Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Auf der Ebenalp.

[392] Sechs Tage lang war Ekkehard krank gelegen. Die Sennen pflegten ihn, ein Trank aus blauem Enzian gekocht, schwichtigte das Fieber. Die Alpenluft tat das ihre. Eine starke Erschütterung war ihm notwendig gewesen, um an Körper und Geist das gestörte Gleichgewicht herzustellen. Jetzt war's in Ordnung. Er hörte keine Stimmen und sah keine Phantasmen mehr. Lindes Gefühl von Ruhe und aufsprossender Gesundheit durchströmte ihn; es war jener Zustand sanfter Ankraft, der schwermütigen genesenden Menschen so wohl ansteht. Sein Denken war ernst, aber nimmer bitter.

»Ich hab' von den Bergen was gelernt«, sprach er zu sich selber, »Toben hilft nicht, wenn auch die zauberreichste Maid vor uns sitzt, der Mensch muß von Stein werden, wie der Säntis, und kühlenden Eispanzer ums Herz legen, kaum der Traum der Nacht soll wissen, wie es drinnen kocht und glüht, das ist besser.«

Und mählich ward ihm die Trübsal der letzten Vergangenheit in mildem Duft verklärt; er dachte an die Herzogin und alles, was auf dem hohen Twiel geschehen, es tat ihm nimmer weh. Und das ist das Fürtreffliche gewaltiger Natur, daß sie nicht nur sich selber als ein mächtig wirkend Bild vor den Beschauenden stellt, sondern den Geist überhaupt ausweitend anregt und fernliegende verschwundene Zeit im Gedächtnis wieder heraufbeschwört. Ekkehard hatte lang' nimmer auf die Tage' seiner Jugend rückgeschaut, jetzt flüchtete sich sein Denken am liebsten dorthin, als wär' es ein Paradiesgarten, aus dem ihn der Sturm des Lebens hinausgeweht. Er hatte etliche Jahre in der Klosterschule zu Lorsch am Rheine verbracht;[392] damals ahnte er nicht, was in der Frauen dunkeln Augen für herzverzehrende Glut verborgen glimmt, die alten Pergamente waren seine Welt.

Aber eine Gestalt stand ihm schon damals fest ins Herz geschrieben, das war der Bruder Konrad von Alzey. An ihn, den wenig Jahre älteren, hatte Ekkehard die erste Neigung junger Freundschaft geheftet; ihr Lebensweg ging auseinand, es war Gras gewachsen über die Tage von Lorsch, jetzt tauchten sie strahlend vor der Betrachtung auf, gleich dem dunkeln Hügelland der Fläche, wenn die Morgensonne ihre Strahlen drauf geworfen.

Es ist mit des Menschen Geist wie mit der Rinde der alten Erde; auf den Anschwemmungen der Kindheit türmen sich in stürmischer Hebung neue Schichten auf, Fels und Grat und hohe Bergwand, die bis in den Himmel zu reichen wähnt, und der Boden, drauf sie ruht, ist mit Trümmern überschüttet und vergessen, – aber wie die starren Gipfel der Alpen oft sehnsüchtig zu Tale schauen und sich heimwehbewältigt hinabstürzen in die Tiefe, der sie entstiegen, so fährt die Erinnerung zurück in die Jugend und gräbt nach den Schätzen, die sie unbeachtet beim tauben Gestein zurückließ.

Jetzt flog Ekkehards Denken oftmals zu seinem treuen Gespan, er stund wieder mit ihm, unter der rundbogigen säulengetragenen Vorhalle, er betete mit ihm an den alten Königsgräbern und am Steinsarg des blinden Herzog Thassilo, er wandelte mit ihm durch die schattigen Gänge des Klostergartens und lauschte seinen Worten, – und was Konrad damals gesprochen, war hehr und gut, denn er schaute mit dem Aug' eines Dichters in die Welt, und es war, als müßten Blumen am Wege aufsprießen und die Vögel lustig begleitend drein schmettern, wenn sein Mund sich auftat zu honigsüßer Rede.

»Schau auf, Kind Gottes!« hatte Konrad einmal zum jungen Freund gesagt, da sie von der Warte des Gartens hinabschauten ins Land, »dort, wo die weißen Sanddünen aus dem Feld aufragen, ist ehemals Fluß gewesen und Strömung des Neckar: so geht die Spur[393] vergangener Menschengeschichten durch die Felder der Nachkommen, und es ist schön, wenn sie des achthaben. Und hier am Rhein ist heiliger Boden, es wäre Zeit, daß wir das sammeln, was drauf gewachsen, eh' uns das leidige Trivium und Quadruvium den Sinn dafür abtötet.«

Und an fröhlichen Vakanztagen war Konrad mit ihm in den Odenwald gewandert, da rieselte im grünen Birkental versteckt eine Quelle, draus tranken sie, und Konrad sprach: »Neige dein Haupt, hier ist der Totenhain und Hagens Buche und Siegfrieds Bronn, hier ward dem besten aller Recken vom grimmen Hagen der Speer in den Rücken gerannt, daß die Blumen allenthalb von rotem Blut ertauten, dort auf dem Sedelhof hat Chriemhildis um den Erschlagenen getrauert, bis des Hunnenkönigs Boten kamen, um die junge Witib zu werben« – und er erzählte ihm all' die alten Mären von der Königsburg zu Worms und vom Nibelungenschatz und von Chriemhildis' Rache, und seine Augen sprühten: »Schlag' ein!« rief er dem jungen Freunde zu, »wenn wir Männer sind und des Sanges geübt, wollen wir ein Denkmal setzen den Geschichten am Rhein; es gärt und braust schon in mir wie ein gewaltig Lied von Heldentapferkeit und Not und Rache und Tod, und die Kunst des hörnen Siegfried, sich zu festen und zu feyen, weiß ich, wenn's auch keine Drachen mehr zu erschlagen und kein Blut mehr abzukochen gibt: wer mit heiligem Sinn die Waldluft schlürft und die Stirn mit dem Morgentaue netzt, dem geht das gleiche Verständnis auf, er hört, was die Vögel von den Zweigen singen und was der Sturmwind von alten Mären kündet, und wird stark und so fest, und wenn er das Herz am rechten Fleck hat, schreibt er's nieder zu Nutz und Frommen der anderen.«

Ekkehard aber hatte schier furchtsam den fröhlich Übermütigen angeschaut und gesagt: »Mir wird schier schwindlig, wenn ich dir zuhöre, wie du ein anderer Homerus zu werden gedenkst.« Und Konrad sprach lächelnd: »Eine Ilias soll keiner singen nach Homerus, aber das Lied der Nibelungen ist noch nicht gesungen und mein Arm[394] ist grün und mein Mut ist stark, und wer weiß, was die Folge der Zeiten bringt!«

Und ein andermal gingen sie am Gestade des Rheines und die Sonne spiegelte sich über den Bergen des Wasgauwaldes herunter in den Wellen, da sprach Konrad: »Für dich wüßt' ich auch einen Sang, der ist einfach und nicht allzu herb und paßt zu deinem Gemüt, denn du horchst lieber dem Schalle des Jagdhorns als dem Rollen des Donners. Schau auf! so wie heute hat einst die Zinne von Worms herübergeglänzt, da der Held Walthari von Aquitanien aus der Hunnengefangenschaft fliehend ins Frankenland ritt; hier hat ihn der Ferg' übergefahren samt seiner Liebsten und seinem Goldschatz, nach dem Walde ist er geritten, der dort blaudunkel ragt, das gab am Wasichenstein ein hartes Fechten und Funkensprühen von Helm und Schilden, da ihm die Wormser nachrückten, aber die Lieb' und ein gut Gewissen hat den Walthari stark gemacht, daß er sie alle bestand, den König Gunther und Hagen selbst, den Grimmen.«

Und er hatte ihm die Sage weitläufig erzählt; »um große Riesenbäume treibt allerhand wilder Schoß«, sprach er, »so ist auch um die Nibelungensage ringsum viel ander Buschwerk aufgesprießt, aus dem sich etwas zuschneiden läßt, wenn einer Freude dran hat; sing' du den Walthari!«

Aber Ekkehard ließ damals Kiesel über die Rheinflut tanzen und verstand seinen Freund nur halb; er war ein frommer Schüler und sein Sinn aufs nächste gerichtet. Die Zeit trennte die beiden, und Konrad mußte die Klosterschule fliehen, weil er einst gesagt, des Aristoteles Logika sei eitel leeres Stroh, und war in die weite Welt gegangen, niemand wußte wohin, und Ekkehard kam nach Sankt Gallen und hatte fort und fort studiert und war ein verständiger junger Mann geworden, den sie zum Professor tauglich fanden, und dachte an den Alzeyer Konrad oft schier mit einem vornehmen Mitleid.

Aber ein triebkräftig Samenkorn kann in des Menschen Herz lange verborgen ruhen und geht zuletzt doch[395] auf, wie der Weizen aus den Mumiensärgen Ägyptenlands.

Daß Ekkehard jetzo freudig jener Erinnerungen pflegte, war ein Zeichen, daß er seither auch ein anderer geworden.

Und es war gut so. Die Launen der Herzogin und Praxedis' unbefangene Grazie hatten sein blödes, schwerfällig gründliches Wesen geläutert, die große Zeit, die er durchlebt, das Sausen der Hunnenschlacht hatten Schwung in seine Gesinnung getragen und ihn das Getrieb kleinen Ehrgeizes verachten gelehrt, jetzt trug er einen großen Schmerz in sich, der ausgetobt sein mußte – so war der Klostergelehrte trotz Kutte und Tonsur in der glücklichen Umwandlung zum Dichter begriffen und schritt einher gleich der Schlange, die sich aus der alten Umhäutung losgerungen und nur der Gelegenheit wartet, ihre ganze Hülle wie einen abgetragenen Rock an der Hecke abzustreifen.

Täglich und stündlich, wenn er die allezeit schönen Gipfel seiner Berge anschaute und die reine Luft mit vollen Zügen einsog, kam es ihm mehr als ein Rätsel vor, daß er seines Lebens Glück erst im Erklären und Deuten vergilbter Schriften gesucht und hernachmals an einer stolzen Frau schier den Verstand eingebüßt; »laß stürzen, Herz«, sprach er, »was nicht mehr stehen mag, und bau' dir eine neue Welt, bau' sie dir tief innen, luftig, stolz und weit, strömen und verrinnen laß die alte Zeit!«

Er ging wieder vergnügt in seiner Klause umher, eines Abends hatte er die Vesperzeit geläutet, da kam der Senn von der Ebenalp; er trug etwas sorgsam in einem Tuch. »Gott grüß, Bergbruder!« sprach er, »es hat Euch ordentlich geschüttelt, hab' heut was für Euch aufgelesen zur Nachkur, aber Eure Backen sind rot und Eure Augen fröhlich, da ist's nimmer nötig.« Er öffnete sein Tuch, es war ein wimmelnder Ameisenhaufen, alt und jung, samt trockenen Fichtennadeln; er schüttelte das fleißige Völklein die Felswand hinunter.

»Ihr hättet sonst heute nacht drauf schlafen müssen«,[396] sprach er lachend, »das beizt die letzte Spur von Fieber hinweg.«

»Es ist vorbei«, sprach Ekkehard, »ich dank' Euch für die Medizin.«

»Aber macht Euch warm ein«, sagte der Senn, »es streicht eine schwarze Wolke über den Brülltobel her und die Kröten schleichen aus den Steinritzen vor, das Wetter will umschlagen.«

Am andern Morgen glänzten alle Gipfel in frischem blendendem Weiß. Es war ein starker Schnee gefallen. Aber für Winters Anfang war's noch viel zu früh. Die Sonne stieg lustig drüber auf und peinigte den Schnee mit ihren Strahlen, daß es ihn schier gereute, gefallen zu sein. Wie Ekkehard abends beim Kienspanlicht saß, schlug ein Krachen und Dröhnen an sein Ohr, als wollten die Berge einstürzen. Er fuhr zu sammen und legte die Hand an die Stirn, ob das Fieber nicht wiederkomme.

Aber es war kein Spuk kranker Einbildung.

Dumpfer Widerhall wälzte sich genüber durch die Schluchten der Sigelsalp und Maarwiese, dann klang's wie ein Zusammenbrechen mächtiger Baumstämme und schütternder Fall – und verklang. Aber ein leis klagendes Brummen tönte die ganze Nacht durch vom Tal herauf.

Ekkehard schlief nicht. Seit er am Seealpsee herumgeirrt, traute er sich nimmer. In aller Frühe ging er zur Ebenalp hinauf. Benedicta stand vor der Sennhütte und warf ihm einen Schneeball in die Kutte. Der Senn lachte, als er ihn ob des nächtlichen Lärms befragte.

»Die Musik werdet Ihr noch oft hören«, sprach er, »es ist eine Lawine zu Tal gestürzt.«

»Und das Brummen?«

»Wird Euer eigen Schnarchen gewesen sein.«

»Ich hab' nicht geschlafen«, sagte Ekkehard. Da gingen sie mit ihm hinunter und horchten. Es war ein fernes Stöhnen im Schnee.

»Sonderbar«, sprach der Senn, »es ist was Lebendiges verschüttet.«

»Wenn der Pater Lucius von Quaradaves noch lebte«[397] – sagte Benedicta, »der hat so eine sanfte Bärenstimme gehabt.«

»Schweig, du wilde Hummel!« drohte ihr Vater. Sie holten Schaufel und Bergstock, der Alte nahm sein Handbeil mit, so stiegen sie mit Ekkehard den Spuren der Lawine nach. Die war von der Felswand zum Äscher herabgefahren über Grund und Steingerölle und hatte die niedrigen Fichtenstämme geknickt wie Strohhalme; drei mächtige Blöcke, die gleich Schildwachen ins Tal hinabschauten, hemmten den Sturz, dort hatte sich der wandernde Schnee zürnend aufgebäumt, weniges war auch über diese Schranke weggesaust, der Kern, zerbröckelt von der Wucht des Anpralls, lag in trümmerhafter Masse getürmt. Der Senn legte sein Ohr an die Schneedecke, dann trat er etliche Schritte hinein, stieß den Bergstock ein und rief: »Hier graben wir!«

Und sie gruben eine gute Weile und gruben einen Schacht, also, daß sie tief drinnen standen und über ihren Häuptern die Schneemauer sich erhob, und bliesen oftmals in die Hände bei der kalten Arbeit. Da jodelte der Senn hell auf und Ekkehard tat einen Schrei – ein schwarzer Fleck kam zum Vorschein, der Senn sprang zum Beil, noch etliche Schaufelstöße, da hob sich's in zottiger Schwerfälligkeit und richtete sich brummend auf und reckte seine Vordertatzen weit empor gen Himmel, wie einer, der sich schweren Schlaf aus den Gliedern bannen will, und stieg langsam zu dem Fels und setzte sich drauf.

Es war eine mächtige Bärin, die auf nächtlichem Gang zu den Forellen des Seealpsees samt ihrem Ehgemahl dort überschüttet worden. Aber der Bär rührte sich nimmer, der war an ihrer Seite erstickt und lag in kühlem Todesschlaf, einen trotzigen Zug um die Schnauze, als wär' er mit einem Fluch auf allzu frühen Schneefall vom süßen Dasein geschieden.

Der Senn wollte mit seinem Beil wider die Bärin ausziehen, aber Ekkehard hielt ihn zurück und sprach: »Lasset ihr das Leben, wir haben genug an dem da!« und sie zogen ihn herfür und mochten ihn kaum selbander[398] von der Stelle bringen. Die Bärin saß auf ihrem Stein und schaute betrübt herunter und brummte und warf einen feuchten Blick auf Ekkehard, als habe sie ihn verstanden. Dann stieg sie hernieder, aber nicht wie zum Angriff; die Männer banden Fichtengezweig zu einer Schlinge zusammen, die Beute fortzuschleifen, sie traten zurück, Beil und Speer geschwungen, die Bärenwitib aber beugte sich über den toten Ehegespons und biß ihm das rechte Ohr ab und fraß es auf zu ewigem Angedenken an glückliches Ehemals, dann wandte sie sich gegen Ekkehard, auf den Hinterfüßen einherwandelnd. Er erschrak, als drohte ihm eine Umarmung, da schlug er ein Kreuz und sprach den Bärensegen des heiligen Gallus wider sie: »Zeuch aus und weiche von unserem Tal, du Ungetüm des Waldes, Berg und Alpenschlucht seien dein Revier, uns aber laß in Ruh' und die Herden der Alm266.« Und die Bärin war still gestanden, im Aug' einen bitter wehmütigen Blick, als wäre sie gekränkt ob der Verschmähung ihres Gefühls, sie ließ die Tatzen zur Erde sinken, drehte dem Bannenden den Rücken und schritt auf allen vieren von dannen. Noch zweimal hatte sie umgeschaut, ehe sie aus dem Blick der Bergbewohner verschwand.

»So ein Tier hat zwölf Männer Verstand und sieht dem Menschen, an den Augen an, was er will«, sprach der Senn, sonst würd' ich sagen: »Ihr seid ein heiliger Mann, daß Euch die Völkerschaften der Wildnis gehorchen.«

Er wiegte die Tatzen des Toten prüfend im Arm:

»Juhuhu, das wird ein Festschmaus. Die verzehren wir am nächsten Sonntag, Bergbruder, und ein Salätlein von Alpenkräutern dazu. Das Fleisch gibt Wintervorrat für uns zweibeide, ums Fell losen wir.«

Wie sie das Opfer der Lawine zum Wildkirchlein emporschleiften, sang Benedicta:


»Und wer Schneeglöcklein graben will

Und hat das Glück dabei,

Der gräbt wohl einen Bären aus

Und gräbt auch ihrer zwei.«
[399]

Der Schnee war ein luftiger Flutterschnee267 gewesen und war in Bälde wieder zerschmolzen, Spätsommer zog noch einmal mit herzwärmender Kraft in den Bergen ein, ein stiller Sonntagfriede lag über dem Hochland.

Ekkehard hatte des Mittags mit dem Senn und seiner Tochter die Bärentatzen verzehrt, eine lecker kräftige Speise, rauh, aber stark, wie die Altvorderen selber; dann war er hinaufgestiegen auf den Gipfel der Ebenalp und hatte sich ins duftende Gras geworfen und schaute behaglich in die Himmelsbläue, von wohligem Hauch der Gesundheit erquickt. Um ihn weideten Benedictas Ziegen; schier war's zu hören, wie das Alpengras zwischen den Zähnen der Kauenden sich bog und zerbrach. Unstetes Gewölk zog an den Bergwänden herum, – auf weißer Kalksteinplatte, dem Säntis zugewendet, saß Benedicta; sie blies auf der Schwegelpfeife. Einfach, melodisch wie ein Klang aus ferner Jugendzeit tönte die Weise, mit zwei hölzernen Milchlöffeln in der Linken schlug sie den Takt dazu. Sie war Meisterin in dieser Kunst, und ihr Vater pflegte oftmals mit Bedauern zu sagen: »Es ist schade, sie verdiente Benedictus zu heißen, – sie hätt' wahrlich einen tollen Handbuben gegeben.«

Wenn die Tonweise rhythmisch zu Ende ging, tat sie einen scharfen Jodelruf zur benachbarten Alp, dann schallte von dort sanftkräftiges Blasen des Alphorns herüber, ihr Liebster, der Senn auf der Klus, stand unter dem zwergigen Fichtenbaum und blies den Kuhreigen268 – jenen seltsamen Naturlaut, der, keiner Melodei vergleichbar, erst dumpfes Geräusch scheint, als säße eine Hummel oder ein Käfer im Horn eingesperrt und suche summend den Ausweg, der aber mählich und mählich das große Lied von Sehnsucht, Liebe und Heimweh in alle Gänge des Menschenherzens hinein drommetet, daß es aufjubelt oder zerbricht.

»Ich glaube, Euch ist wieder ganz wohl, Bergbruder«, rief Benedicta zu Ekkehard herauf, »daß Ihr Euch so vergnügt auf den Rücken strecket. Gefällt's Euch?«

»Ja«, sprach Ekkehard, »pfeif weiter.«[400]

Er konnte sich nicht satt schauen an all' der Pracht. Zur Linken stund in schweigender Größe der Säntis mit seiner Sippe, – er kannte schon all' die einzelnen Häupter bei ihren Namen und hieß sie seine lieben Nachbarn; vor ihm breitete sich ein Gewimmel niedrigerer Berge und Hügel aus, grünes üppiges Mattenland und dunkle Wälder, ein Stück Rheintal glänzte herauf, von den Höhen des Arlbergs und fernen Rätischen Alpen umsäumt, – ein dunstiger Streif Nebel deutete das Becken des Bodensees an, das er umhüllte – alles war weit und groß und schön.

Wer das Geheimnis erlauscht hat, das auf luftiger Berghöhe waltet und des Menschen Herz weitet und dehnt und himmelan hebt in freiem Schwung der Ge danken, den faßt ein lächelnd Mitleid, wenn er derer gedenkt, die drunten in der Tiefe Ziegel und Sand zum Bau neuer babylonischer Türme beischleppen, und er stimmt ein in jenes rechtschaffene Jauchzen, von dem die Hirten sagen, daß es vor Gott gelte wie ein Vaterunser.

Die Sonne stund über dem Kronberg und neigte sich zum Untergang und sprühte ein glühgolden Feuer an den Himmel und schoß lustig ihre Strahlen in den Nebel über dem Bodensee. Itzt riß die weiße Umhüllung, in leiser, ahnungsvoller Bläue lag der Untersee vor Ekkehards Blick; sein Auge schärfte sich im Glanz des Abends, er sah einen verschwindenden dunkeln Punkt, das war die Reichenau, er sah einen Berg, kaum hob er sich am Himmelsgrund, aber er kannte ihn – es war der hohe Twiel.

Und der Kuhreigen tönte ins Herdengeläut und wärmer und wärmer färbte sich alles auf der Alp, goldbraungrün leuchteten die Matten, leiser Abglanz der Röte warf sich auf die grauen Kalksteinwände des Kamor, da hub sich auch in Ekkehards Seele ein Leuchten und Glänzen, – die Gedanken flogen hinüber ins ferne Hegau und weiter, es war ihm, als säße er wieder bei Frau Hadwig auf dem Hohenstoffeln wie damals, als sie des Hunnen Cappan Hochzeit feierten, als käme Audifax mit Hadumoth aus der Hunnennot heimgeritten, als säh' er das Glück in Gestalt[401] jener zwei verkörpert, und aus dem Schutt vergangener Zeit tauchte auf, was der sinnige Konrad von Alzey ihm dereinst von Walthari und Hiltgunde erzählt, mit Sang und Klang zog der Geist der Dichtung bei ihm ein, er sprang auf und tat einen Satz in die Luft, daß der Säntis seine Freude an ihm haben mochte: »Im Bild der Dichtung soll das arme Herz sich dessen freuen, was ihm das Leben nimmer bieten kann, an Reckenkampf und Minnelohn, – ich will das Lied vom Walthari von Aquitanien singen!« rief er der scheidenden Sonne zu, und es war ihm, als stünde drüben in der Gemsenlucke zwischen Sigelsalp und Maarwies glanzumwallt der Freund seiner Jugend, der Meister Konrad, und winke ihm mild lächelnd herüber und spreche: »Tu's!«

Und Ekkehard ging fröhlich ans Werk. »Was bei uns geschieht, muß recht geschehen oder gar nicht, sonst lachen uns die Berge aus« – so hatte der Senn eines Tages zu ihm gesprochen, und er hatte beifällig dazu genickt. Der Handbub ward ins Tal geschickt, Eier und Honig zu holen, da bat ihn Ekkehard für einen Tag bei seinem Meister frei und gab ihm einen Brief nach Sankt Gallen an seinen Neffen. Er schrieb ihn in damals üblicher dort wohlbekannter Stabrunenschrift269, damit ihn kein Unberufener lese. Darin aber stand:

»Dem Klosterschüler Burkard Heil und Segen.

Der du ein Augenzeuge von deines Oheims Leid gewesen, wisse zu schweigen. Und wo er weilet, frage nicht – Gottes Hand reicht weit. Du hast im Procopius270 gelesen vom Vandalenkönig Gelimer; da er im numidischen Gebirg' eingeschlossen saß und sein Elend groß war, heischte er von den Belagerern eine Harfe, seinen Schmerz zu versingen. Gedenke dabei deines Ohms und wolle dem Überbringer eine eurer kleinen Harfen mitgeben und etliche Bogen reinen Pergamentes samt Farbe und Rohrfeder, denn mein Herz ist wohlgemutet zu singen in der Einsamkeit. Verbrenne das Blatt. Die Gnade Gottes sei mit dir! Leb' wohl!«

»Mußt schlau und fürsichtig sein, als wenn du eines[402] Adlers Nest beschleichen wolltest, um die Jungen auszuheben«, sprach Ekkehard zum Handbuben. »Erkunde den Klosterschüler, der mit dem Wächter Romeias war, da die Hunnen kamen, dem entbiete den Brief. Sonst soll niemand drum wissen.«

Der Handbub legte den Zeigefinger auf die Lippen: »Bei uns wird nichts verplaudert!« sprach er, »Bergluft macht still.«

Nach zwei Tagen kam er wieder bergan gestiegen. Er packte den Inhalt seines Tragkorbes vor Ekkehards Höhle aus. Eine kleine Harfe war unter grünen Eichzweigen verborgen, dreieckig, der Gestalt des griechischen Delta nachgebildet, mit zehn Saiten besaitet, Farbe und Schreibgerät dabei und viel Blätter saubern weichen Pergamentes, sorgsam waren die Linien drein punktiert, daß die Buchstaben gerade und eben drauf zu stehen kämen.

Aber der Handbub sah finster und trotzig drein.

»Hast's brav gemacht«, sagte Ekkehard.

»Ein zweites Mal lass' ich mich nicht mehr dort hinunterschicken«, murrte der Bub und ballte die junge Faust.

»Warum?«

»Weil dort keine Luft geht für unsereins. Im Stüblein der Wandersleut' hab' ich mir den Schüler erkundet und hab' den Auftrag bestellt. Hernach aber wollt' ich erschauen, was das für eine heilige junge Zunft sei, die dort in Kutten zur Schule geht, und bin in den Klostergarten gegangen, dort haben die jungen Herren mit Würfeln gespielt und Wein getrunken, es war ein Ergötzungstag271. Da hab' ich zugesehen, und wie sie Steine nach dem Ziel warfen und das Stockspiel trieben, hab' ich laut auflachen müssen, weil alles schwach und spottmäßig war. Und sie wollten wissen, warum ich lache, da hab' ich einen Stein gegriffen und hab' ihn zwanzig Schritt weiter geworfen als der beste von ihnen, und hab' gesagt: ›Was seid ihr für Wachholderdrosseln, wollt ein rechtschaffen Spiel spielen und habt lange Kutten an, euch kann ich ja nicht einmal zum Hosenlupf ausfordern oder zu einem gehörigen Schwingen: euer Sach' ist nichts!‹ Da sind sie[403] mit Stöcken auf mich los, aber den nächsten hab' ich gegriffen und durch die Lüfte geworfen, daß er ins Gras flog wie ein flügellahmer Bergrabe; und sie erhoben ein groß Geschrei und sagten, ich sei ein grober Bergbub, ihre Stärke sei Wissenschaft und Geist. Da hab' ich wissen wollen, was der Geist sei, und sie sprachen: ›Trink' Wein, dann schreiben wir dir's auf den Rücken!‹ Und der Klosterwein war gut, ein paar Krüge hab' ich ihnen weggetrunken, dann haben sie mir etwas auf den Rücken geschrieben, ich weiß nimmer, wie's zuging, aber andern Morgens hab' ich nur einen schweren Kopf gehabt und weiß von ihrem Geist im Kloster so wenig denn vorher.«

Der Handbub streifte sein rauhes Flachshemd zurück und wies Ekkehard seinen Rücken. Der trug in großem Lapidarstil mit schwarzer Wagensalbe aufgetragen die Inschrift:


»Abatiscellani, homines pagani,

vani et insani, turgidi villaniA1


Es war ein Klosterwitz. Ekkehard mußte lachen. »Laß dich's nicht verdrießen«, sprach er, »und denke, daß du selber schuld bist, weil du zu tief in den Weinkrug geschaut.«

Der Handbub war nicht beruhigt. »Meine schwarzen Ziegen sind mir lieber als all' die Herrlein«, sprach er und knüpfte sein Hemd wieder zu. »Aber wenn mir so ein Hasenfuß, so ein Lappi auf die Ebenalp kommt, dem schreib' ich mit ungebrannter Asche ein Wahrzeichen auf die Haut, daß er zeitlebens dran denken soll, und wenn's ihm nicht recht ist, kann er den Bergtobel hinabsausen wie ein Schneesturz im Frühling.«

Brummend ging der Bub von dannen.

Ekkehard aber nahm die Harfe und setzte sich unter das Kreuz vor die Höhle und griff eine fröhliche Tagweise; er hatte lange nimmer die Saiten gerührt, es tat ihm wundersam wohl, der mächtigen Einsamkeit gegenüber in[404] leisen Tönen auszusprechen, was ihm im Herzen lebte, und die Musika war ein guter Verbündeter dem Werke der Dichtung; das Waltharilied, das erst wie ferner Nebel ihm vorgeschwebt, verdichtete sich und nahm Gestaltung an und zog in lebendurchatmeten Bildern an ihm vorüber; er schloß die Augen, um besser zu sehen, da sah er die Hunnen anreiten, ein reisig fröhlich Reitervolk und minder abscheulich als die, gegen die er selber vor wenig Monaten in der Feldschlacht gestanden, und sie nahmen die Königskinder in Franken und Aquitanien als Geiseln mit und jung Hiltgund, die Wonne von Burgund – und wie er stärker die Saiten anschlug, da erschaute er auch den König Etzel, der war ein leidlich Menschenbild, zu Glimpf und Becherfreuden wohl aufgelegt –, und die Königskinder wuchsen an der Hunnen Hofburg auf, und wie sie groß geworden, kam ein stilles Heimatsehnen über sie, und sie gedachten, daß sie von alters einand verlobt – jetzt hub sich ein Klingen und Drommeten, die Hunnen saßen beim Bankett und König Etzel trank den großen Humpen und alle folgten seinem Vorbild, Schlummer trunkener Männer tönte durch die Hallen – jetzt sah er, wie im Mondschein der junge Aquitaner Held das Streitroß waffnete, und Hildegunde kam und brachte den hunnischen Goldschatz, er hub sie in den Sattel – hei! wie prächtig entritten sie der Gefangenschaft ...

Und fern und ferner wogte es noch wie Fährlichkeit und Flucht und Fahrt über den Rhein und schwerer Kampf mit dem habsüchtigen König Gunther: In großen markigen Zügen stund die Geschichte vor ihm, die er in schlichtem Heldengesang zu verherrlichen gedachte. Noch in derselbigen Nacht blieb Ekkehard beim Kienspanlicht sitzen und begann sein Werk, und eine Freude kam über ihn, wie die Gestalten unter seiner Hand Leben annahmen, eine ehrliche große Freude, denn in fröhlicher Arbeit der Dichtung erhebt sich der Mensch zur Tat des Schöpfers, der eine Welt aus dem Nichts hervorgerufen.

Der nächste Tag fand ihn vergnüglich über den ersten Abenteuern, er konnte sich selber nicht Rechenschaft geben,[405] nach welchem Gesetz er die Fäden sei nes Gedichtes ineinanderwob, – es ist auch nicht nötig, von allem das Warum und Weil zu wissen: der Wind wehet, wo er will, und du hörest sein Getöse, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so verhält es sich auch mit jedem, der im Geiste geboren ist – sagt das Evangelium Johannis272.

Und wenn es zwischen ein wieder dunkelte vor den Augen des Geistes und Zagheit ihn beschlich – denn er war ängstlich von Natur und vermeinte noch manchmal, es sei kaum möglich, etwas zustand zu bringen ohne Hilfe von Büchern und gelahrtem Vorbild –, dann wandelte er auf dem schmalen Fußsteig draußen auf und nieder und ließ den Blick auf den Riesenwänden seiner Berge haften, die gaben ihm Trost und Maß und er gedachte: »Bei allem, was ich sing' und dichte, will ich mich fragen, ob's dem Säntis und Kamor drüben recht ist.« Und damit war er auf der rechten Spur: wer von der alten Mutter Natur seine Offenbarung schöpft, dessen Dichtung ist wahr und echt, wenn auch die Leinweber und Steinklopfer und hochverständigen Strohspalter in den Tiefen drunten sie zehntausendmal für Hirngespinst verschreien.

Etliche Tage vergingen in emsigem Schaffen. In lateinischen Vers des Virgilius goß er die Gestalten der Sage, die Pfade deutscher Muttersprache deuchten ihm noch zu rauh und zu wenig geebnet für den gleichmäßig schreitenden Gang des Heldenliedes. Mehr und mehr bevölkerte sich seine Einsamkeit; er gedachte in ununterbrochenem Anlauf Tag und Nacht fort zu arbeiten, aber der leibliche Mensch hat auch sein Recht. Darum sprach er: »Wer arbeitet, soll sein Tagwerk richten nach der Sonne.« Und wenn die Schatten des Abends auf die nachbarlichen Höhen fielen, brach er ab, griff seine Harfe und klomm durch die Höhlenwildnis zur Ebenalp hinauf. Der Platz, wo der erste Gedanke des Sangs in ihm aufgestiegen, war ihm vor allen teuer.

Benedicta freute sich, wie er zuerst mit der Harfe kam. »Ich versteh' Euch, Bergbruder«, sagte sie, »weil Ihr keine[406] Liebste haben dürfet, habt Ihr Euch die Harfe eingetan und sprechet zu der, was Euch das Herz schwellt. Aber umsonst sollt Ihr kein Spielmann geworden sein.«

Sie pfiff durch die Finger und tat einen schönen Lockruf zu der niedern Hütte auf der Klus hinüber, da kam ihr Liebster, der Senn, das Alphorn umgehangen, ein frisches junges Blut, im rechten Ohr trug er den schweren silbernen Ring, des Sennen Ehrenzeichen, die Schlange, die an silbernem Kettlein den schwanken Milchlöffel hält, und um die Lenden glänzte der breite Gürtel, drauf in getriebenem Metall ein kuhähnlich Ungetüm zu schauen war273; scheu neugierig stund er vor Ekkehard, aber Benedicta sprach: »Jetzt spielet uns einen Tanz auf, Bergbruder; wir haben uns schon lang' geärgert, daß wir's nicht selber können, aber wenn er das Alphorn bläst, kann er mich nicht zugleich fassen und lustig umschwingen, und wenn ich die Schwegelpfeife tönen lasse, hab' ich auch keinen Arm frei.«

Und Ekkehard erquickte sich an der gesunden Fröhlichkeit der Kinder vom Berg und griff wacker in die Saiten, und sie tanzten im weichen Gras der Matten, bis der Mond in gelber Schöne sich über die Maarwiese hob, den grüßten sie mit Jauchzen und Zauren274 und tanzten weiter in vergnüglichem Wechselgesang:


»Und das Eis kam gewachsen

Bis zur Alpe daher,

Wie schad' um das Mägdlein,

Wenn's eingefroren wär'!«


summte Benedictas Tänzer in den leichthinschwebenden Reigen;


»Und der Föhn hat geblasen,

Kein Hüttlein mehr steht –

Wie schad' um den Buben,

Wenn's auch ihn hätt' verweht!«


sang sie antwortend in gleicher Tonart. Und wie sie müde vor dem angehenden Dichter ausruhten, sprach Benedicta: »Ihr sollt auch Euern Lohn überkommen, herzlieber Harfeniste. Es geht ein alt Gerede auf unsern Bergen, daß[407] alle hundert Jahr' auf kahlem Hang eine wundersame blaue Blume blühe, und wer die Blume hat, dem steht plötzlich Ein- und Ausgang des Berges offen, drinnen glänzt es mit hellem Schein und die Schätze der Tiefe heben sich zu ihm herauf, davon mag er greifen, so viel sein Herz begehrt, und seinen Hut bis zum Rande füllen. Wenn ich die Blume finde, bring' ich sie Euch, dann werdet Ihr ein steinreicher Mann, ich kann sie doch nicht brauchen« – sie schlang ihren Arm um den jungen Senn – »ich hab' den Schatz schon gefunden.«

Aber Ekkehard sprach: »Ich kann sie auch nicht brauchen!«

Er hatte recht. Wem die Kunst zu eigen ward, der hat die echte blaue Blume: wo für andere Stein und Fels sich auftürmt, tut sich ihm das weite Reich des Schönen auf, dort liegen Schätze, die kein Rost verzehrt, und er ist reicher als die Wechsler und Mäkler und Goldgewaltigen der Welt, wenn auch in seiner Tasche oftmals der Pfennig mit dem Heller betrüblich Hochzeit feiert.

»Ja, was fangen wir dann mit der Wunderblume an?« sprach Benedicta.

»Gib sie den Ziegen zu fressen oder dem großen Stierkalb«, lachte der Senn, »denen ist auch was zu gönnen.«

Und wiederum hoben sie die Füße zum Tanz und schwangen sich im Mondschein, bis Benedictas Vater heraufgestiegen kam. Der hatte nach vollbrachtem Tagewerk den seither von der Sonne gebleichten Schädel des Bären über die niedere Tür seiner Sennhütte genagelt275 und ihm mit einem Tropfstein den Rachen aufgesperrt, daß Ziegen und Kühe scheu vor der neuen Wandverzierung davonliefen.

»Ihr gumpet und ruguset276 ja, daß der Säntis zu wanken und schüttern anhebt«, rief der alte Alpmeister schon von weitem, »was ist das für ein Gelärme?« Gutmütig scheltend trieb er sie in die Hütte.

Das Waltharilied schritt rasch vorwärts. Wenn das Herz erfüllt ist von Sang und Klang, hat die Hand sich zu sputen, dem Flug der Gedanken nachzukommen.[408]

Eines Mittags wollte Ekkehard seinen schmalen Felssteig entlang wandeln: da kam ihm ein sonderbarer Gast entgegen. Es war die Bärin, die er aus dem Schnee gegraben, langsam stieg sie den Pfad herauf, sie trug etwas in der Schnauze. Er sprang zur Höhle zurück und griff seinen Speer, aber die Bärin kam nicht als Feind, achtungsvoll machte sie Halt am Höhleneingang und legte auf die vorspringende Felskante ein fettes Murmeltier, das sie beim Spielen im sonnigen Gras erschnappt. War's ein Geschenk für die Lebensrettung, war's Ausdruck anderweiter Anwandlungen, wer weiß es? Ekkehard hatte freilich mitgeholfen, die sterblichen Reste des Ehgemahls der Verwitibten zu verzehren; – ob dadurch ein Stück Neigung auf ihn übergelenkt werden konnte? – wir kennen die Gesetze der Wahlverwandtschaft zu wenig. Die Bärin setzte sich schüchtern vor der Höhle nieder und schaute unbeweglich hinein! Da ward Ekkehard gerührt, er schob ihr, immer den Speer in der Faust, ein hölzern Schüsselein mit Honig in die Nähe, aber sie schüttelte gekränkt das Haupt, der Blick aus ihren kleinen Augen, denen das Augenlid fehlte, war traurig erheiternd, so daß Ekkehard seine Harfe von der Wand holte und anfing, den Reigen zu spielen, den sich Benedicta von ihm erbeten. Das labte der Verlassenen Gemüt, sie erhob sich und ging aufrecht in rhythmischer Grazie bald vorwärts, bald zurück, und Ekkehard spielte schneller und stürmischer, aber da blickte sie verschämt zur Erde; zu tanzen gestattete ihr dreißigjähriges Bärengewissen nimmer, sie streckte sich wieder wie zuvor vor der Höhle, als wollte sie das Lob verdienen, das der Verfasser des Hymnus zu Ehren des heiligen Gall einst den Bären gezollt, da er sie Tiere von bewundernswerter Bescheidenheit nannte277.

»Wir passen zueinand«, rief Ekkehard, »du hast dein Liebstes im Schnee verloren, ich im Sturm, – ich will dir noch eines harfen.« Er spielte eine wehmütige Weise, des war sie wohl zufrieden und brummte beifällig; er aber, immer seiner Dichtung gedenkend, sprach: »Ich hab' mich heut eine lange Zeit auf den Namen besonnen für[409] die Hunnenkönigin, in deren Obhut jung Hiltgund zu stehen kam, itzt weiß ich ihn: sie soll Ospirin heißen, die ›göttliche Bärin278‹! Verstehst du mich?«

Die Bärin sah ihn an, als wäre sie einverstanden, da griff Ekkehard seine Pergamentblätter und fügte den Namen ein. Das Bedürfnis, einer lebenden Seele die Schöpfung seines Geistes mitzuteilen, war schon lange rege in ihm: hier in der ungeheuern Bergwelt, dachte er, mag auch eine Bärin die Stelle einnehmen, zu der sonst ein gelehrtes Haupt erforderlich wäre, und er trat an sein Blockhaus, und auf den Speer gestemmt, las er der Bärin die Anfänge des Waltharilieds, und las mit lauter Stimme und begeistert, und sie lauschte mit löblicher Ausdauer.

Da las er denn weiter und weiter, wie die Wormser Recken den Walthari verfolgend im Wasgauwald nachritten und an seiner Felsburg mit ihm stritten – noch horchte sie geduldig, aber wie des Einzelkampfes gar kein Ende ward, wie Ekkefrid von Sachsen erschlagen ins Gras sank zu seiner Vorgänger Leichen, und Hadwart und Patafrid, des Hagen Schwestersohn, das Los der Genossen teilten, da erhub sich die Bärin langsam, als wäre selbst ihr des Mordens zuviel für ein lieblich Gedicht, und schritt würdigen Ganges talab.

Auf der Sigelsalp drüben in einsamer Felsritze stund ihre Behausung; dorthin entkletterte sie, sich zum Winterschlaf vorzubereiten.

Das Heldenlied aber, das von allen sterblichen Wesen zuerst die Bärin auf der Sigelsalp vernommen, hat der Schreiber dieses Buches zur Kurzweil an langen Winterabenden in deutschen Reim gebracht, und wiewohl sich schon manch anderer wackerer Verdeutscher derselben Aufgabe beflissen, so darf er's doch im Zusammenhang der Geschichte dem Leser nicht vorenthalten, auf daß er daraus ersehe, wie im zehnten Jahrhundert ebensogut wie in der Folge der Zeiten der Geist der Dichtung sich im Gemüt erlesener Männer eine Stätte zu bereiten wußte.

Fußnoten

A1 Die bei des Abtes Zellen

Sind heidnische Gesellen,

Grobe, ungescheite,

Hochmüt'ge Bauersleute.


Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 3, Leipzig/ Wien 1917.
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