Der Pfahlmann

[26] Dichtqualmende Nebel umfeuchten

Ein Pfahlbaugerüstwerk im See,

Und fern ob der Waldwildnis leuchten

Die Alpen in ewigem Schnee.


Ein Mann sitzt auf hölzernem Stege

In Felle gehüllt, denn es zieht;

Er schnipft mit der Feuersteinsäge

Ein Hirschhorn und summelt sein Lied:


»Da seht mein verschwollen Gesichte

Und seht, wie bei Durchzug und Wind

Der Ureuropäer Geschichte

Mit Rheuma und Zahnweh beginnt.
[26]

Zwar klopf' ich mit steinernen Beilen

Und Keulen mir Bahn durch die Welt,

Doch ist ein gemütlich Verweilen

Noch täglich in Frage gestellt.


Im Wald stört das Raubtier mit Schreien

Den Schlaf im durchhöhleten Stamm,

Und bau' ich mein Hüttlein im Freien,

So stampft mir's der Urochs zusamm'.


Drum lernt' ich vom biederen Biber

Und stelle als Wohnungsbehilf,

Je weiter vom Festland je lieber,

Den Pfahldamm in Seegrund und Schilf.


Auch hier muß ich vieles noch meiden,

Was späterer Zeit einst gefällt:

Gern trüg' ich ein Schwert an der Seiten

– Es gibt weder Eisen noch Geld.


Gern zög' ich Gewinn vom Papiere

– Noch sind keine Börsen gebaut;

Gern ging' ich des Abends zum Biere

– Es wird noch keines gebraut.


Und denk' ich der Art, wie wir kochen,

Gesteh' ich selber: 's ist arg.

Wir spalten dem Torfschwein die Knochen

Und saugen als Kraftsaft das Mark.


Wie kann sich der Geist da schon lenken

Auf höh'res Kulturideal?

In all unserm Fühlen und Denken

Steckt rammeltief Pfahl neben Pfahl.«


Der Mann sang's mit heiserer Kehle,

Da schwoll mit dem Rheuma sein Grimm,

Zwei Bären beschlichen die Pfähle

Und schnupperten kletternd nach ihm.


Da schmiß er zum Pfahlküchenkehricht

Beil, Hirschhorn und Trinkkrug von Ton,[27]

Sprang husch! wie ein Frosch ins Geröhricht

Und schwamm mit Fluchen davon.


Wo einst man die Stätte errichtet

Zum keltischen Seehüttendorf,

Ruht jetzt eine Fundschicht geschichtet,

Tief unter dem Seeschlamm und Torf.


Der diesen Gesang schuf zum Singen,

Hat selber den Moder durchwühlt

Und bei den gefundenen Dingen

Einen Stolz als Kulturmensch gefühlt.

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 26-28.
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