11. Christus ein Hirt

[457] Des Himmels Bot' von oben

Durch Luft und Wolken drang,

Und freudig, unverschoben,

So zu den Hirten sang:


Auf, auf, nun anzubeten

Das golden schöne Kind;

Auf, auf, zur Hirtenmetten,

Du frommes Feldgesind.


Auf, eilend auf zur Krippen,

Zum kleinen Schäferlein,

Küßt ihm die Purpurlippen,

Das Purpurmündelein.


Küßt ihm die Rosenwangen,

Die Winterblümelein,

So trotz dem Frühling prangen,

Mag es gleich Winter sein.


Das Kindlein halb erfroren,

Doch auch nicht minder brinnt,

Im herben Frost geboren

Es Feu'r im Busen find't.[457]

Lind hebet's nur in Armen,

Und preist es mit Verstand:

Bald wird es euch erwarmen

Mit süßem Herzensbrand.


Es liebet Schaf' und Hirten

Das Hirtenkindelein,

Es leitet her von Hirten

Den Stand und Stammen sein.


Ein Lämmlein auch ohn' Flecken

Es führt in seinem Schild,

Samt einem Hirtenstecken,

Gar zierlich abgebild't.


O wohl dem schönen Hirten,

Dem künft'gen Hirten gut,

Ach, ach, mich in Begierden

Der Zeit verlangen tut.


Alsdann er wird erwecken

Und treiben auf zu Feld,

Mit sanftem Hirtenstecken

Die Völker aller Welt.


Ja er wird seinen Stecken

Den Sonnenstrahlen gleich,

All überall erstrecken

In alle Land' und Reich.


Alsdann mit schönem Frieden

Die schöne Welt gekrönt,

Wird sehn ununterschieden

Die Tiere all' versöhnt.


Mit wilden Löw' und Bären

Gleich werden in gemein,

Aus einer Krippe zehren

Die zarten Lämmerlein.


Auf einem Grund und Wasen,

Zur schönen Sommerblüh,

Mit Wölfen werden grasen

Die Kinder, Schaf' und Küh'.


Es wird an Tann' und Linden,

An Buch'- und Eschenlaub,

Sich häufig lassen finden

Wohl manche süße Traub'.[458]


Es wird von Eichenbäumen

Gepreßt der Honig lind,

Und wie sich's kaum läßt träumen,

Das Öl vom Felsen rinnt.


Erd', Himmel wird sich wenden,

In Wesen aller neu,

All' ihre Schätz' verschwenden

Gar häufig ohne Scheu.


Ohn' Untergang wird schweben

Die Sonn' im klaren Brand,

Der Winter sich begeben

Zur Wüsten unbekannt.


Der Frühling wird sich schmucken

Und werden mit Gewalt,

Zur Erden außen gucken

Die Blümlein tausendfalt.


Es werden gehn herunter

Lustwandeln immerdar,

Im ew'gen Sommer munter

Die Wasserbächlein klar.


Auf, auf dann, anzubeten

Das golden schöne Kind,

Auf, auf, zur Hirtenmetten,

Du frommes Feldgesind.


Ihr frommen Schäferscharen,

Zusamt der weißen Zucht,

Euch nun soll widerfahren

Das Heil, so lang gesucht.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 457-459.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon