Sechster Auftritt.

[81] KREUSA.

Welch schuldlos rein Gemüt des blüh'nden Knaben!

Ihm konnt' ich ohn' Erröten mich vertrau'n.

In diesem Alter wäre jetzt mein Sohn,

Wenn die Harpyien nicht vom Angesicht

Der Erd' ihn grausam weggerissen hätten.

Doch, wenn er unverhofft sich wieder fände,

Und gliche diesem hier an holdem Wesen,

An schöner Leibsgestalt und freiem Mut:

Gern wollt' ich ihn vor aller Welt erkennen

Und kühnlich sagen: »Seht den Sohn Apolls!

Wer kann das Götterblut in ihm bezweifeln?«

Aus meiner lange heimlich glüh'nden Scham

Würd' er hervorgehn, wie die Sonne herrlich

Des Morgens Purpurwolken überstrahlt,

Die stolze neidenswerte Schuld zu segnen.[81]

Heut sind es sechzehn Jahr seit jener Nacht,

Als ich von ihm wie von mir selbst mich trennte,

Und heut muß unser Schicksal sich entscheiden.

Wozu bedarf's Umschweife noch? geheimes

Befragen des Orakels? Wenn Apoll

Auf mein und des Gemahls gemeinsam Wort

Mir keine Spur gibt von dem Schmerzenskinde,

So ist es längst dahin; und er verleugnet's

Wie er es ließ verderben: und dann hab' ich

Nichts zu verlieren mehr, und nichts zu hoffen.


Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Ausgewählte Werke. Berlin 1922, S. 81-82.
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