Wanderlied

[40] Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,

Wer lange sitzt, muß rosten;

Den allersonnigsten Sonnenschein

Läßt uns der Himmel kosten.

Jetzt reicht mir Stab und Ordenskleid

Der fahrenden Scholaren,

Ich will zu guter Sommerzeit

Ins Land der Franken fahren!


Der Wald steht grün, die Jagd geht gut,

Schwer ist das Korn geraten;

Sie können auf des Maines Flut

Die Schiffe kaum verladen.

Bald hebt sich auch das Herbsten an,

Die Kelter harrt des Weines;

Der Winzer Schutzherr Kilian

Beschert uns etwas Feines.


Wallfahrer ziehen durch das Tal

Mit fliegenden Standarten,

Hell grüßt ihr doppelter Choral

Den weiten Gottesgarten.

Wie gerne wär' ich mitgewallt,

Ihr Pfarr' wollt mich nicht haben!

So muß ich seitwärts durch den Wald

Als räudig Schäflein traben.
[40]

Zum heiligen Veit von Staffelstein

Komm' ich emporgestiegen

Und seh' die Lande um den Main

Zu meinen Füßen liegen:

Von Bamberg bis zum Grabfeldgau

Umrahmen Berg und Hügel

Die breite, stromdurchglänzte Au –

Ich wollt', mir wüchsen Flügel.


Einsiedelmann ist nicht zu Haus,

Dieweil es Zeit zu mähen;

Ich seh' ihn an der Halde draus

Bei einer Schnitt'rin stehen.

Verfahrner Schüler Stoßgebet

Heißt: »Herr, gib uns zu trinken!«

Doch wer bei schöner Schnitt'rin steht,

Dem mag man lange winken.


Einsiedel, das war mißgetan,

Daß du dich hubst von hinnen!

Es liegt, ich seh's dem Keller an,

Ein guter Jahrgang drinnen.

Hoiho! die Pforten brech' ich ein

Und trinke, was ich finde ...

Du heiliger Veit von Staffelstein,

Verzeih' mir Durst und Sünde!

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 40-41.
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