19. Totenlied

[468] Es ist ein Schnitter, der heißt Tod;

Hat Gewalt vom höchsten Gott.

Heut wetzt er das Messer,[468]

Es schneid't schon viel besser,

Bald wird er drein schneiden,

Wir müssen's nur leiden.

Hüt dich schönes Blümelein!


Was heut noch grün und frisch da steht,

Wird morgen schon hinweg gemäht;

Die edlen Narzissen,

Die Zierde der Wiesen,

Die schön' Hyacinthen,

Die türkischen Binten.

Hüt dich schönes Blümelein!


Viel hunderttausend ungezählt,

Was unter seiner Sichel fällt;

Ihr Rosen, ihr Lilien,

Euch wird er vertilgen;

Auch die Kaiserkronen

Wird er nicht verschonen.

Hüt dich schönes Blümelein!


Das himmelfarbne Ehrenpreis,

Die Tulipane gelb und weiß,

Die silbernen Glocken,

Die goldenen Flocken,

Sinkt alles zur Erden,

Wie soll es noch werden?

Hüt dich schönes Blümelein!


Lavendel hübsch und Rosmarein,

Vielfarbige Röselein,

Ihr stolzen Schwertlilien,

Ihr krausen Basilien,

Ihr zarten Violen,

Bald wird er euch holen.

Hüt dich schönes Blümelein!


Trotz Tod! komm her, ich fürcht' dich nit,

Eil, eil nur her, in einem Schnitt.

Wann du mich verletzet,

So werd' ich versetzet

In himmlischen Garten,

Auf den all' wir warten.

Freu dich schönes Blümelein!


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 468-469.
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