1. Eingang

Wann Morgenröt sich zieret

Mit zartem Rosenglanz,

Wann sittsam sich verlieret

Der nächtlich' Sternentanz,


Gleich lüstet mich spazieren

Im grünen Lorbeerwald,

Da lieblich musizieren

Die Stimmlein mannigfalt.


Die flügelreichen Scharen,

Das Federvölklein zart,

Im süßen Sang erfahren,

Noch Kunst noch Atem spart.


Mit Schnäblein wohl geschliffen

Sie klingen wunderfein,

In Lüften munter schiffen

Mit leichten Ruderlein.


Der dichte Wald ertönet

Von ihrem lauten Sang,

Mit Stauden stolz gekrönet

Die Berge geben Klang.


Die Bächlein krumm geflochten,

Auch rieselnd stimmen ein,

Von Steinlein angefochten,

Gar lieblich sausen drein.


Doch süßer noch erklinget

Ein sonders Vögelein;

Es seinen Sang vollbringet

Bei Mond- und Sonnenschein.


Trutz Nachtigall mit Namen

Es nunmehr wird genannt,

Und es den Wild' und Zahmen

Obsieget unbekannt.[437]


Trutz Nachtigall man's nennet

Ist wund vom süßen Pfeil,

In Lieb' es lieblich brennet,

Wird nie der Wunden heil.


Geld, Pomp und Pracht auf Erden,

Die Lüste es verspott't,

Die achtet's für Beschwerden,

Nur suchend seinen Gott.


Es singet aller Orten

Von Gott und Gottes Sohn,

Und zu den Himmelspforten

Verweiset's jeden Ton.


Von Baum zu Baume springet,

Durchstreichet Berg und Tal,

In Feld und Wäldern singet,

Weiß nicht der Lieder Zahl.


Es flieget auf und nieder,

Verwechselt Ort und Luft.

Bald findet man es wieder

Betrübt an finstrer Kluft.


Bald frisch und freudig schwebend

Hoch mit der süßen Lerch',

Gott lobend und umgebend

Den trauervollen Berg.


Auch wieder da nicht bleibet,

Hebt sich in Wind hinein;

In leerer Luft es treibet

Mit schwankem Flügelein.


Mit ihm will mich erschwingen

Und manchem schwebend ob,

Den Lorbeerkranz erringen

In deutschem Gotteslob.


Dem Leser nicht verdrieße

Der Zeit und Stunden lang,

Hoff' ihm es wohl ersprieße

Zu gleichem Lobgesang.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 435-438.
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