

Da geschah es, daß mein erstgeborener Bruder, der um zwölf Jahre älter war als ich, heiratete, und ihm unser Vater Blansek als Ehesitz übergab. Die Bureaus wurden an den Ort der Betriebe verlegt und alle Räumlichkeiten des Schlosses durch eine Schar von Handwerkern in den notwendigen Stand versetzt. Auch Worel half treulich mit und zeigte dabei eine Anstelligkeit, die Erstaunen erregte. Mein Bruder gewann ihn daher sehr lieb, ernannte ihn zum Zimmerwärter und ließ[15] ihm im Laufe der Jahre alle möglichen Vergünstigungen zuteil werden. Sie waren auch wohl verdient. Denn er waltete nicht bloß sehr eifrig seines Amtes, sondern legte überall Hand an, wo es etwas zu besorgen gab. So wurde er im Schlosse gewissermaßen das Faktotum. Wenn Ereignisse eintraten, die besondere Veranstaltungen notwendig erscheinen ließen, da hieß es gleich: ›Ach, das wird der Worel schon machen!‹ Und er machte es auch. Sogar ein ganz stattliches Haustheater stellte er einmal her, wobei er sich auch als Dekorationsmaler versuchte. Durch seine Verwendbarkeit kam die ganze Familie in Gunst. Man beschenkte die hübsche Frau Aninka, die inzwischen einen Knaben zur Welt gebracht, und die Kinder mit gefallsamen Kleidern, und als meinem Bruder ein Töchterchen geboren wurde, nahm man gleich die kleine Olga als künftige Gespielin in Aussicht.

Ich selbst war zu jener Zeit als Zögling ins Theresianum getreten. Von dort kam ich nur in den Ferialzeiten nach Hause, dann aber natürlich auch oft genug nach Blansek. Dabei konnte ich wahrnehmen, wie die Olga, die nun wirklich die Gespielin meiner kleinen Nichte geworden war, von Jahr zu Jahr schöner aufblühte. Sie geriet mehr dem Vater nach, hatte aber die großen schwarzen Augen der Mutter und eigentümlich blondes Haar, das wie blasses Kupfer schimmerte. Es war von solcher Fülle, daß es in seiner Schwere den Kopf des Mädchens nach rückwärts zog, wodurch dieses unwillkürlich eine stolze und hoheitsvolle Haltung annahm. Sie entwickelte sich auch sehr rasch, so daß sie mit neun oder zehn Jahren schon wie zwölfjährig aussah. Etwa fünfzehn mochte sie gewesen sein, als ich, des Studierens satt, gleich als Offizier – das ging ja damals – in die Armee trat. Bei kürzeren Sommer- oder Herbsturlauben – der Winter wurde ja meistens in der Stadt zugebracht – traf ich mit ihr oft im Blanseker Park zusammen. Sie war dort immer um meine Nichte beschäftigt, die sie sehr liebte. So entwickelte sich zwischen uns auch eine Art vertraulichen[16] Verkehrs, der meinerseits freilich immer von oben herab blieb. Hauptsächlich vielleicht deshalb, weil ich fühlte, daß ich nahe daran war, Feuer zu fangen. Sie selbst hielt sich, wie auch der jungen Komtesse gegenüber, in den Schranken jener stillen Unterwürfigkeit, die ihre Stellung mit sich brachte; nicht eine Spur von Koketterie war an ihr wahrzunehmen. Als ich aber knapp vor dem Kriege mit Italien für ein paar Tage nach Hause kam, um von den meinen vielleicht auf Nimmerwiedersehen Abschied zu nehmen, traf ich sie zufällig allein. Sie saß in einer blühenden Geißblattlaube und blätterte in einem Bilderbuche, das meiner Nichte gehörte. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, denn die Laube war sehr tief. Aber ein brauner Dackel, der immer um die Mädchen war, kam herausgesprungen. Ich blieb am Eingang stehen. Olga erhob sich und legte das Buch weg. Ich trat hinein und reichte ihr die Hand hin. ›Adieu, Olga!‹ sagte ich. ›Heute abend reise ich wieder ab – und dann geht's ins Feld.‹ Sie blieb regungslos und sprach kein Wort. Aber sie war ganz blaß geworden, und ein Beben ging durch ihren schlanken Leib. Ich sah, wie sie gewaltsam an sich hielt. Plötzlich in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend, warf sie sich mir an die Brust. Einen Augenblick war ich ganz fassungslos. Dann aber, das warme Leben an mir fühlend, umschloß ich sie mit beiden Armen. ›Liebe, liebe Olga,‹ flüsterte ich, während ich ihr Haar, ihre Stirn, ihren Mund küßte. Jetzt riß sie sich los, und das Gesicht mit den Händen verhüllend, entfloh sie.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 14-17.
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