Die vier Weltalter

Wohl perlet im Glase der purpurne Wein,

Wohl glänzen die Augen der Gäste,

Es zeigt sich der Sänger, er tritt herein,

Zu dem Guten bringt er das Beste,

Denn ohne die Leier im himmlischen Saal

Ist die Freude gemein auch beim Nektarmahl.


Ihm gaben die Götter das reine Gemüt,

Wo die Welt sich, die ewige, spiegelt,

Er hat alles gesehn, was auf Erden geschieht,

Und was uns die Zukunft versiegelt,

Er saß in der Götter urältestem Rat

Und behorchte der Dinge geheimste Saat.


Er breitet es lustig und glänzend aus,

Das zusammengefaltete Leben,

Zum Tempel schmückt er das irdische Haus,

Ihm hat es die Muse gegeben,

Kein Dach ist so niedrig, keine Hütte so klein,

Er führt einen Himmel voll Götter hinein.


Und wie der erfindende Sohn des Zeus

Auf des Schildes einfachem Runde[417]

Die Erde, das Meer und den Sternenkreis

Gebildet mit göttlicher Kunde,

So drückt er ein Bild des unendlichen All

In des Augenblicks flüchtig verrauschenden Schall.


Er kommt aus dem kindlichen Alter der Welt,

Wo die Völker sich jugendlich freuten,

Er hat sich, ein fröhlicher Wandrer, gesellt

Zu allen Geschlechtern und Zeiten.

Vier Menschenalter hat er gesehn

Und läßt sie am fünften vorübergehn.


Erst regierte Saturnus schlicht und gerecht,

Da war es heute wie morgen,

Da lebten die Hirten, ein harmlos Geschlecht,

Und brauchten für gar nichts zu sorgen,

Sie liebten und taten weiter nichts mehr,

Die Erde gab alles freiwillig her.


Drauf kam die Arbeit, der Kampf begann

Mit Ungeheuern und Drachen,

Und die Helden fingen, die Herrscher an,

Und den Mächtigen suchten die Schwachen,

Und der Streit zog in des Skamanders Feld,

Doch die Schönheit war immer der Gott der Welt.


Aus dem Kampf ging endlich der Sieg hervor,

Und der Kraft entblühte die Milde,

Da sangen die Musen im himmlischen Chor,

Da erhuben sich Göttergebilde!

Das Alter der göttlichen Phantasie,

Es ist verschwunden, es kehret nie.


Die Götter sanken vom Himmelsthron,

Es stürzten die herrlichen Säulen,

Und geboren wurde der Jungfrau Sohn,

Die Gebrechen der Erde zu heilen,[418]

Verbannt ward der Sinne flüchtige Lust,

Und der Mensch griff denkend in seine Brust.


Und der eitle, der üppige Reiz entwich,

Der die frohe Jugendwelt zierte,

Der Mönch und die Nonne zergeißelten sich,

Und der eiserne Ritter turnierte.

Doch war das Leben auch finster und wild,

So blieb doch die Liebe lieblich und mild.


Und einen heiligen, keuschen Altar

Bewahrten sich stille die Musen,

Es lebte, was edel und sittlich war,

In der Frauen züchtigem Busen,

Die Flamme des Liedes entbrannte neu

An der schönen Minne und Liebestreu.


Drum soll auch ein ewiges zartes Band

Die Frauen, die Sänger umflechten,

Sie wirken und weben Hand in Hand

Den Gürtel des Schönen und Rechten.

Gesang und Liebe in schönem Verein,

Sie erhalten dem Leben den Jugendschein.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 417-419,461-462.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (1789-1805)
Gedichte
Sämtliche Gedichte und Balladen
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Don Karlos: Text - Erläuterungen - Materialien. Empfohlen für das 10.-13. Schuljahr: Ein dramatisches Gedicht
Sämtliche Werke, Band 3 von insgesamt 5 Bänden, Ln, Gedichte: Nachdruck der Ausgabe letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke und Handschriften

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Catharina von Georgien

Catharina von Georgien

Das Trauerspiel erzählt den letzten Tag im Leben der Königin von Georgien, die 1624 nach Jahren in der Gefangenschaft des persischen Schah Abbas gefoltert und schließlich verbrannt wird, da sie seine Liebe, das Eheangebot und damit die Krone Persiens aus Treue zu ihrem ermordeten Mann ausschlägt. Gryphius sieht in seiner Tragödie kein Geschichtsdrama, sondern ein Lehrstück »unaussprechlicher Beständigkeit«.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon