22. Spiegel der Liebe

[472] Die reine Sonn' zu Morgen

In goldnen Haaren bloß,

Den Brand noch trug verborgen

In ihrem Purpurschoß.


Da fand ich schon bei Zeiten

Am Grab im Trauren stehn,

Und Salben wohl bereiten

Die weinend' Magdalen.


Gleich wie, wann je zuweilen

Zur Frühlings-Morgenzeit,

Die goldnen Sonnenpfeilen

Die erste Hitz' verbreit',


Herab von Berg' und Rainen,

Von Felsen hoch und jäh,

Zerfleußt in sanftes Weinen

Der lind entlaßne Schnee.


So eben unverdrossen

Das Weib von Lieb' verwund't,

In Tränen ganz zerflossen

In tiefem Trauren stund.


Begierd' mit heißen Pfeilen

Ihr beide Augen schmelzt,[472]

Ohn' Unterlaß mit Eilen

Die hellen Tröpflein wälzt.


O weh der schwachen Seelen,

O weh dem Herzen wund!

Die Lieb' nicht konnt' verhehlen,

Sie sprach aus Herzensgrund.


»O Sonn' heb dich mit Machten,

Zum Grabe herwärts leucht;

Auf, auf, genug der Nachten,

Der Tag zu lang verzeucht.


Leucht mir mit deinen Strahlen,

Leucht mir zum finstern Grab;

Ach, ob ich wohl der Qualen

Mögt' heute kommen ab?« –


Sie hin zum Felsen gehet

Sucht mit den Augen drein,

Die Klüfte sie durchspähet,

Da wurd' ihr größre Pein.


Den Liebsten sie nicht findet,

Statt seiner sie ersehn

(Mut ihr und Sinn entschwindet)

Nur seiner Engeln zween.


Ach nicht, nicht euch ihr Knaben,

Ihr Jüngling' flügelreich;

Ach euch will sie nicht haben,

Weicht schöne Engel gleich!


Nur Jesu, nur den einen

Sucht einzig sie allein,

Sonst sucht und liebt sie keinen,

Ohn' ihn sie nicht kann sein.


Voll Eifer ohn' Verweilen

Sie rufet ihn zur Stund',

Ist tief mit bittern Pfeilen

Im Innersten verwund't.


Am Grab von allen Seiten

Sucht sie wohl hie und dort,

Schaut nah und in der Weiten,

Find't ihn an keinem Ort.[473]


Verwirrt, von Schmerz zerrissen,

Hat sie es nicht bedacht,

Und konnt' es jetzt nicht wissen,

Wen sie zu suchen tracht'.


Geblendet in dem Streben,

Ganz leidvoll wie sie ist,

Sucht sie im Grab das Leben,

Des Zweckes ganz vergißt.


Sie sucht in toten Kohlen

Den purpurschönen Glanz,

Von welkem Zweig will holen

Sie grünen Lorbeerkranz.


Sie Rosen will von Reben,

Von Dornen lesen Wein,

Von Scherben Gold erheben,

Vom Schatten klaren Schein.


O Weib, so gar verblendet

So ganz von Lieb' entäugt;

Das Wort bleibt unverwendet,

Die Wahrheit nimmer leugt!


Den du hier suchst in Steinen,

Im Grab, wo Tote ruhn;

Bald kömmt er zu den Seinen,

Vom Tod erstanden nun.


Darum laß dir nun sagen,

Laß von der Trauer ab,

Laß ab, laß ab dein Klagen,

Such Leben nicht im Grab!


Ach! Sie läßt nicht von Klagen,

Läßt nicht von Trauern ab;

Läßt ihr sogar nicht sagen,

Sucht immer in dem Grab.


Ohn' Sinn und ohn' Gedanken

Schwebt sie fast ganz entseelt,

Die Kräfte ihr entsanken,

Ist bis zum Tod gequält.


Sie selbst geht sich verloren,

Und forschet mit Geschrei,[474]

Wo der, den sie erkoren,

Wo sie wohl selber sei?


Sie sprach, mir ist entzogen

All' meines Herzens Freud',

Ihr Himmel rund gebogen

Stürzt über mich noch heut.


Versieget ist der Bronnen,

Geraubt mein Herzenslicht;

Du Schein der goldnen Sonnen,

Dich brauch' ich fürder nicht.


Ade Licht, Luft und Leben,

Ade hell weißer Tag;

Mich deiner will begeben,

Dich nicht mehr schöpfen mag.


Ermattet nun zur Erden

Sie traurend niedersinkt,

Und kläglich in Gebärden

Ihr Aug' zum Himmel dringt.


Verliebt, verirrt, verworren

Sie leidet Schmerz und Pein,

Bis Mark und Blut verdorren,

Die Tränen trocknen ein.


Ohn' Leben ich noch lebe,

Bin tot, ohn' Tod zugleich

Tot, lebend, immer strebe,

Wo ich ihn nur erreich'.


O Tod! o Menschenprasser!

O ungeheures Tier!

Luft, Feuer, Erd' und Wasser,

Ihr Elemente vier!


Wer, wo doch kann mir zeigen

Den Körper wundenvoll?

Ach nicht, nicht wollet schweigen,

Wes ich mich trösten soll!


Erhebet Schall und Stimme

Und ihm doch machet kund,

Er mich mit süßem Grimme,

Mit kühlem Brand verwund't.[475]


Von kühlen Feu'r und Flammen,

Von bitter-süßer Glut,

Von Lieb' und Leid zusammen

Mir schmelzet Herz und Mut.


Bald, bald mich unterstützet

Mit Laub und Blümlein zart,

Mit Zweiglein abgenützet

Von Bäumen schöner Art.


Aus Rosen mir bereitet

Gar weich die Liegerstatt,

Auch Lilien häufig spreitet,

Ich sink' zur Erde matt.


War doch von ihm geschrieben,

Zu ihm wer wachet früh,

Soll gleich auf sein Belieben

Ihn finden ohne Müh.


Schau da bei guten Stunden

Ich hab' gewachet früh,

Doch ihn nicht hab' gefunden

Nach viel gepflegter Müh'.


Er zwar vor wenig Tagen

War mir nicht wenig hold,

Weiß nicht, was zugetragen

Sich seither haben sollt'.


Wie hab' ich's denn verschuldet,

Und womit ihn entrust,

Daß aller Gnad' enthuldet,

Ich ihn verlieren mußt'?


Beim Kreuz ließ ich mich finden,

Hab' ihm die Purpurfüß'

Gekühlt mit Seufzen linde

Mit meinem Atem süß.


Zu Grab hab' ihn getragen

Mit vollem Totenrecht,

Und nach vollbrachter Klage

Hab' ihn da niederlegt.


Was war nun mein Verbrechen,

Was meine Fehl und Sünd'?[476]

An mir ich wollt' sie rächen,

So ich sie wissen künnt. –


Ja wahrlich doch hab' fehlet,

Es jetzt mir kömmt in Sinn,

Die Schuld bleibt nicht verhehlet,

Ich selber schuldig bin.


Als wir den Schatz begraben,

Die wundenreiche Leich',

Versperrt ich sollt' mich haben

Mit ihm ins Grab zugleich.


Mich sollte lassen tragen

Mit ihm zur Gruft hinein,

Mit ihm zu bleiben wagen

Im Sarg und Felsen sein.


Die Wort' hat kaum vollendet

Die weinend' Büßerin,

Zum Grab sich wieder wendet,

Schaut immer hin und hin.


Der Leib blieb doch entzogen,

Der Sarg noch leer und bloß,

All' Hoffnung ganz entflogen,

Das Leid noch eben groß.


Nur jene Knaben beide,

So droben saßen an,

Sie fragten gar bescheiden:

O Weib, was weinest dann?


Sie sprach: fragt ihr noch beide,

Was ich mög' weinen dann?

Man mir (euch recht bescheide)

Nahm ab den schönen Mann.


Drum Jüngling frisch und lebend

Euch hebet aus dem Grab,

Sucht überall durchschwebend,

Wen ich verloren hab'.


Gleich drauf sie sich entwendet

Vom Felsen mit Verdruß,

Aufs neu die Klag' verschwendet

Mit bittrer Zähren Guß.[477]


Allda ihr kam erscheinen

Der langgewünschte Held;

Vor ihr er stand mit Scheinen,

Doch fremd und unvermeld't.


O Weib, was soll dein Weinen,

Sag an, was dir gebricht?

Und ach, sollt' ich nicht weinen,

Das Weib hinwieder spricht.


Hast du nun ihn entstohlen,

Wo brachtest ihn doch hin?

Ich muß ihn dannen holen,

Komm sonst um Hirn und Sinn.


O Weib, und wolltest holen,

Und wolltest haben du,

Den Körper dir entstohlen

Aus seiner Totenruh?


Und wie, wann er dann eben

In Kett' und Banden läg?

Sie sprach: ich wollt' ihn heben,

Die Ketten ich zerbräch!


Und wie, wann er sollt' stecken

In Dornen ganz umringt?

Sie sprach: von Dorn und Hecken

Man doch die Rosen bringt.


Und wie, wann er umgeben

Mit Feu'r und Flammen wär'?

Das Feuer ließ mich leben,

Die Liebe brennet mehr.


Und wie, wann er von Bären

Und Löwen wär' bewacht?

Sie sprach: wollt' mich erwehren

Auch wohl der wilden Macht.


Hör' auf, es ist der Fragen,

Hör' auf, nun schon genug;

Sag' du, wer mich zu plagen

Den Leib von dannen trug.


Hast du ihn nicht entstohlen?

Dich hab' ich in Verdacht;[478]

Sag' an, ich muß ihn holen

Wie ich schon oft gesagt. –


O wohl hast du's getroffen,

Die Sach' nicht wissend, weißt,

Wen dein Verdacht getroffen

Ist schuldig allermeist.


Er selbst es ungelogen

Und er's in Wahrheit ist,

Der dir den Schatz entzogen,

Durch den verwund't du bist.


Nur schnell fall' ihm zu Füßen,

Halt an den Täter fest,

Leg' ihm den Raub zu Füßen,

In Armen haltend fest.


O Jesu, nicht verschiebe,

Den Dunst bei Seiten treib,

Dich kund nun einmal gibe

Dem höchst bedrängten Weib.


Nur bald nur laß erschallen,

Laß ihr zur höchsten Lust

Ein kleines Wörtlein hallen,

Ein Wörtlein dir bewußt.


Die Lieb' beginnt zu regen,

Und wie zum Morgen gut,

Der Blitz mit zarten Schlägen

Ein Flämmlein zeigen tut;


Mit Namen er sie rühret,

Er nur Maria klingt;

Gleich sie das Flämmlein spüret,

Gleich auf in Freuden springt.


Die Freud' in Adern wallet

Und wieder lebend Blut

Im süßen Feuer wallet

Und färbet Herz und Mut.


Den Pfeil wer je gefühlet

Geschwind in süßem Brand,

Im Brand, so wärmt und kühlet,

Mag's greifen mit Verstand.[479]


Allein, allein mag's wissen,

Und ihm recht bilden ein,

Wem je die Lieb' durchrissen

Leib, Seel' und Mark und Bein.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 472-480.
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