Siebenter Auftritt.

[82] Kreusa, Xuthus mit Gefolge.


XUTHUS.

Ich komme, teure Gattin, eilig nach,

Damit dich mein Verweilen nicht bekümmre.

KREUSA.

Was bringst du von dem unterird'schen Seher,

Bei dem ich ungern dich zurückgelassen?

XUTHUS.

Kehr' mit mir heim: noch ist kein Schritt getan,

Noch lockten wir aus unsrer Zukunft Höhle,

Indem wir da nach Segensschätzen forschen,

Des grausen Unheils Drachen nicht hervor,

Der drinnen schläft, und uns den Zugang wehrt.

KREUSA.

Versteh' ich recht? wir sollten Delphi wieder

So unverrichteten Geschäfts verlassen?

Wie hat sich plötzlich dein Entschluß verändert?[82]

XUTHUS.

Glaub' mir, uns frommt am besten, gleich zu gehn.

KREUSA.

Wie soll ich's, bis du mich belehrt, warum?

XUTHUS.

Noch bin ich ganz verstört, und sammle kaum

Die schweifenden Gedanken zum Bericht.

Nicht daß mir die Erinnrung wär' entschwunden:

Denn als ich aus dem Schoß des Abgrunds kam,

Hat mich der Stuhl Mnemosynes empfangen,

Und was mir erst vorschwebte, steht unwandelbar

In düstrer Deutlichkeit vor meiner Seele.

Nachdem ich in der felsgehau'nen Grotte

Der Weihung letzte Bräuche noch vollbracht,

Streckt' ich die Füße durch den dunklen Eingang,

Woraus die Unterwelt zu atmen scheint.

Abhängig wie ein jäher Wassersturz

Riß es hinab mich, auf dem Rücken liegend,

In rascher Eil und unermeßlich weit.

Bewegungslos erwartend lag ich drunten,

Ich sah noch nichts, ich hörte nur Gezisch,

Und wunderbare Stimmen aus der Tiefe.

Die Klagetöne schienen bald in Wirbeln

Zu steigen, sich zu sondern und gestalten,

So bebten mir Erscheinungen vorüber,

Angstvoll, doch unbegriffen. Kinder winselnd,

Dann flieh'nde Weiber mit zerstreuten Haaren,

Ein Jüngling, wild nach ihrem Busen zielend,

Und, was am meisten mich mit Schauder füllte,

Ein Schattenpaar, das zärtlich sich umarmte,

Umstrickten Furien ungesehn mit Schlangen.

Dazwischen starrten mich Gorgonenhäupter

Hohnlachend an, aus allen Sinnen scheuchend.[83]

Ich wollt' an Heil und Leben schon verzweifeln,

Als zu mir trat ein Mann von ernstem Anblick,

Fast wie der Helfer Äskulap gebildet,

Von Bart ehrwürdig und von hoher Stirn,

Auf seinen Zauberstab die Rechte lehnend,

Trophonius war es, und er sprach also:


Nicht vorgreif' ich dem delphischen Sitz und dem Seher Apollo;

Aber hüte dich, Xuthus, daß, deinem Geschlecht nachstrebend,

Nicht du den Fall des Geschlechtes erwirbst und des Hauses Zerrüttung.


Kaum hatt' er seine Weissagung gesprochen,

So ward ich wiederum emporgerückt,

In gleicher Bahn und Weise, nur das Haupt

Noch rückwärts nach den frost'gen Schatten hangend,

Bis sich des Himmels Wölbung wieder auftat.

Nun weißt du's: folge meinem Rat, Kreusa!

Es bleibe das Orakel unbefragt.

KREUSA.

Und wir in unserm kinderlosen Stand.

XUTHUS.

Weit besser, als von Grund aus untergehn.

KREUSA.

Ein unerfreulich Leben gleicht dem Tode.

XUTHUS.

Doch selbst den Tod kann Unglück bitter machen.

KREUSA.

Wir haben an den Göttern nicht gefrevelt,

Laß' uns doch prüfen, wie sie's mit uns meinen.[84]

Ein großes Gut steht uns vielleicht bevor,

Was nur der unterird'schen Mächte Neid

Durch leere Schrecknis zu verlarven strebt,

Damit wir der verhängnisvollen Urne

Mißtrauisch nimmer nahen sollen, oder

Mit banger Hand fehlgreifen unser Los.

Ja, laß' uns wagen, glücklich sein zu wollen.

Entfernt noch, zagt' ich oft vor dem Versuch,

Doch jetzt umfängt mich hell die Gegenwart.

Der Tempel, diese Pforte, diese Säulen,

Sie scheinen gastfrei uns hereinzuladen,

Ein flüsternd Säuseln regt sich durch den Hain

Als Vorgesang beseligender Sprüche.

Der Tag ist heiter, und die Zeichen günstig:

Auf zu dem heil'gen Dreifuß! komm, o komm!

XUTHUS.

Du überredest mich beinah, zerstreust

Durch deines Muts Begeistrung mir das Grausen,

Womit der nächtliche Prophet mich schreckte.

KREUSA.

Es war nur die Betäubung von den Dünsten,

Die Blendung von den Schatten jener Gruft:

Hier scheucht sie von der Stirn der Lüfte Schmeicheln,

Der Gruß des Lichtes von dem klaren Auge.

Was wagen wir? Und alles zu gewinnen,

Wär', alles dran zu wagen, nicht zu viel.

Wir wollen mutig hoffen, brünstig beten:

Ich will Latonen noch ein Opfer bringen,

Daß bei dem Sohn die Mutter für mich spreche;

Geh du indes zur Pythia hinein.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Ausgewählte Werke. Berlin 1922, S. 82-85.
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