25. Lied im Freien

[285] Wie schön ist's im Freien!

Bei grünenden Maien

Im Walde, wie schön!

Wie süß, sich zu sonnen,

Den Städten entronnen,

Auf luftigen Höhn!


Wo unter den Hecken

Mit goldenen Flecken

Der Schatten sich mischt,

Da läßt man sich nieder,

Von Haseln und Flieder

Mit Laubduft erfrischt.


D'rauf schlendert man weiter,

Pflückt Blumen und Kräuter

Und Erdbeern im Gehn;

Man kann sich mit Zweigen,

Erhitzet vom Steigen,

Die Wangen umwehn.
[285]

Dort heben und tunken,

Gleich blinkenden Funken,

Sich Wellchen im Bach:

Man sieht sie verrinnen

In stillem Besinnen,

Halb träumend, halb wach.


In weiten Bezirken,

Mit hangenden Birken

Und Buchen besetzt,

Gehn Dammhirsch und Rehe

In traulicher Nähe,

Von niemand gehetzt.


Am schwankenden Reisig

Hängt zwitschernd der Zeisig,

Vor Schlingen nicht bang;

Erfreut, ihn zu hören,

Sucht keiner zu stören

Des Hänflings Gesang.


Hier sträubt sich kein Pförtner,

Hier schnörkelt kein Gärtner

Kunstmäßig am Hain:

Man braucht nicht des Geldes;

Die Blumen des Feldes

Sind allen gemein.


Wie schön ist's im Freien!

Despoten entweihen

Hier nicht die Natur.

Kein kriechender Schmeichler,

Kein lästernder Heuchler

Vergiftet die Flur.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 285-286.
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