Epochen der Dichtkunst

[290] Wo irgend lebendiger Geist in einem gebildeten Buchstaben gebunden erscheint, da ist Kunst, da ist Absonderung, Stoff zu überwinden, Werkzeuge zu gebrauchen, ein Entwurf und Gesetze der Behandlung. Darum sehn wir die Meister der Poesie sich mächtig bestreben, sie auf das vielseitigste zu bilden. Sie ist eine Kunst, und wo sie es noch nicht war, soll sie es werden, und wenn sie es wurde, erregt sie gewiß in denen die sie wahrhaft lieben, eine starke Sehnsucht, sie zu erkennen, die Absicht des Meisters zu verstehen, die Natur des Werks zu begreifen, den Ursprung der Schule, den Gang der Ausbildung zu erfahren. Die Kunst ruht auf dem Wissen, und die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte.

Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer höher ins Altertum zurück, bis zur ersten ursprünglichen Quelle.

Für uns Neuere, für Europa liegt diese Quelle in Hellas, und für die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein[290] mächtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fülle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die älteste Poesie in flüssiger Gestalt.

Um zwei verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedränge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fülle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Glück einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese ursprüngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir »Ilias« und »Odyssee« nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesängen der gleichen Zeit für die Nachwelt zu bleiben.

In dem Gewächs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Blüten und Zweige der Pflanze treten unbegreiflich schön aus der Nacht des Altertums hervor. Dieses reizend gebildete Chaos ist der Keim, aus welchem die Welt der alten Poesie sich organisierte.

Die epische Form verdarb schnell. Statt dessen erhob sich, auch bei den Joniern, die Kunst der Jamben, die im Stoff und in der Behandlung der grade Gegensatz der mythischen Poesie, und eben darum der zweite Mittelpunkt der hellenischen Poesie war, und an und mit ihr die Elegie, welche sich fast ebenso mannichfach verwandelte und umgestaltete wie das Epos.

Was Archilochus war, muß uns außer den Bruchstücken, Nachrichten und Nachbildungen des Horatius in den Epoden, die Verwandtschaft der Komödie des Aristophanes und selbst die entferntere der römischen Satire vermuten lassen. Mehr haben wir nicht, die größte Lücke in der Kunstgeschichte auszufüllen. Doch leuchtet es jedem der nachdenken will, ein, wie es ewig im Wesen der höchsten Poesie liege, auch in heiligen Zorn auszubrechen, und ihre volle Kraft an dem fremdesten Stoff, der gemeinen Gegenwart zu äußern.[291]

Dieses sind die Quellen der hellenischen Poesie, Grundlage und Anfang. Die schönste Blüte umfaßt die melischen, chorischen, tragischen und komischen Werke der Dorer, Äolier und Athener von Alkman und Sappho bis zum Aristophanes. Was uns aus dieser wahrhaft goldenen Zeit in den höchsten Gattungen der Poesie übrig geblieben ist, trägt mehr oder minder einen schönen oder großen Styl, die Lebenskraft der Begeisterung und die Ausbildung der Kunst in göttlicher Harmonie.

Das Ganze ruht auf dem festen Boden der alten Dichtung, eins und unteilbar durch das festliche Leben freier Menschen und durch die heilige Kraft der alten Götter.

Die melische Poesie schloß sich mit ihrer Musik aller schönen Gefühle zunächst an die jambische, in welcher der Drang der Leidenschaft, und die elegische, in welcher der Wechsel der Stimmung im Spiel des Lebens so lebendig erscheinen, daß sie für den Haß und die Liebe gelten können, durch welche das ruhige Chaos der Homerischen Dichtung bewegt ward zu neuen Bildungen und Gestaltungen. Die chorischen Gesänge hingegen neigten sich mehr zum heroischen Geist des Epos, und trennten sich ebenso einfach nach dem Übergewicht von gesetzlichem Ernst oder heiliger Freiheit in der Verfassung und Stimmung des Volks. Was Eros der Sappho eingab, atmete Musik; und wie die Würde des Pindaros gemildert wird durch den fröhlichen Reiz gymnastischer Spiele, so ahmten die Dithyramben in ihrer Ausgelassenheit auch wohl die kühnsten Schönheiten der Orchestik nach.

Stoff und Urbilder fanden die Stifter der tragischen Kunst im Epos, und wie dieses aus sich selbst die Parodie entwickelte, so spielten dieselben Meister, welche die Tragödie erfanden, in Erfindung satyrischer Dramen.

Zugleich mit der Plastik entstand die neue Gattung, ihr ähnlich in der Kraft der Bildung und im Gesetz des Gliederbaus.

Aus der Verbindung der Parodie mit den alten Jamben und als Gegensatz der Tragödie entsprang die Komödie, voll der höchsten Mimik die nur in Worten möglich ist.[292]

Wie dort Handlungen und Begebenheiten, Eigentümlichkeit und Leidenschaft, aus der gegebnen Sage zu einem schönen System harmonisch geordnet und gebildet wurden, so ward hier eine verschwenderische Fülle von Erfindung als Rhapsodie kühn hingeworfen, mit tiefem Verstand im scheinbaren Unzusammenhang.

Beide Arten des attischen Drama griffen aufs wirksamste ins Leben ein, durch ihre Beziehung auf das Ideal der beiden großen Formen, in denen das höchste und einzige Leben, das Leben des Menschen unter Menschen erscheint. Den Enthusiasmus für die Republik finden wir beim Äschylos und Aristophanes, ein hohes Urbild schöner Familie in den heroischen Verhältnissen der alten Zeit liegt dem Sophokles zum Grunde.

Wie Äschylos ein ewiges Urbild der harten Größe und des nicht ausgebildeten Enthusiasmus, Sophokles aber der harmonischen Vollendung ist: so zeigt schon Euripides jene unergründliche Weichlichkeit, die nur dem versunkenen Künstler möglich ist, und seine Poesie ist oft nur die sinnreichste Deklamation.

Diese erste Masse hellenischer Dichtkunst, das alte Epos, die Jamben die Elegie, die festlichen Gesänge und Schauspiele; das ist die Poesie selbst. Alles, was noch folgt, bis auf unsre Zeiten, ist Überbleibsel Nachhall, einzelne Ahndung, Annäherung, Rückkehr zu jenem höchsten Olymp der Poesie.

Die Vollständigkeit nötigt mich zu erwähnen, daß auch die ersten Quellen und Urbilder des didaskalischen Gedichts, die wechselseitigen Übergänge der Poesie und der Philosophie in dieser Blütezeit der alten Bildung zu suchen sind: in den naturbegeisterten Hymnen der Mysterien in den sinnreichen Lehren der gesellig sittlichen Gnome, in den allumfassenden Gedichten des Empedokles und andrer Forscher, und etwa in den Symposien, wo das philosophische Gespräch und die Darstellung desselben ganz in Dichtung übergeht.[293]

Solche einzig große Geister wie Sappho, Pindaros, Äschylos, Sophokles, Aristophanes kamen nicht wieder; aber noch gabs genialische Virtuosen wie Philoxenos, die den Zustand der Auflösung und Gärung bezeichnen, welcher den Übergang von der großen idealischen zur zierlichen gelehrten Poesie der Hellenen bildet. Ein Mittelpunkt für diese war Alexandrien. Doch nicht hier allein blühte ein klassisches Siebengestirn tragischer Dichter; auch auf der attischen Bühne glänzte eine Schar von Virtuosen, und wenn gleich die Dichtkünstler in allen Gattungen Versuche in Menge machten, jede alte Form nachzubilden oder umzugestalten, so war es doch die dramatische Gattung vor allen, in welcher sich die noch übrige Erfindungskraft dieses Zeitalters durch eine reiche Fülle der sinnreichsten und oft seltsamen neuen Verbindungen und Zusammensetzungen zeigte, teils im Ernst, teils zur Parodie. Doch blieb es auch wohl in dieser Gattung beim Zierlichen, Geistvollen, Künstlichen, wie in den andern, unter denen wir nur das Idyllion, als eine eigentümliche Form dieses Zeitalters erwähnen; eine Form, deren Eigentümliches aber fast nur im Formlosen besteht. Im Rhythmus und manchen Wendungen der Sprache und Darstellungsart folgt es einigermaßen dem epischen Styl; in der Handlung und im Gespräch den dorischen Mimen von einzelnen Szenen aus dem geselligen Leben in der lokalsten Farbe; im Wechselgesange den kunstlosen Liedern der Hirten; im erotischen Geist gleicht es der Elegie und dem Epigramm dieser Zeit, wo dieser Geist selbst in epische Werke einfloß, deren viele jedoch fast nur Form waren, wo der Künstler in der didaskalischen Gattung zu zeigen suchte, daß seine Darstellung auch den schwierigsten trockensten Stoff besiegen könne; in der mythischen hingegen, daß man auch den seltensten kenne, und auch den ältesten ausgebildetsten neu zu verjüngen und feiner umzubilden wisse; oder in zierlichen Parodien mit einem nur scheinbaren Objekt spielte. Überhaupt ging die Poesie dieser Zeit entweder auf die Künstlichkeit der Form, oder auf den sinnlichen Reiz des Stoffs, der selbst in der neuen attischen Komödie herrschte; aber das Wollüstigste ist verloren.[294]

Nachdem auch die Nachahmung erschöpft war, begnügte man sich neue Kränze aus den alten Blumen zu flechten, und Anthologien sind es welche die hellenische Poesie beschließen.

Die Römer hatten nur einen kurzen Anfall von Poesie, während dessen sie mit großer Kraft kämpften und strebten, sich die Kunst ihrer Vorbilder anzueignen. Sie erhielten dieselben zunächst aus den Händen er Alexandriner; daher herrscht das Erotische und Gelehrte in ihren Werken, und muß auch, was die Kunst betrifft, der Gesichtspunkt bleiben, sie zu würdigen. Denn der Verständige läßt jedes Gebildete in seiner Sphäre, und beurteilt es nur nach seinem eignen Ideale Zwar erscheint Horatius in jeder Form interessant, und einen Menschen von dem Wert dieses Römers würden wir vergeblich unter den spätern Hellenen suchen, aber dieses allgemeine Interesse an ihm selbst ist mehr ein romantisches als ein Kunsturteil, welches ihn nur in der Satire hoch stellen kann. Eine herrliche Erscheinung ists wenn die römische Kraft mit der hellenischen Kunst bis zur Verschmelzung eins wird. So bildete Properitus eine große Natur durch die gelehrteste Kunst; der Strom inniger Liebe quoll mächtig aus seiner treuen Brust. Er darf uns über den Verlust hellenischer Elegiker trösten, wie Lukretius über den des Empedokles.

Während einiger Menschenalter wollte alles dichten in Rom und jeder glaubte, er müsse die Musen begünstigen und ihnen wieder aufhelfen; und das nannten sie ihre goldne Zeit der Poesie. Gleichsam die taube Blute in der Bildung dieser Nation. Die Modernen sind ihnen darin gefolgt; was unter Augustus und Mäcenas geschah, war eine Vorbedeutung auf die Cinquecentisten Italiens. Ludwig der Vierzehnte versuchte denselben Frühling des Geistes in Frankreich zu erzwingen, auch die Engländer kamen überein, den Geschmack unter der Königin Anna für den besten zu halten, und keine Nation wollte fernerhin ohne ihr goldnes Zeitalter bleiben; jedes folgende war leerer und schlechter noch als das vorhergehende, und was sich die Deutschen als golden eingebildet haben, verbietet die Würde dieser Darstellung näher zu bezeichnen.

Ich kehre zurück zu den Römern. Sie hatten, wie gesagt, nur einen Anfall von Poesie, die ihnen eigentlich stets widernatürlich blieb. Einheimisch[295] war bei ihnen nur die Poesie der Urbanität, und mit der einzigen Satire haben sie das Gebiet der Kunst bereichert. Es nahm dieselbe unter jedem Meister eine neue Gestalt an, indem sich der große alte Styl der römischen Geselligkeit und des römischen Witzes bald die klassische Kühnheit des Archilochos und der alten Komödie aneignete, bald aus der sorglosen Leichtigkeit eines Improvisatore zur saubersten Eleganz eines korrekten Hellenen bildete, bald mit stoischem Sinn und im gediegensten Styl zur großen alten Weise der Nation zurückkehrte, bald sich der Begeisterung des Hasses überließ. Durch die Satire erscheint in neuem Glanz, was noch von der Urbanität der ewigen Roma im Catullus lebt, im Martialis, oder sonst einzeln und zerstreut. Die Satire gibt uns einen römischen Standpunkt für die Produkte des römischen Geistes.

Nachdem die Kraft der Poesie so schnell erloschen als zuvor gewachsen war, nahm der Geist der Menschen eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedränge der alten und der neuen Welt, und über ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Okzident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bei den Römern gerichtlichen Geschäften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populäre Vorlesungen über allerlei Philosophie. Man begnügte sich, die alten Schätze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukürzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalität, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Künstler, kein klassisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie müssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Rücksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter.

Mit den Germaniern strömte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang über Europa, und als die wilde Kraft der gotischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den[296] reizenden Wundermärchen des Orients zusammentraf, blühte an der südlichen Küste gegen das Mittelmeer ein fröhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesänge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen lateinischen Legende auch die weltliche Romanze, von Liebe und von Waffen singend.

Die katholische Hierarchie war unterdessen ausgewachsen; die Jurisprudenz und die Theologie zeigte manchen Rückweg zum Altertum. Diesen betrat, Religion und Poesie verbindend, der große Dante, der heilige Stifter und Vater der modernen Poesie. Von den Altvordern der Nation lernte er das Eigenste und Sonderbarste, das Heiligste und das Süßeste der neuen gemeinen Mundart zu klassischer Würde und Kraft zusammenzudrängen, und so die provenzalische Kunst der Reime zu veredeln; und da ihm nicht bis zur Quelle zu steigen vergönnt war, konnten ihm auch Römer den allgemeinen Gedanken eines großen Werkes von geordnetem Gliederbau mittelbar anregen. Mächtig faßte er ihn, in Einen Mittelpunkt drängte sich die Kraft seines erfindsamen Geistes zusammen, in Einem ungeheuren Gedicht umfaßte er mit starken Armen seine Nation und sein Zeitalter, die Kirche und das Kaisertum, die Weisheit und die Offenbarung, die Natur und das Reich Gottes. Eine Auswahl des Edelsten und des Schändlichsten was er gesehn, des Größten und des Seltsamsten, was er ersinnen konnte; die offenherzigste Darstellung seiner selbst und seiner Freunde, die herrlichste Verherrlichung der Geliebten; alles treu und wahrhaftig im Sichtbaren und voll geheimer Bedeutung und Beziehung aufs Unsichtbare.

Petrarca gab der Kanzone und dem Sonett Vollendung und Schönheit. Seine Gesänge sind der Geist seines Lebens, und Ein Hauch beseelt und bildet sie zu Einem unteilbaren Werk; die ewige Roma auf Erden und Madonna im Himmel als Wiederschein der einzigen Laura in seinem Herzen versinnlichen und halten in schöner Freiheit die geistige Einheit des ganzen Gedichts. Sein Gefühl hat die Sprache der Liebe gleichsam erfunden, und gilt nach Jahrhunderten noch bei allen Edlen, wie Boccaccios Verstand eine unversiegbare Quelle merkwürdiger meistens wahrer und sehr gründlich ausgearbeiteter Geschichten für die Dichter jeder Nation stiftete, und durch kraftvollen Ausdruck und großen Periodenbau die Erzählungs-Sprache der Konversation zu einer soliden Grundlage[297] für die Prosa des Romans erhob. So streng in der Liebe Petrarcas Reinheit, so materiell ist Boccaccios Kraft, der es lieber wählte, alle reizende Frauen zu trösten, als eine zu vergöttern. In der Kanzone durch fröhliche Anmut und geselligen Scherz nach dem Meister neu zu sein, gelang ihm glücklicher als diesem, in der Vision und Terzine dem großen Dante ähnlich zu werden.

Diese drei sind die Häupter vom alten Styl der modernen Kunst; ihren Wert soll der Kenner verstehn, dem Gefühl des Liebhabers bleibt grade das Beste und Eigenste in ihnen hart oder doch fremd.

Aus solchen Quellen entsprungen, konnte bei der vorgezogenen Nation der Italiäner der Strom der Poesie nicht wieder versiegen. Jene Erfinder zwar ließen keine Schule sondern nur Nachahmer zurück: dagegen entstand schon früh ein neues Gewächs. Man wandte die Form und Bildung der nun wieder zur Kunst gewordnen Poesie auf den abenteuerlichen Stoff der Ritterbücher an, und so entstand das Romanzo der Italiäner, ursprünglich schon zu geselligen Vorlesungen bestimmt, und die altertümlichen Wundergeschichten durch einen Anhauch von geselligem Witz und geistiger Würze zur Groteske laut oder leise verwandelnd. Doch ist dieses Groteske selbst im Ariosto, der das Romanzo wie Boiardo mit Novellen, und nach dem Geist seiner Zeit mit schönen Blüten aus den Alten schmückte, und in der Stanze eine hohe Anmut erreichte, nur einzeln, nicht im Ganzen, das kaum diesen Namen verdient. Durch diesen Vorzug und durch seinen hellen Verstand steht er über seinem Vorgänger; die Fülle klarer Bilder und die glückliche Mischung von Scherz und Ernst macht ihn zum Meister und Urbilde in leichter Erzählung und sinnlichen Fantasien. Der Versuch, das Romanzo durch einen würdigen Gegenstand und durch klassische Sprache zur antiken Würde der Epopöe zu erheben, das man sich als ein großes Kunstwerk aller Kunstwerke für die Nation, und nach seinem allegorischen Sinn noch besonders für die Gelehrten dachte, blieb, so oft er auch wiederholt wurde, nur ein Versuch, der den rechten Punkt nicht treffen konnte. Auf einem andern ganz neuen, aber nur einmal anwendbaren Wege gelang es dem Guarini, im »Pastor Fido«, dem größten ja einzigen Kunstwerke der Italiäner nach jenen Großen, den romantischen Geist und die[298] klassische Bildung zur schönsten Harmonie zu verschmelzen, wodurch er auch dem Sonett neue Kraft und neuen Reiz gab.

Die Kunstgeschichte der Spanier, die mit der Poesie der Italiäner aufs innigste vertraut waren, und die der Engländer, deren Sinn damals für das Romantische, was etwa durch die dritte vierte Hand zu ihnen gelangte, sehr empfänglich war, drängt sich zusammen in die von der Kunst zweier Männer, des Cervantes und Shakespeare, die so groß waren daß alles übrige gegen sie nur vorbereitende, erklärende, ergänzende Umgebung scheint. Die Fülle ihrer Werke und der Stufengang ihres unermeßlichen Geistes wäre allein Stoff für eine eigne Geschichte. Wir wollen nur den Faden derselben andeuten, in welche bestimmte Massen das Ganze zerfällt, oder wo man wenigstens einige feste Punkte und die Richtung sieht.

Da Cervantes zuerst die Feder statt des Degens ergriff, den er nicht mehr führen konnte, dichtete er die »Galatea«, eine wunderbar große Komposition von ewiger Musik der Fantasie und der Liebe, den zartesten und lieblichsten aller Romane; außerdem viele Werke, so die Bühne beherrschten, und wie die göttliche »Numancia« des alten Kothurns würdig waren. Dieses war die erste große Zeit seiner Poesie; ihr Charakter war hohe Schönheit, ernst aber lieblich.

Das Hauptwerk seiner zweiten Manier ist der erste Teil des »Don Quixote«, in welchem der fantastische Witz und eine verschwenderische Fülle kühner Erfindung herrschen. Im gleichen Geist und wahrscheinlich auch um dieselbe Zeit dichtete er auch viele seiner Novellen, besonders die komischen. In den letzten Jahren seines Lebens gab er dem herrschenden Geschmack im Drama nach, und nahm es aus diesem Grunde zu nachlässig; auch im zweiten Teil des »Don Quixote« nahm er Rücksicht auf Urteile; es blieb ihm ja doch frei, sich selbst zu genügen, und diese an die erste überall angebildete Masse des einzig in zwei getrennten und aus zweien verbundenen Werks, das hier gleichsam in sich selbst zurückkehrt mit unergründlichem Verstand in die tiefste Tiefe auszuarbeiten. Den großen »Persiles« dichtete er mit sinnreicher Künstlichkeit in einer ernsten, dunkeln Manier nach seiner Idee vom Roman des Heliodor; was er noch dichten wollte, vermutlich in der Gattung des Ritterbuchs und des dramatisierten Romans, so wie den zweiten Teil der »Galatea« zu vollenden, verhinderte ihn der Tod.[299]

Vor Cervantes war die Prosa der Spanier im Ritterbuch auf eine schöne Art altertümlich, im Schäferroman blühend, und ahmte im romantischen Drama das unmittelbare Leben in der Sprache des Umgangs scharf und genau nach. Die lieblichste Form für zarte Lieder, voll Musik oder sinnreicher Tändelei, und die Romanze, gemacht um mit Adel und Einfalt edle und rührende alte Geschichten ernst und treu zu erzählen, waren von altersher in diesem Lande einheimisch. Weniger war dem Shakespeare vorgearbeitet; fast nur durch die bunte Mannichfaltigkeit der engländischen Bühne, für die bald Gelehrte, bald Schauspieler, Vornehme und Hofnarren arbeiteten, wo Mysterien aus der Kindheit des Schauspiels oder altenglische Possen mit fremden Novellen, mit vaterländischen Historien und andern Gegenständen wechselten: in jeder Manier und in jeder Form, aber nichts was wir Kunst nennen dürften. Doch war es für den Effekt und selbst für die Gründlichkeit ein glücklicher Umstand, daß früh schon Schauspieler für die Bühne arbeiteten, die doch durchaus nicht auf den Glanz der äußern Erscheinung berechnet war, und daß im historischen Schauspiel die Einerleiheit des Stoffs, den Geist des Dichters und des Zuschauers auf die Form lenken mußte.

Shakespeares frühste Werke1 müssen mit dem Auge betrachtet werden, mit welchem der Kenner die Altertümer der italiänischen Malerkunst verehrt. Sie sind ohne Perspektive und andre Vollendung, aber gründlich, groß und voll Verstand, und in ihrer Gattung nur durch die Werke aus der schönsten Manier desselben Meisters übertroffen. Wir rechnen dahin den »Locrinus«, wo der höchste Kothurn in gotischer Mundart mit der derben altenglischen Lustigkeit grell verbunden ist, den göttlichen »Perikles«, und andre Kunstwerke des einzigen Meisters, die der Aberwitz seichter Schriftgelehrten ihm gegen alle Geschichte abgesprochen, oder die Dummheit derselben nicht anerkannt hat. Wir[300] setzen, daß diese Produkte früher sind als der »Adonis« und die »Sonette«, weil keine Spur darin ist von der süßen lieblichen Bildung, von dem schönen Geist, der mehr oder minder in allen spätern Dramen des Dichters atmet, am meisten in denen der höchsten Blüte. Liebe, Freundschaft und edle Gesellschaft wirkten nach seiner Selbstdarstellung eine schöne Revolution in seinem Geiste; die Bekanntschaft mit den zärtlichen Gedichten des bei den Vornehmen beliebten Spenser gab seinem neuen romantischen Schwunge Nahrung, und dieser mochte ihn zur Lektüre der Novellen führen, die er mehr als zuvor geschehn war, für die Bühne mit dem tiefsten Verstande umbildete, neu konstruierte und fantastisch reizend dramatisierte. Diese Ausbildung floß nun auch auf die historischen Stücke zurück, gab ihnen mehr Fülle, Anmut und Witz, und hauchte allen seinen Dramen den romantischen Geist ein, der sie in Verbindung mit der tiefen Gründlichkeit am eigensten charakterisiert, und sie zu einer romantischen Grundlage des modernen Drama konstituiert, die dauerhaft genug ist für ewige Zeiten.

Von den zuerst dramatisierten Novellen erwähnen wir nur den »Romeo« und »Love's Labour's Lost«, als die lichtesten Punkte seiner jugendlichen Fantasie, die am nächsten an »Adonis« und die »Sonette« grenzen. In drei Stücken von »Heinrich dem Sechsten« und »Richard dem Dritten« sehn wir einen stetigen Übergang aus der ältern noch nicht romantisierten Manier in die große. An diese Masse adstruierte er die von »Richard dem Zweiten« bis »Heinrich dem Fünften«; und dieses Werk ist der Gipfel seiner Kraft. Im »Macbeth« und »Lear« sehn wir die Grenzzeichen der männlichen Reife und der »Hamlet« schwebt unauflöslich im Übergang von der Novelle zu dem was diese Tragödien sind. Für die letzte Epoche erwähnen wir den »Sturm«, »Othello« und die römischen Stücke; es ist unermeßlich viel Verstand darin, aber schon etwas von der Kälte des Alters.[301]

Nach dem Tode dieser Großen erlosch die schöne Fantasie in ihren Ländern. Merkwürdig genug bildete sich nun sogleich die bis dahin roh gebliebene Philosophie zur Kunst, erregte den Enthusiasmus herrlicher Männer und zog ihn wieder ganz an sich. In der Poesie dagegen gab es zwar vom Lope de Vega bis zum Gozzi manche schätzbare Virtuosen, aber doch keine Poeten, und auch jene nur für die Bühne. Übrigens wuchs die Fülle der falschen Tendenzen in allen gelehrten und populären Gattungen und Formen immer mehr. Aus oberflächlichen Abstraktionen und Räsonnements, aus dem mißverstandenen Altertum und dem mittelmäßigen Talent entstand in Frankreich ein umfassendes und zusammenhängendes System von falscher Poesie, welches auf einer gleich falschen Theorie der Dichtkunst ruhete; und von hier aus verbreitete sich diese schwächliche Geisteskrankheit des sogenannten guten Geschmackes fast über alle Länder Europas. Die Franzosen und die Engländer konstituierten sich nun ihre verschiedenen goldenen Zeitalter, und wählten sorgfältig als würdige Repräsentanten der Nation im Pantheon des Ruhms ihre Zahl von Klassikern aus Schriftstellern, die sämtlich in einer Geschichte der Kunst keine Erwähnung finden können.

Indessen erhielt sich doch auch hier wenigstens eine Tradition, man müsse zu den Alten und zur Natur zurückkehren, und dieser Funken zündete bei den Deutschen, nachdem sie sich durch ihre Vorbilder allmählig durchgearbeitet hatten. Winckelmann lehrte das Altertum als ein Ganzes betrachten, und gab das erste Beispiel, wie man eine Kunst durch die Geschichte ihrer Bildung begründen solle. Goethes Universalität gab einen milden Widerschein von der Poesie fast aller Nationen und Zeitalter; eine unerschöpflich lehrreiche Suite von Werken, Studien, Skizzen, Fragmenten, Versuchen in jeder Gattung und in den verschiedensten Formen. Die Philosophie gelangte in wenigen kühnen Schritten[302] dahin, sich selbst und den Geist des Menschen zu verstehen, in dessen Tiefe sie den Urquell der Fantasie und das Ideal der Schönheit entdecken, und so die Poesie deutlich anerkennen mußte, deren Wesen und Dasein sie bisher auch nicht geahndet hatte. Philosophie und Poesie, die höchsten Kräfte des Menschen, die selbst zu Athen jede für sich in der höchsten Blüte doch nur einzeln wirkten, greifen nun ineinander, um sich in ewiger Wechselwirkung gegenseitig zu beleben und zu bilden. Das Übersetzen der Dichter und das Nachbilden ihrer Rhythmen ist zur Kunst und die Kritik zur Wissenschaft geworden, die alte Irrtümer vernichtet und neue Aussichten in die Kenntnis des Altertums eröffnet, in deren Hintergrunde sich eine vollendete Geschichte der Poesie zeigt.

Es fehlt nichts, als daß die Deutschen diese Mittel ferner brauchen, daß sie dem Vorbilde folgen, was Goethe aufgestellt hat, die Formen der Kunst überall bis auf den Ursprung erforschen, um sie neu beleben oder verbinden zu können, und daß sie auf die Quellen ihrer eignen Sprache und Dichtung zurückgehn, und die alte Kraft, den hohen Geist wieder frei machen, der noch in den Urkunden der vaterländischen Vorzeit vom Liede der »Nibelungen« bis zum Flemming und Weckherlin bis jetzt verkannt schlummert: so wird die Poesie, die bei keiner modernen Nation so ursprünglich ausgearbeitet und vortrefflich erst eine Sage der Helden, dann ein Spiel der Ritter, und endlich ein Handwerk der Bürger war, nun auch bei eben derselben eine gründliche Wissenschaft wahrer Gelehrten und eine tüchtige Kunst erfindsamer Dichter sein und bleiben.


Camilla. Sie haben die Franzosen ja fast gar nicht erwähnt.

Andrea. Es ist ohne besondre Absicht geschehn; ich fand eben keine Veranlassung.

Antonio. Er hätte an dem Beispiel der großen Nation wenigstens zeigen können, wie man eine sein kann, ohne alle Poesie.

[303] Camilla. Und darstellen wie man ohne Poesie lebt.

Ludoviko. Er hat mir durch diese Tücke auf eine indirekte Art mein polemisches Werk über die Theorie der falschen Poesie vorwegnehmen wollen.

Andrea. Es wird nur auf Sie ankommen, so habe ich, was Sie tun wollen nur leise angekündigt.

Lothario. Da Sie bei Erwähnung der Übergänge aus Poesie in Philosophie und aus Philosophie in Poesie, des Plato als Dichter erwähnten, wofür die Muse Ihnen lohne, horchte ich nachher auch auf den Namen des Tacitus. Diese durchgebildete Vollendung des Styls, diese gediegene und helle Darstellung, die wir in den großen Historien des Altertums finden, sollte dem Dichter ein Urbild sein. Ich bin überzeugt, dieses große Mittel ließe sich noch gebrauchen.

Marcus. Und vielleicht ganz neu anwenden.

Amalia. Wenn das so fortgeht, wird sich uns, ehe wirs uns versehen, eins nach dem andern in Poesie verwandeln. Ist denn alles Poesie?

Lothario. Jede Kunst und jede Wissenschaft die durch die Rede wirkt, wenn sie als Kunst um ihrer selbst willen geübt wird, und wenn sie den höchsten Gipfel erreicht, erscheint als Poesie.

Ludoviko. Und jede, die auch nicht in den Worten der Sprache ihr Wesen treibt, hat einen unsichtbaren Geist, und der ist Poesie.

Marcus. Ich stimme in vielen ja fast in den meisten Punkten mit Ihnen überein. Nur wünschte ich, Sie hätten noch mehr Rücksicht auf die Dichtarten genommen; oder um mich besser auszudrücken, ich wünschte, daß eine bestimmtere Theorie derselben aus Ihrer Darstellung hervorginge.

Andrea. Ich habe mich in diesem Stück ganz in den Grenzen der Geschichte halten wollen.[304]

Ludoviko. Sie könnten sich immerhin auch auf die Philosophie berufen. Wenigstens habe ich noch in keiner Einteilung den ursprünglichen Gegensatz der Poesie so wiedergefunden, als in Ihrer Gegeneinanderstellung der epischen und der jambischen Dichtungsart.

Andrea. Die doch nur historisch ist.

Lothario. Es ist natürlich, daß wenn die Poesie auf eine so große Weise entsteht, wie in jenem glücklichen Lande, sie sich auf zwiefache Art äußert. Sie bildet entweder eine Welt aus sich heraus, oder sie schließt sich an die äußre, welches im Anfang nicht durch Idealisieren sondern auf eine feindliche und harte Art geschehen wird. So erkläre ich mir die epische und die jambische Gattung.

Amalia. Mich schauderts immer, wenn ich ein Buch aufschlage, wo die Fantasie und ihre Werke rubrikenweise klassifiziert werden.

Marcus. Solche verabscheuungswürdige Bücher wird Ihnen niemand zumuten zu lesen. Und doch ist eine Theorie der Dichtarten grade das, was uns fehlt. Und was kann sie anders sein als eine Klassifikation, die zugleich Geschichte und Theorie der Dichtkunst wäre?

Ludoviko. Sie würde uns darstellen wie und auf welche Weise die Fantasie eines – erdichteten Dichters, der, als Urbild, der Dichter aller Dichter wäre, sich kraft ihrer Tätigkeit durch diese selbst notwendig beschränken und teilen muß.

Amalia. Wie kann aber dieses künstliche Wesen zur Poesie dienen?

Lothario. Sie haben bis jetzt eigentlich wenig Ursache, Amalia, über dergleichen künstliches Wesen bei Ihren Freunden zu klagen. Es muß noch ganz anders kommen, wenn die Poesie wirklich ein künstliches Wesen werden soll.

Marcus. Ohne Absonderung findet keine Bildung statt, und Bildung ist das Wesen der Kunst. Also werden Sie jene Einteilungen wenigstens als Mittel gelten lassen.

[305] Amalia. Diese Mittel werfen sich oft zum Zweck auf, und immer bleibt es ein gefährlicher Umweg, der gar zu oft den Sinn für das Höchste tötet, ehe das Ziel erreicht ist.

Ludoviko. Der rechte Sinn läßt sich nicht töten.

Amalia. Und welche Mittel zu welchem Zweck? Es ist ein Zweck, den man nur gleich oder nie erreichen kann. Jeder freie Geist sollte unmittelbar das Ideal ergreifen und sich der Harmonie hingeben, die er in seinem Innern finden muß, sobald er sie da suchen will.

Ludoviko. Die innere Vorstellung kann nur durch die Darstellung nach außen, sich selbst klarer und ganz lebendig werden.

Marcus. Und Darstellung ist Sache der Kunst, man stelle sich wie man auch wolle.

Antonio. Nun so sollte man die Poesie auch als Kunst behandeln. Es kann wenig fruchten, sie in einer kritischen Geschichte so zu betrachten, wenn die Dichter nicht selbst Künstler und Meister sind, mit sichern Werkzeugen zu bestimmten Zwecken auf beliebige Weise zu verfahren.

Marcus. Und warum sollten sie das nicht? Freilich müssen sie es und werden es auch. Das Wesentlichste sind die bestimmten Zwecke, die Absonderung wodurch allein das Kunstwerk Umriß erhält und in sich selbst vollendet wird. Die Fantasie des Dichters soll sich nicht in eine chaotische Überhauptpoesie ergießen, sondern jedes Werk soll der Form und der Gattung nach einen durchaus bestimmten Charakter haben.

Antonio. Sie zielen schon wieder auf Ihre Theorie der Dichtarten. Wären Sie nur erst damit im reinen.

Lothario. Es ist nicht zu tadeln, wenn unser Freund auch noch so oft darauf zurückkommt. Die Theorie der Dichtungsarten würde die eigentümliche Kunstlehre der Poesie sein. Ich habe oft im einzelnen bestätigt gefunden, was ich im allgemeinen schon wußte: daß die Prinzipien des Rhythmus und selbst der gereimten Sylbenmaße musikalisch sind; was in der Darstellung von Charakteren, Situationen, Leidenschaften das Wesentliche, Innere ist, der Geist, dürfte in den bildenden und zeichnenden Künsten einheimisch sein. Die Diktion selbst, obgleich sie[306] schon unmittelbarer mit dem eigentümlichen Wesen der Poesie zusammenhängt, ist ihr mit der Rhetorik gemein. Die Dichtungsarten sind eigentlich die Poesie selbst.

Marcus. Auch mit einer bündigen Theorie derselben bliebe noch vieles zu tun übrig, oder eigentlich alles. Es fehlt nicht an Lehren und Theorien, daß und wie die Poesie eine Kunst sein und werden solle. Wird sie es aber dadurch wirklich? – Dies könnte nur auf dem praktischen Wege geschehn, wenn mehre Dichter sich vereinigten eine Schule der Poesie zu stiften, wo der Meister den Lehrling wie in andern Künsten tüchtig angriffe und wacker plagte, aber auch im Schweiß seines Angesichts ihm eine solide Grundlage als Erbschaft hinterließe, auf die der Nachfolger dadurch von Anfang an im Vorteil nun immer größer und kühner fortbauen dürfte, um sich endlich auf der stolzesten Höhe frei und mit Leichtigkeit zu bewegen.

Andrea. Das Reich der Poesie ist unsichtbar. Wenn ihr nur nicht auf die äußre Form seht, so könnt ihr eine Schule der Poesie in ihrer Geschichte finden, größer als in irgendeiner andern Kunst. Die Meister aller Zeiten und Nationen haben uns vorgearbeitet, uns ein ungeheures Kapital hinterlassen. Dies in der Kürze zu zeigen, war der Zweck meiner Vorlesung.

Antonio. Auch unter uns und ganz in der Nähe fehlt es nicht an Beispielen, daß ein Meister, vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen,[307] den Nachfolgern gewaltig vorarbeitet. Wenn Voßens eigne Gedichte längst aus der Reihe der Dinge verschwunden sind, wird sein Verdienst als Übersetzer und Sprachkünstler, der eine neue Gegend mit unsäglicher Kraft und Ausdauer urbar gemacht, um so heller glänzen, je mehr seine vorläufigen Arbeiten durch nachfolgende, bessere übertroffen werden, weil man dann einsehn wird, daß diese nur durch jene möglich gemacht worden waren.

[308] Marcus. Bei den Alten gab es auch im eigentlichsten Sinne Schulen der Poesie. Und ich will es nicht leugnen, ich hege die Hoffnung, daß dies noch möglich sei. Was ist wohl ausführbarer, und was zugleich wünschenswürdiger, als ein gründlicher Unterricht in der metrischen Kunst? Aus dem Theater kann gewiß nicht eher etwas Rechtes werden, bis ein Dichter das Ganze dirigiert, und viele in einem Geiste dafür arbeiten. Ich deute nur auf einige Wege zur Möglichkeit, meine Idee auszuführen. Es könnte in der Tat das Ziel meines Ehrgeizes sein, eine solche Schule zu vereinigen, und so wenigstens einige Arten und einige Mittel der Poesie in einen gründlichen Zustand zu bringen.

[309] Amalia. Warum wieder nur Arten und Mittel? – Warum nicht die ganze eine und unteilbare Poesie? – Unser Freund kann gar nicht von seiner alten Unart lassen; er muß immer sondern und teilen, wo doch nur das Ganze in ungeteilter Kraft wirken und befriedigen kann. Und ich hoffe, Sie werden doch Ihre Schule nicht so ganz allein stiften wollen?

Camilla. Sonst mag er auch sein eigner Schüler bleiben, wenn er allein der Meister sein will. Wir wenigstens werden uns auf die Art nicht in die Lehre geben.

Antonio. Nein gewiß, Sie sollen nicht von einem einzelnen allein despotisiert werden, liebe Freundin; wir müssen Sie alle nach Gelegenheit belehren dürfen. Wir wollen alle Meister und Schüler zugleich sein, bald dieses bald jenes wie es sich trifft. Und mich wird wohl das letzte am häufigsten treffen. Doch wäre ich gleich dabei, ein Schutz- und Trutzbündnis von und für die Poesie einzugehn, wenn ich nur die Möglichkeit einer solchen Kunstschule derselben einsehn könnte.

Ludoviko. Die Wirklichkeit würde das am besten entscheiden.

Antonio. Es müßte zuvor untersucht und ins reine gebracht werden, ob sich Poesie überhaupt lehren und lernen läßt.

Lothario. Wenigstens wird es ebenso begreiflich sein, als daß sie überhaupt durch Menschenwitz und Menschenkunst aus der Tiefe ans Licht gelockt werden kann. Ein Wunder bleibt es doch; ihr mögt euch stellen wie ihr wollt.

Ludoviko. So ist es. Sie ist der edelste Zweig der Magie, und zur Magie kann der isolierte Mensch sich nicht erheben; aber wo irgend Menschentrieb durch Menschengeist verbunden zusammenwirkt, da regt sich magische Kraft. Auf diese Kraft habe ich gerechnet; ich fühle den geistigen Hauch wehen in der Mitte der Freunde; ich lebe nicht in Hoffnung[310] sondern in Zuversicht der neuen Morgenröte der neuen Poesie. Das übrige hier auf diesen Blättern, wenn es jetzt Zeit ist.

Antonio. Lassen Sie uns hören. Ich hoffe, wir finden in dem was Sie uns geben wollen, einen Gegensatz für Andreas Epochen der Dichtkunst. So können wir dann eine Ansicht und eine Kraft als Hebel für die andre gebrauchen, und über beide desto freier und eingreifender disputieren, und wieder auf die große Frage zurückkommen, ob sich Poesie lehren und lernen läßt.

Camilla. Es ist gut, daß Ihr endlich ein Ende macht. Ihr wollt eben alles in die Schule nehmen und seid nicht einmal Meister über die Redensarten, die Ihr führt; so daß ich nicht übel Lust hätte, mich zur Präsidentin zu konstituieren und Ordnung im Gespräch zu schaffen.

Antonio. Nachher wollen wir Ordnung halten, und im Notfalle an Sie appellieren. Jetzt lassen Sie uns hören.

Ludoviko. Was ich Euch zu geben habe und was mir sehr an der Zeit schien, zur Sprache zu bringen, ist eine

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Über die sogenannten unechten Stücke von Shakespeare und die Beweise ihrer Echtheit dürfen wir den Freunden des Dichters eine ausführliche Untersuchung von Tieck versprechen, dessen gelehrte Kenntnis und originelle Ansicht derselben die Aufmerksamkeit des Verfassers zuerst auf jene interessante kritische Frage lenkte.

Quelle:
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 290-311.
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