Gesang der Erinnerung

[353] Uralte Riesenzeiten,

Der Helden Wunderstreiten,

Schlang all' die Öd' hinab.

Verschollen ist die Klage,

Verstummt die graue Sage,

Es deckt uns all' ein Grab.


Vom Winterschlaf umwunden,

Viel tausend Jahr' gebunden,

Dämmert der Mensch so fort.

Gebannt in engem Kreise,

Mühsam die ird'sche Reise,

Erstirbt zuletzt das Wort.


Wenn Morgenrot erscheinet,

Nacht uns der Braut vereinet,

Neu grünt der alte Bund;

In heil'ge Flut versenket,

Der Geist die Wunder denket,

Öffnet sich bald der Mund.


In Frühlings Glut und Schatten,

Wo Lieb' und Tod sich gatten,

Erwacht die kühne Lust;

Da brechen hohe Lieder,

Die alten Quellen wieder,

Aus der befreiten Brust.


Nun öffnen sich die Zeichen;

Es mag das Licht erreichen,

Den keine Fessel hält.

Die Erde blüht verwandelt,

Der trunkne Dichter wandelt

In sel'ger Geisterwelt.


Erstaunt ob dem Gesange,

Horchet dem Fremdlingsklange,

Vergessend Leid und Schmach,

Nun frei der Mensch von Schmerzen,

Und zieht in tiefem Herzen

Dem mag'schen Strome nach.[354]


Doch bald ist der verklungen,

Wie brausend er geschwungen,

Und wieder stumm das Grab.

Es flammt das Lied vergebens,

Der wüste Sturm des Lebens

Reißt es in Öd' herab.


Das sind die alten Klänge,

Helden- und Klaggesänge

Aus ferner Riesenzeit.

Dem Liede muß gelingen,

Sie wieder uns zu bringen,

Der Retter ist nicht weit.

Der Frühling wird erstehen,

Es muß noch einst geschehen,

Was alle prophezeit.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 353-355.
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