Zweiter Auftritt.

[60] Jon. Pythia.


PYTHIA.

Sei mir gegrüßt, mein Jon.

JON.

Mir noch schöner,

Du mütterliches Haupt. So früh schon wach?

PYTHIA.

Mich weckten die Gedanken, die das Alter

Kaum schlummern lassen, wenn der müde Leib

Des tiefen ungestörten Schlafs bedürfte.

Der Tag, der eben lächelnd aufgegangen,

Bewegt für dich mit Rührung mein Gemüt.

JON.

Was bringt der Tag so Ahnungsvolles mit?

PYTHIA.

Heut sind es grade sechzehn Jahr, daß dich

Dein Schicksal meiner Sorge hat vertraut.

JON.

Ich werd' es dankbar preisen immerfort.

PYTHIA.

Ich trat, wie eben jetzt, vor diese Pforte,

Frühmorgens in das Heiligtum zu gehn.

Da fand ich dich hier auf der Schwelle liegend,

Den neugebornen Säugling; zwar in Windeln

Gehüllt, in einem Körbchen wohlverwahrt,

Doch hatte kalter Nachtwind dich durchschauert,[61]

Auch mochtest du wohl manche Stunde lang

Schon nach dem süßen Mutterbusen schmachten:

Du zittertest und weintest.

JON.

Ach ich Armer!

PYTHIA.

Wie? dacht' ich, hat der Dienerinnen eine

Den jungfräulichen Stand entehrt, und schiebt

Die Frucht des üpp'gen Betts, geheimer Lust,

Dem Gotte zu? Und wollte schon gebieten,

Man solle vom geweihten Umkreis dich

Entfernen, und der Wildnis überlassen.

JON.

So wär' ich, wie ein Traumbild nur vom Leben,

Bewußtlos in die Schattenwelt gewandert.

PYTHIA.

Betrachtend hob ich aus dem Korbe dich,

Du zappeltest zu meiner Brust hinan,

Die niemals mütterliche Regung kannte.

Wir Seherinnen müssen einsam leben,

Wir sehn im Alter nicht ein jung Geschlecht

Um uns emporblühn: Göttersprüche nur,

Durch unser Haupt empfangen und geboren,

Sind unsre Söhne, die, wenn wir gestorben,

Noch mächtig, unsichtbar, die Welt durchziehn,

Eingreifend in der Menschen Tun und Wollen.

Wehmut befiel mich, und sie gab mir ein,

Vielleicht vergönne mir für meine Treue

Apoll die süße Zärtlichkeit zu fühlen,

Die eine Mutter an den Säugling knüpft.

Ist doch ein leiblich Kind nur auch geschenkt,[62]

Und in dem Schoße, der es trägt, entfaltet

Geheimnisvoll ist eine höh're Macht,

Wie du vom Himmel in den Arm mir fielest.

So siegte Mitleid über meine Strenge,

Und ich beschloß, als Sohn dich zu erziehn.

JON.

O daß es nimmer dich gereuen möge!

PYTHIA.

Noch hat es nicht. Als Kind umspieltest du

Holdselig, voller Unschuld, die Altäre,

Und wurdest mit dem Heiligsten vertraut.

Nun da du schlank empor zum Jüngling sprossest,

Seh' ich in dir ein mutig frei Gemüt,

Doch still und klar, nicht ungestüm verworren.

So bleib und wachse fort, daß man einst sage:

Zwar keinen Eltern, die zu großer Tat

Ihn rühmlich spornten, hatt' er nachzueifern,

Bei der Geburt schon Waise; doch statt dessen

Hat er an kühner Kraft gehaltnem Maß

Zum hohen Vorbild sich den Gott erwählt,

Als dessen Eigentum er aufgewachsen:

Den Gott, der bald mit Pfeil und Bogen spielt,

Bald mit der Leier allgewaltig trifft.

JON.

Was du ermahnest, wird mir zum Gebet.

Doch wirst du zürnen, teure Pythia?

Ich kann's nicht bergen, daß mir deine Rede

Ein unruhvolles Sehnen hat erregt.

PYTHIA.

Sie sollte nur dich zur Betrachtung leiten.[63]

JON.

Mit g'nügte sonst, in Delphi stets zu wohnen;

Nun drängt mein Wunsch mich in die Welt hinaus.

PYTHIA.

Was hoffst du Beßres jenseit dieser Haine?

JON.

Die mir das Leben gaben, möcht' ich kennen.

PYTHIA.

Wie weckt' ich solch Verlangen deinem Sinn?

JON.

Der Mutter Liebe ließest du mich ahnen.

Unnennbar muß es sein, was sie empfindet,

Wenn an ihr Herz sie den als Jüngling drückt,

Den sie gehegt hat unter ihrem Herzen,

Bevor er Luft und Licht des Himmels trank;

Unnennbar auch des Sohnes Zug zu ihr,

Wenn er der Mutter teuren Leib umfaßt,

Der seiner Kindheit süße Heimat war,

Der Stamm, auf dem er wuchs als blüh'nder Zweig,

Und der mit eignem Leben ihn genährt.

PYTHIA.

Und diese Freude hast du nie gefühlt.

JON.

Vergib dem undankbaren Jon, Mutter,

Der außer dir noch eine Mutter sucht.

PYTHIA.

Ich tadle nicht das kindliche Begehren,

Wär' sie nur dessen wert, die dich gebar.

Versiegt war ihrer Liebe Quelle, wie[64]

Sie dir den Trank aus ihrer Brust versagt,

In bittern Tod hat sie dich ausgestoßen.

JON.

O schilt sie nicht! Wer weiß, welch ein Verhängnis

Die Widerstrebende mit hartem Zwang

Umstrickt, daß sie sich heimlich mir entriß,

Und überstandnes Weh mit neuem häufte.

Doch streb' ich nach der Mutter nicht allein,

An meinem Vater möcht' ich auch hinaufsehn.

Oft hört' ich Fremden mit Entzücken zu,

Die das Orakel zu besuchen kamen,

Wenn sie mir rühmend ihr Geschlecht berichtet.

Sie sprachen stolz der Väter Namen aus,

Beim Angedenken ihrer Taten wallte

Das edle Blut, das sie von jenen erbten,

In ihren Wangen auf. So führten sie

Den Ursprung bis in alte Zeit zurück,

Aus deren Nebel nur Heroenbilder

Mit wunderbarem Glanz der Nachwelt leuchten.

Nicht selten schloß ein Halbgott oder Gott,

Als erster großer Ahnherr ihres Stamms

Sich an die schöne Reihe krönend an.

Wie glücklich muß der sein, der sich verwandt

Dem Würdigsten mit gleichem Anspruch weiß!

PYTHIA.

So manches Gut verliehen dir die Götter,

Vielleicht dies Eine sollst du nicht genießen.

JON.

Sag', hast du keine Spur von meiner Abkunft?

PYTHIA.

Nein, keine die uns näher führen könnte.

Nur so viel glaub' ich sicher einzusehn,[65]

Du kamst auf Delphis Boden nicht zur Welt.

Denn, wenn die Nachbarstadt sie in sich faßte;

In sechzehn Jahren hätte deine Eltern

Doch irgend wohl ein Zeichen mir verraten.

JON.

So ward ich aus der Fremde hergebracht.

PYTHIA.

Von einer Hand, die ganz verborgen blieb.

JON.

Warum befragen wir Apollen nicht?

PYTHIA.

Du könntest hören, was dir nicht gefiele.

JON.

Wem kann's mißfallen, sein Geschlecht zu wissen?

PYTHIA.

Wenn knechtische Geburt dich nun beschämte?

JON.

Sehn denn wie ich der Sklaven Kinder aus?

PYTHIA.

Die Pflege kann des Blutes Art veredeln.

Jetzt bist du einzig deiner Taten Sohn,

Und darfst so mit den Edelsten dich messen.

Doch nicht der Eltern Dienstbarkeit besorg' ich

Und dein Erröten: noch weit unwillkommner

Könnt' ein Orakel deinen Ursprung melden.

Der Sterblichen verworrne Leidenschaften

Kennst du noch nicht, mein Sohn; sie trennen und vereinen,

Was nicht getrennt, was nicht vereint soll sein:[66]

Im Eh'bett lagert sich die Buhlerei,

Und üppig Blut vermischt sich mit sich selber.

Was Wunder, wenn sie solchen Bundes Frucht

Und ihrer finstern Heimlichkeit Verräter,

Gewaltsam, fühllos, auszusetzen eilen?

JON.

Doch sollte, wer verbrecherisch ein Kind

Erzeugt, dem Gott es darzubieten wagen?

PYTHIA.

Mit dem Verbrechen stirbt die Scham vor Göttern,

So wie die Furcht vor Menschen erst erwacht.

JON.

Weh! welchen Zweifel wirfst du mir entgegen,

Woher vielleicht mein Leben sich entsponnen!

PYTHIA.

Was deine Tat nicht war, darf dich nicht kümmern,

Bewahrst du um so reiner nur dich selbst.

JON.

Allein bis dieser nachtgewebte Schleier

Von meiner Herkunft weggehoben wird,

Muß ich als Fremdling fern von Menschen stehn,

Und kann mich nicht in ihre Kreise traulich

Verschlingen: ich vernahm mit Schaudern wohl,

Wie sich Unwissenheit des eignen Stamms

In Haß und Liebe schrecklich hat verirrt.

Es kann ein Sohn den nicht erkannten Vater

In raschem Zorn erschlagen, und als Braut

Bei Hymens Fackeln heim die Schwester führen.

Was sichert mich, den Findling ohne Namen,

Vor unfreiwill'gem Frevel gleicher Art?[67]

PYTHIA.

Apollos Lieb' und seines Tempels Dienst.

Erwart' in Ruh, bis die bestimmte Zeit

Die Knoten deines Schicksals lösen wird,

Denn Vorwitz könnte sie noch fester schürzen.


Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Ausgewählte Werke. Berlin 1922, S. 60-68.
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