[199] Carlos bleibt allein bei dem Leichnam zurück. Nach einigen Augenblicken erscheint Ludwig Merkado, sieht sich schüchtern um und steht eine Zeitlang stillschweigend hinter dem Prinzen, der ihn nicht bemerkt.
MERKADO.
Ich komme
Von Ihrer Majestät der Königin.
Carlos sieht wieder weg und gibt ihm keine Antwort.
Mein Name ist Merkado – Ich bin Leibarzt
Bei Ihrer Majestät – und hier ist meine
Beglaubigung.
Er zeigt dem Prinzen einen Siegelring – dieser verharrt in seinem Stillschweigen.
Die Königin wünscht sehr,
Sie heute noch zu sprechen – wichtige
Geschäfte –
CARLOS.
Wichtig ist mir nichts mehr
Auf dieser Welt.[199]
MERKADO.
Ein Auftrag, sagte sie,
Den Marquis Posa hinterlassen –
CARLOS steht schnell auf.
Was?
Sogleich.
Er will mit ihm gehen.
MERKADO.
Nein! Jetzt nicht, gnädger Prinz. Sie müssen
Die Nacht erwarten. Jeder Zugang ist
Besetzt und alle Wachen dort verdoppelt.
Unmöglich ist es, diesen Flügel des
Palastes ungesehen zu betreten.
Sie würden alles wagen –
CARLOS.
Aber –
MERKADO.
Nur
Ein Mittel, Prinz, ist höchstens noch vorhanden –
Die Königin hat es erdacht. Sie legt
Es Ihnen vor – Doch es ist kühn und seltsam
Und abenteuerlich.
CARLOS.
Das ist?
MERKADO.
Schon längst
Geht eine Sage, wie Sie wissen, daß
Um Mitternacht in den gewölbten Gängen
Der königlichen Burg, in Mönchsgestalt,
Der abgeschiedne Geist des Kaisers wandle.
Der Pöbel glaubt an dies Gerücht, die Wachen
Beziehen nur mit Schauer diesen Posten.
Wenn Sie entschlossen sind, sich dieser
Verkleidung zu bedienen, können Sie
Durch alle Wachen frei und unversehrt
Bis zum Gemach der Königin gelangen,
Das dieser Schlüssel öffnen wird. Vor jedem Angriff
Schützt Sie die heilige Gestalt. Doch auf
Der Stelle, Prinz, muß Ihr Entschluß gefaßt sein.
Das nötge Kleid, die Maske finden Sie
In Ihrem Zimmer. Ich muß eilen, Ihrer Majestät
Antwort zu bringen.
CARLOS.
Und die Zeit?[200]
MERKADO.
Die Zeit
Ist zwölf Uhr.
CARLOS.
Sagen Sie ihr, daß sie mich
Erwarten könne.
Merkado geht ab.
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