6. Der Spaziergang

[339] Eine Erzählung.


1785.


Es war im Mai, die Luft war rein;

Doch konnt' ich mich nicht freuen.

Ich nahm den Stab und ging allein,

Die Sorgen zu zerstreuen,

Auf einen Hügel, um zu sehn

Die liebe Sonne untergehn.


Da schlingt ein schmaler Pfad sich hin

Durch Haselbüsch' und Schlehen;

Rechts Rebenberge, frisch und grün,

Links goldne Saaten stehen;

Auch trifft man manchen Nußbaum an,

An dessen Fuß man ruhen kann.


Ein Tannenwald, mit süßem Duft,

Empfängt dich, kömmst du weiter;

Durch grüne Zweige glänzt die Luft

So himmelblau und heiter!

Scheint sonst die Sonne heiß und schwül,

So ist's doch schattig hier und kühl.


Sieh da! vor dir das alte Schloß,

Einst wohnten Ritter drinnen;

Jetzt wachsen Fichten schlank und groß

Hoch auf der Mauer Zinnen.

Im Turme, sonst so stark und fest,

Schwebt itzt die Eule um ihr Nest.


Ihr glaubt vielleicht: ich sollt euch hier

Von Geistern was erzählen;

Allein für diesmal möchtet ihr

In eurer Rechnung fehlen –

Trotz meiner Amme Unterricht

Sah ich doch keine Geister nicht!
[340]

Von Hexen weiß ich auch nicht viel,

Das muß ich frei bekennen;

Nie sah ich sie auf Besenstiel

Und Ofengabel rennen.

Manch' runzlicht triefendes Gesicht

Kannt ich – doch keine Hexe nicht.


Was ich selbst sah, erzähl' ich nur;

Kein Märchen will ich machen;

Ich liebe Wahrheit und Natur:

Mit ihren Alltagssachen

Sind sie mir immer neu und schön,

Daß ich sie nie genug kann sehn.


Schön, rot und golden war der Strahl

Der Sonn' im Untergehen;

Die Aussicht von der Burg ins Thal

War herrlich anzusehen.

Ich setzte mich auf einen Stein

Und blieb da stundenlang allein.


Immer dunkler rings um mich

Schien die Natur zu schweigen;

Am blauen Himmel fingen sich

Die Sterne an zu zeigen;

Vom nächsten Dörfchen schallte schon

Der Abendglocke Feierton.


Im Epheu säuselte der Wind

Längst an des Schlosses Mauer.

Ich mußte weinen wie ein Kind;

Versenkt in tiefe Trauer

Dacht' ich nur Trennung, Tod und Grab –

Und starrt' ins enge Thal hinab.


Still lag es da im Mondenlicht;

De Fluß glänzt' wie ein Spiegel.

Die Thränen wischt' ich vom Gesicht

Und stieg hinab vom Hügel:

Mir war itzt wohl; mein Busen schwoll,

Von Freud' und süßer Wehmut voll.
[341]

Getröstet dacht' ich so im Gehn:

Der diesen Mond hieß scheinen,

Der diese Sterne schuf so schön,

Will nicht, daß wir hier weinen.

Dort oben find' ich einst gewiß

Die, die das Schicksal mir entriß.


Und endlich kam ich froh nach Haus,

Ging in mein stilles Zimmer;

Sah lang zum Fenster noch hinaus

Die Flur im Silberschimmer.

Ich freute mich der Erde Pracht

Und schlief erst ein um Mitternacht. –


Nun hiemit endet sich mein Sang,

Doch ahndet mir die Klage:

Solch' Zeug macht uns die Zeit nur lang,

Geschieht auch alle Tage! –

Ihr lieben Leute, es ist wahr:

Hier ist nichts neu, nichts sonderbar.


Doch zieht die Lehre euch daraus:

Wenn euch die Sorgen drücken,

Geht in das weite Feld hinaus;

Trost wird euch da erquicken.

Im Leiden Mut und Labung nur

Gewährt die heilige Natur!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 339-342.
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