|
[59] JON.
Sieh, schon bepurpurt des Parnassus Gipfel
Der Frühe Schein, der goldne Sonnenwagen
Erhebt sich glorreich in die blaue Bahn;
Und kaum noch scheuchte den gesunden Schlaf
Des Morgens frischer Hauch mir von den Wimpern:
Drum eifrig an mein Werk, den heil'gen Dienst!
Vor allem aber muß ich dich begrüßen,
Apollo, heitrer Gott! der du von droben
Das milde Licht herab zur Erde sendest,
Und hier im Tempel mit der Weisheit Sprüchen
Die dunkle Brust den Sterblichen erleuchtest.
O küsse meine Stirn mit reinem Strahl,
Du, den Gebieter ich und Vater nenne,
Weil du im Heiligtum mich auferzogst,
Auf daß ich, von der Menschen wüstem Treiben
Ganz unberührt, der Jugend regen Trieb,
Das frohe Leben deinem Dienste weihte,
Hier saug' ich deinen Atem in die Luft,
Und es umfängt mich dieser Haine Schatten
So zärtlich wie dein väterlicher Arm.
Mir schweifen irr und unbestimmt die Wünsche
Nicht in die Ferne: laß nur stets mich weilen
Bei dir, und sei mir wohlgefällig nah,
So hast du mir das schönste Los gewährt.
Ein jeder Tag erneut mir Lieb' und Lust,
Wie täglich frisch gepflückte Zweig' und Kränze[59]
Von deinem ewig grünen Lorbeerbaum
Hier diese Säulen, dieses Tor umwinden.
Schon legten sie die Diener mir bereit.
Wohlauf!
Er nimmt aus einem vor dem Tempel stehenden Korbe Lorbeerkränze und Girlanden, hängt jene an die Türpfosten, und umschlingt mit diesen die Säulen.
So! Nun hat Phöbus' Haus den blüh'nden Schmuck,
Der ihm gebührt: denn, liebt er schon die Pracht
Des Goldes, und die weißen Marmorwände,
An denen weiser Künstler Hand Gestalten
Der Götter kühn und groß herausgebildet,
Ist Daphnes Haar ihm doch vor allem wert.
Nun soll Kastaliens silberklarer Tau,
Von priesterlichen Mägden mit der Dämmrung
Am Felsenborn geschöpft in diesen Krug,
Der Schwelle Zugang reinigend benetzen,
Wie der Gebrauch es fordert, und mein Amt.
Er sprengt aus einem vor dem Tempel stehenden Gefäße.
Auch das geschah. Jetzt kommt, ihr leichten Waffen,
Die nach Apollos Bild ich tragen darf!
Er hängt einen Köcher um, und nimmt den Bogen in die Hand.
Mit euch durchwandl' ich ringsum den Bezirk,
Und wo nur freches lärmendes Gefieder,
Sein Nest zu baun an unerlaubter Stelle,
Die schönen Zierden zu verschänden, naht,
Da trifft sie mein befiedertes Geschoß.
Doch wenn Zeus' Adler aus den Wolken fährt,
Wenn Phöbus' tönender Genoß, der Schwan,
Mit Purpurfüßen durch die Lüfte rudert,
Scheuch' ich nur mit Geräusch sie: denn ich mag
Des Himmels Abgesandte nicht ermorden,
Die vorbedeutend lenken ihren Flug.
Buchempfehlung
Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.
162 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro