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[466] Willkommen, süße Nachtigall,
Kommst mir zur rechten Stunde;[466]
Durchdring' die Luft mit rechtem Schall,
Klag', ruf aus tiefem Grunde.
Ruf ihn, ruf ihn, o Schwesterlein,
Den Liebsten zu mir lade;
Hilf treulich mir, sieh meine Pein,
Wie ich in Tränen bade.
Ach Schwester mein, sing süß und rein,
Den Liebsten ruf mit Namen;
Dann kurz, dann lang, zieh den Gesang,
All' Töne nimm zusammen.
Scheint wohl, sie mich verstanden hat,
Die Meisterin in Wälden;
Ihr's allbereit geht wohl von Statt,
Die Tönlein schon sich melden.
Nun noch einmal, mit starkem Schall
Sie den Gesang erhebet,
Weil Widerhall, aus grünem Tal
Freundlich entgegen strebet.
Die Nachtigall den Schall nicht kennt,
Sie hält's für ihr Gespielen;
Verwundert sich, wie sie behend
So gleichen Ton erzielen.
Erst bleibt sie stumm, schlägt wiederum,
Denkt ihr bald obzusiegen;
Doch Widerhall, mit gleichem Schall,
Kein Tönlein läßt verschwiegen.
Nun steiget auf die Nachtigall,
Hoch auf je mehr und mehre;
Gleich folget auch der Widerhall,
Wann's schon noch höher wäre.
So recht, geliebte Nachtigall,
Du jenem Schall nicht weiche;
So recht, du treuer Widerhall,
Dich stets mit ihr vergleiche.
Zur schönen Wett', nun beide tret',
Laßt Jesu Nam' erklingen;
Wann schon im Streit der Schwächste heut
Den Tod sich müßt' erringen.[467]
Nun hoch und immer höher schlägt
Nachtigall reich an Stimmen;
Doch Widerhall, so fort erregt,
Weiß ihr wohl nachzuklimmen.
Nun sammelt Atem sie und Blut
In diesem schönen Kriege,
Will noch mit letzter Kraft und Mut
Im einz'gen Liede siegen.
Ach da bricht ihr das mut'ge Herz,
Gesang und Ton verschwinden,
So wie die helle leuchtend' Kerz'
Erlischt im heft'gen Winde.
O muntre Kerz', o mutig Herz!
Wohl, bist du gleich gestorben,
Die Lorbeerkron, im letzten Ton,
Du dennoch hast erworben.
Weil du ein Seufzerlein gar zart
Im Tod hast lassen klingen,
So sanft, daß es dein Widerpart
Mit nichten mocht' erzwingen.
Verzage nicht, dein ist der Sieg,
Das Kränzlein dir gebühret;
Für dich allein, von Blümelein
Hab ich's schon fein gezieret.
Ade, geliebte Nachtigall,
Vom bleichen Tod entfärbet;
Nun liegst du da im grünen Tal,
Sag, wer dein Stimmlein erbet?
Könnt' es nicht sein, es würde mein?
O Gott, könnt' ich es erben!
Wollt' singen stät, so früh als spät,
Bis im Gesang tät sterben.
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