|
[131] Kreusa, Jon.
JON.
Vergeblich alles! Jede schroffe Spitze
Hab' ich erklommen, stieg in jede Schluft hinab,[131]
Kein zweifelhaft Gebüsch und Dickicht ließ
Ich undurchspäht: und nirgends ihre Spur!
Verschlang die Erde sie? hat sie verzweifelnd
Von des Parnassus Gipfeln sich gestürzt
In nnermeß'nen Abgrund? oder hat
Der Himmlischen mir einer die Verfolgung
Vereitelt, um die Straf' ihr abzuwenden?
Doch seh' ich recht? Sie ist's. – Kreusa, höre!
Dich ruf' ich, dich.
KREUSA sich aufrichtend.
Was soll ich noch vernehmen?
JON.
Ich heiße diese Stätte dich verlassen.
KREUSA.
Als Schutzgenossin faßt' ich den Altar.
JON.
Errötest du nicht vor des Tempels Stirn?
KREUSA.
Eh sollte Phöbus wohl vor mir erröten.
JON.
Du fügst zum Frevel noch den Übermut.
KREUSA.
Und dich verblendet unbelehrte Jugend.
JON.
So jung ich bin, erkenn' ich doch das Recht.
KREUSA.
Denkst du an mir es durch Gewalt zu üben?[132]
JON.
Fort von geweihter Stätte, noch einmal!
KREUSA.
Nicht einem Knecht gehorcht die Königin.
JON.
Doch reinem Priesterwort die Mordbefleckte.
KREUSA.
Mit welchem Morde hätt' ich mich befleckt?
JON.
Mit meinem, wandt' es anders nicht der Gott.
KREUSA.
Du siehst, er beut auch der Verfolgten Zuflucht.
JON.
So willst du nicht freiwillig sie verlassen?
KREUSA.
Heil oder Tod trifft mich entschlossen hier.
JON.
Ich reiße dich mit stärkerm Arm herab.
KREUSA.
Wie schön der Tempeldiener seinen Herrn doch ehrt!
JON.
Nun wohl: auch dort ereilet dich mein Pfeil.
KREUSA.
Der Fleh'nden Blut wird den Altar besudeln.[133]
JON.
Es wird ihm als willkommnes Opfer fließen.
KREUSA.
Ich bin bereit. Jetzt naht sich mein Verhängnis.
Lisch, Sonnenlicht, mir aus! Empfange mich
Nie aufgehelltes Dunkel, Nacht des Erebus!
Sie verhüllt sich.
JON.
Ihr, hohe Parzen, lenket meine Hand.
Tritt zurück und legt einen Pfeil an den Bogen.
Buchempfehlung
Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro