Die Begegnung

Noch seh ich sie, umringt von ihren Frauen,

Die herrlichste von allen stand sie da,

Wie eine Sonne war sie anzuschauen,

Ich stand von fern und wagte mich nicht nah,

Es faßte mich mit wollustvollem Grauen,

Als ich den Glanz vor mir verbreitet sah,

Doch schnell, als hätten Flügel mich getragen,

Ergriff es mich, die Saiten anzuschlagen.


Was ich in jenem Augenblick empfunden

Und was ich sang, vergebens sinn ich nach,

Ein neu Organ hatt ich in mir gefunden,

Das meines Herzens heilge Regung sprach,

Die Seele wars, die, jahrelang gebunden,

Durch alle Fesseln jetzt auf einmal brach

Und Töne fand in ihren tiefsten Tiefen,

Die ungeahnt und göttlich in ihr schliefen.


Und als die Saiten lange schon geschwiegen,

Die Seele endlich mir zurücke kam,

Da sah ich in den engelgleichen Zügen

Die Liebe ringen mit der holden Scham,

Und alle Himmel glaubt' ich zu erfliegen,

Als ich das leise süße Wort vernahm –

O droben nur in selger Geister Chören

Werd ich des Tones Wohllaut wieder hören!


»Das treue Herz, das trostlos sich verzehrt

Und still bescheiden nie gewagt zu sprechen,

Ich kenne den ihm selbst verborgnen Wert,

Am rohen Glück will ich das Edle rächen.

Dem Armen sei das schönste Los beschert,

Nur Liebe darf der Liebe Blume brechen.

Der schönste Schatz gehört dem Herzen an,

Das ihn erwidern und empfinden kann.«


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 217-218,405.
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