Poesie des Lebens

An ***


»Wer möchte sich an Schattenbildern weiden,

Die mit erborgtem Schein das Wesen überkleiden,

Mit trügrischem Besitz die Hoffnung hintergehn?

Entblößt muß ich die Wahrheit sehn.

Soll gleich mit meinem Wahn mein ganzer Himmel schwinden,

Soll gleich den freien Geist, den der erhabne Flug

Ins grenzenlose Reich der Möglichkeiten trug,

Die Gegenwart mit strengen Fesseln binden,

Er lernt sich selber überwinden,[220]

Ihn wird das heilige Gebot

Der Pflicht, das furchtbare der Not

Nur desto unterwürfger finden.

Wer schon der Wahrheit milde Herrschaft scheut,

Wie trägt er die Notwendigkeit?« –


So rufst du aus und blickst, mein strenger Freund,

Aus der Erfahrung sicherm Porte

Verwerfend hin auf alles, was nur scheint.

Erschreckt von deinem ernsten Worte

Entflieht der Liebesgötter Schar,

Der Musen Spiel verstummt, es ruhn der Horen Tänze,

Still traurend nehmen ihre Kränze

Die Schwestergöttinnen vom schön gelockten Haar,

Apoll zerbricht die goldne Leier,

Und Hermes seinen Wunderstab,

Des Traumes rosenfarbner Schleier

Fällt von des Lebens bleichem Antlitz ab,

Die Welt scheint, was sie ist, ein Grab.

Von seinen Augen nimmt die zauberische Binde

Cytherens Sohn, die Liebe sieht,

Sie sieht in ihrem Götterkinde

Den Sterblichen, erschrickt und flieht,

Der Schönheit Jugendbild veraltet,

Auf deinen Lippen selbst erkaltet

Der Liebe Kuß, und in der Freude Schwung

Ergreift dich die Versteinerung.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 200-201,220-221.
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