Nachruf

[429] Lässest du allein mich so,

Der ich manchen Abend froh

Hier mit dir gesessen?

Deiner längst zum Zwiegespräch

Harr' ich; und hierher den Weg

Hast du nun vergessen?


Unten rauscht wie sonst der Rhein;

In dem Glase blinkt der Wein,[429]

Daß mein Karl ihn trinke;

Und ich lausch' und lausche bang,

Ob ich höre seinen Gang,

Ob sich regt die Klinke.


O die Zeit, wie froh sie war,

Als so wie ein Blütenpaar,

Einem Zweig entsprossen,

Hier des Lebens süßem Mai,

Knospend, duftend unsre zwei

Seelen sich erschlossen.


Hier im schönen Seelenrausch

Bei der Reden Wechseltausch

Ihn zum Freund gewann ich;

Jedes Wort, das ihm entquoll,

Schien mir tiefer Weisheit voll,

Lang darüber sann ich.


Eh mit erstem Schein der Tag

Durch das Rebengitter brach,

Kam er, mich zu wecken,

Und bei Lerchen-Morgensang

Schritten wir den Rhein entlang

Durch die Weißdornhecken,


Sahen über Wiesengrün

Fernhin alte Burgen glühn

Auf den Felsenspitzen,

Und die Thäler, feucht von Tau,

Nach und nach durchs Dämmergrau

Hell im Frühlicht blitzen.


Dann, wenn in des Lernens Drang

Einer mit dem andern rang[430]

Um den Sieg im Wissen,

Stets von ihm mir, ob ich heiß

Auch geworben um den Preis,

Sah ich ihn entrissen.


Ihm mit Staunen blickt' ich nach;

Doch, wenn mir die Kraft gebrach,

Um ihm nachzuringen,

Dacht' ich bang: Genug! genug!

Brechen müssen bei dem Flug

Endlich seine Schwingen.


Und es kam, wie ich gedacht;

Um sein frühes Grab bei Nacht

Flattert die Phaläne;

Wo so oft er bei mir saß,

Bleib' ich einsam, und ins Glas

Rieselt eine Thräne.

Quelle:
Adolf Friedrich von Schack: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Stuttgart 31897, S. 429-431.
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