Drittes Buch
September 1879 bis Juli 1882

Schon als kleiner Bub hatte ich den Traum genährt, Doktor zu werden wie der Papa. Da hatte man nämlich nicht nur die Möglichkeit, den ganzen Tag im Wagen herumzufahren, sondern, wenn es einem beliebte, konnte man bei jedem Zuckerbäckerladen halten lassen und das köstlichste Naschwerk kaufen, noch viel besseres, als es uns Kindern die gute Frau Walz an jedem Ersten und Fünfzehnten mitbrachte, wenn sie kam, um den Mietbetrag für den Monatsfiaker einzukassieren. In ernsterem Sinne freilich wirkten das Vorbild meines Vaters, mehr noch die ganze Atmosphäre unseres Hauses von frühester Jugend auf mich ein, und da ein anderes Studium während meiner Gymnasialzeit überhaupt nicht in Frage gekommen war, ergab es sich als ganz selbstverständlich, daß ich mich im Herbst 1879 an der medizinischen Fakultät der Wiener Universität immatrikulieren ließ. Eine wirkliche Begabung oder auch nur ein auffallendes Interesse nach der naturwissenschaftlichen Seite hin war bis zu diesem Moment keineswegs bei mir zu konstatieren gewesen. Freilich waren weder der Lehrplan des Gymnasiums noch die Persönlichkeiten unserer Professoren dazu angetan gewesen, meine Teilnahme nach dieser Richtung hin anzuregen, und auch die häusliche Erziehung und Ausbildung, – nicht nur die bei uns daheim, war nur wenig auf das Sinnfällige, auf das Sehen- und Schauenlernen gerichtet. Zur Natur als solcher verhielt ich mich noch lange Zeit mehr in einer vagen, poetisch-sentimentalen, als in einer naiv-betrachtenden Weise, und meine Wißbegierde ging eher aufs Ideelle, Historische und Psychologische als auf Erscheinung, Gegenwart und Form.

Auch die Vorlesungen, die mein Vater im Konservatorium für Musik über Stimme und Sprache alljährlich abzuhalten pflegte und von denen ich noch als Gymnasiast etliche gehört hatte, konnten mich kaum im medizinischen Sinne anregen, denn[93] eigentlich waren es populäre Plaudereien, mit denen mein Vater nicht so sehr die Gesangsschüler der Akademie zu belehren, als vielmehr seine Patienten aus Adels- und Künstlerkreisen, die er gerne in der Schar der Zuhörer sah, zu unterhalten wünschte. Ebensowenig hatte ich bis dahin in medizinische Bücher einen Blick getan – außer in jenen Atlas für Hautkrankheiten, den mich mein Vater im letzten Frühjahr aus pädagogischen Gründen hatte durchblättern lassen. Die topographische Anatomie von Hyrtl aber, die mir der Vater programmgemäß gleich nach bestandener Maturitätsprüfung, mit einer zärtlichen Widmung versehen, als Geschenk überreichte, blieb vorerst ungelesen; – wie ich auch an der Türe des Seziersaales, in den mich kurz vorher ein junger Mediziner hatte geleiten wollen, aus einer plötzlich erwachenden Scheu wieder umgekehrt war. Dafür tat sich mir ein anderes Tor auf, durch das mir vergönnt war, aus meinem Knaben- und Gymnasiastendasein ins medizinische Leben gewissermaßen hineinzuspazieren: in den ersten Septemberwochen fand zu Amsterdam ein medizinischer Kongreß statt, an dem ich mit meinem Vater, der die ganze Familie auf die holländische Reise mitgenommen hatte, als angehender Studiosus medicinae bescheidentlich teilnehmen durfte. Ich machte natürlich nur die allgemein zugänglichen Sitzungen und festlichen Veranstaltungen mit, von denen mir vor allem ein Dampferausflug auf die Zuydersee in Erinnerung verblieben ist, bei dem ich den Präsidenten des Kongresses, den berühmten Augenarzt Professor Donders, in Radmantel, am Arm einer schönen, hochgewachsenen, jungen Dame aus Bingen, die an seiner Seite die Honneurs des Kongresses machte, auf dem Verdeck auf und ab wandeln sah.

Gewiß spielten auch rein praktische Erwägungen mit, wenn ich mich ohne Schwanken für die medizinische Laufbahn entschied, wenigstens insofern, als es mir nicht einfiel, gegen die vernünftigen Beweggründe meines Vaters Einwendungen zu erheben; höchst verdrießlich aber empfand ich es von allem Anbeginn, wenn ich mir immer wieder, mehr oder minder unverhohlen, am öftesten von meinem Vater selbst, mußte vorhalten lassen, daß ich es um so viel leichter hätte als die meisten anderen meiner Kollegen, da mir als dem Doktors-, dem Professorssohn mein Weg nicht nur vorgezeichnet, sondern auch gebahnt sei; – und bald, in der Vorahnung äußerer und innerer[94] Hemmungen, die sich für mich gerade aus einer solchen scheinbaren Erleichterung ergeben mußten, bildete sich in mir der Stoff zu einer Novelle, die unter dem Titel »Der Sohn des Berühmten« innerhalb einer Malerfamilie romantisch verbrämte Möglichkeiten eigenen Schicksals widerspiegeln sollte. Nur wenige Seiten wurden niedergeschrieben; das Problem selbst aber ging mir lange nach, da die Stimmung, aus der es entstanden war, immer wieder durch taktlose oder böswillige Äußerungen gefördert wurde, die ich als Mediziner und noch als junger Arzt zu erfahren hatte – Äußerungen, die übrigens um so entschuldbarer waren, als mein innerstes Wesen und die eigentliche Richtung meines Talents den meisten Menschen, ja in gewissem Sinn mir selbst sich erst allmälig erschließen sollte. Die zweifellos gleichfalls vorhandenen ärztlichen Elemente meiner Natur aber kamen erst später und – so paradox das klingen mag – um so entschiedener in mir zur Entwicklung, je mehr ich mich dem Bereich ärztlicher Verpflichtungen und Verantwortungen entrückt fühlen durfte.

Im Oktober nahmen die Vorlesungen ihren Anfang, ich hörte Anatomie bei Langer, Physiologie bei Brücke, Chemie bei Ludwig, Physik bei Lang, gab aber den regelmäßigen Besuch schon nach wenigen Wochen auf, ohne daß ich darauf bedacht gewesen wäre, eine so sträfliche Nachlässigkeit durch häusliches Studium einigermaßen wettzumachen. Nicht viel fleißiger betrieb ich die praktischen Arbeiten im Seziersaal, im physiologischen und im chemischen Laboratorium. Für die sogenannten Vorprüfungen aus Mineralogie bei Schrauf, aus Zoologie bei Claus, aus Botanik bei Wiesner bereitete ich mich immerhin so weit vor, daß ich sie sämtlich noch im Laufe des ersten Jahrgangs abzulegen imstande war, und hatte es ein wenig meinem Glück und wohl auch dem Entgegenkommen meiner Prüfer zu danken, daß ich die beiden ersten Examina sogar noch mit Auszeichnung bestand.

Ganz fern lag mir der Gedanke, in eine Couleur, das heißt in eine der farbentragenden Studentenverbindungen einzutreten, wie ich überhaupt zu festgelegten und irgendwie verpflichtenden Gemeinsamkeiten keinerlei Neigung verspürte. Immerhin wurde ich Mitglied eines Vereines, und zwar des deutsch-österreichischen Lesevereins, nicht gerade seiner schwarz-gelben Tendenzen wegen, sondern eher um mich gewisser Begünstigungen,[95] zum Beispiel ermäßigter Eintrittspreise in einige Theater, erfreuen zu dürfen. Der andere große Studentenverein, der an der Wiener Universität bestand, die Akademische Lesehalle, war von deutschnationaler Färbung. Zwischen beiden Verbänden kam es in der Folge zu Reibereien, die, wenn ich nicht irre, mit der Auflösung des deutschnationalen endeten, dessen Richtung dem »guten«, insbesondere dem dynastisch gesinnten Österreicher zu jener Zeit und noch lange nachher mit mehr oder minderem Recht für unpatriotisch, wenn nicht hochverräterisch galt.

Nach einem der großen Studentenkommerse, wie sie damals bei allen möglichen Gelegenheiten stattfanden und wo die politische Gegensätzlichkeit der beiden Vereine in einigen Reden aufs heftigste zutage getreten war, kam es auf dem Heimweg zwischen mir und einem Studenten der Philosophie, dem Bruder meines einstigen Schulkollegen Fritz Wahle, zu einer lebhaften Auseinandersetzung, in der ich, mit welchen Gründen weiß ich nicht mehr, einen deutsch-österreichischen Standpunkt vertrat, wobei mir aber weniger an dem Sieg meiner politischen Überzeugung gelegen war als an meiner dialektischen Leistung an sich und wohl auch an meinem Erfolg bei den mit uns durch die nächtlichen Straßen heimwärts spazierenden jungen Damen, von denen eine die liebenswürdige Cousine meines blonden Fännchens war. Denn soweit ich mich erinnere, war ich an dem hier in Betracht kommenden Problem nicht sonderlich interessiert, höchstens insoweit die Frage des Antisemitismus hineinspielte, der damals eben emporzublühen begann und mich, nicht ausschließlich wegen meiner jüdischen Stammeszugehörigkeit, oder gar wegen persönlicher Erfahrungen, die ich erst später im reichsten Maß zu sammeln in der Lage war, mit Sorge und Erbitterung erfüllte. Doch war es nicht eigentlich die politische, auch nicht so sehr die soziale, sondern vorwiegend die psychologische Seite der Judenfrage, für die das Interesse in mir meiner ganzen Anlage nach zuerst erwachte. Das konfessionelle Moment berührte mich so gut wie gar nicht. Alles Dogmatische, von welcher Kanzel es auch gepredigt und in welchen Schulen es gelehrt wurde, war mir durchaus widerwärtig, ja erschien mir im wahren Wortsinn indiskutabel. Und ich hatte zum sogenannten Glauben meiner Väter – zu dem, was in diesem Glauben eben wirklich Glaube war – nicht Erinnerung, Tradition[96] und Atmosphäre – so wenig innere Beziehung als zu einem andern. Doch das religiöse Problem im weiteren Sinn beschäftigte mich gerade in jenen Jahren, von meinem achtzehnten bis zu meinem zwanzigsten mehr als zuvor und vielleicht mehr als zu irgendeiner späteren Epoche meines Lebens; und meiner ganzen Denkrichtung nach mußte es mir mit den Grundfragen der Philosophie zusammenfließen. Daß ich in all diesen Disziplinen, soweit es eben Disziplinen sind, Dilettant war und es mein Leben lang geblieben bin, will ich ohne weiteres zugestehen. Es fehlte mir an Geduld, an Aufmerksamkeit, möglicherweise auch an dem nötigen Scharfsinn, um hier so weit zu gelangen, daß es überhaupt der Mühe wert gewesen wäre, nach der Regel anzufangen; und ich beruhigte mich mit dem wahrscheinlich ketzerischen, sicher unverschämten Gedanken, daß ich, was ich für meinen Teil eben an Religion oder Philosophie bedürfte, doch selber finden oder erfinden müßte, um es für mich überhaupt gebrauchen zu können. Jedenfalls war es mir in meinen ersten zwei Universitätsjahren manchmal ein Bedürfnis, mich mit den sogenannten ewigen Fragen in meiner Weise auseinanderzusetzen; – ich notierte mir allerlei über das »Ding an sich«, woraus ich entnehme, daß ich eine Geschichte der Philosophie oder gar einen Auszug aus Kant durchblättert haben mochte, – ich las, meist in der Hofbibliothek, das Leben Jesu von Renan und die Evangelien; und setzte mich in meinem Tagebuch rationalistisch mit dem Wunderglauben der Legende, gehässig mit Papst und Klerus auseinander, um aphoristisch mit dem Satz abzuschließen, den ich noch heute aufrechthalten könnte, daß das Christentum im Laufe der Jahrhunderte sich nicht »ent-«, sondern »verwickelt« habe. Die Zellentheorie versuchte ich unbeschwert von eigentlichen naturwissenschaftlichen Kenntnissen in meiner Weise weiterzudenken, hielt mich für einen Materialisten und Atheisten, – und war damals wohl beides ebensowenig, als ich es heute bin; vielmehr, ich war damals noch nicht weit genug, um zu erkennen, daß es im Grunde Materialisten und Atheisten im eigentlichen Wortsinn gar nicht geben kann, und daß jenseits der Grenzen, wo der denkende Mensch sein – je nach Temperament und Laune – gleichgültiges, wehmütiges, klagendes oder erbittertes Ignorabimus gefühlt oder gesprochen hat, Geschwätz, Salbaderei, Schwindel oder Wahnsinn anhebt. Nicht etwa als Resultat eines tiefsinnigen Denkprozesses,[97] sondern wohl als Ausdruck einer Grundstimmung schrieb ich damals den Satz nieder: »Gäbe es einen Gott, so wäre die Art, wie er von den Gläubigen verehrt wird, Gotteslästerung.« Und einen zweiten: »Es ist ein Unding, zu sagen: Gott will. Wir wollen, Gott muß.« Doch ahnte ich wohl schon damals, daß, wie es bei Sätzen von dieser Sorte meistens der Fall ist, das Gegenteil geradeso wahr sein mag. In meinem Widerwillen gegen Zelotismus und Pfaffenwesen ließ ich es, wie es in jenen frühen Lebensjahren entschuldbar sein mag, gelegentlich auch an Takt fehlen. Es war in den Maturitätsferien, vielleicht in dem Sommer vorher, daß ich in der Kirche Maria am Gestade einer Predigt beiwohnte. Ich stand dem Priester gerade gegenüber und starrte ihm, da er mir Dinge von ganz besonderer Albernheit zu behaupten schien, mit absichtlichem Hohne ins Gesicht, worauf sich seine Augen so wuterfüllt auf mich richteten, daß es im Umkreise auffallen mußte. Ein paar alte Weiber in meiner Nähe gingen der Richtung seines Blickes nach, sahen mich, fanden wohl bald heraus, daß ich im modischen Anzug mit Spazierstöckchen, unfromm an eine Säule gelehnt, an einem so heiligen Ort nichts zu suchen hatte; ich glaubte ein Murmeln zu hören, etwas von einer drohenden Haltung zu merken, woran möglicherweise nur mein schlechtes Gewissen schuld war, – jedenfalls hielt ich es für geraten, elegant, aber schleunigst den Ausgang zu gewinnen, was als Beweis dafür gelten mag, daß nicht jeder Revolutionär zum Märtyrer geboren ist.

Zu gleicher Zeit etwa fügte es sich, daß mir eine zum Gebrauch für Volksschulen bestimmte katholische Religionslehre in die Hände geriet. Ich las sie mit steigender Erbitterung und fühlte mich endlich gedrungen, eine Art Referat zu entwerfen, dem ich die Überschrift gab: »Wie die Welt von Jugend auf zur Dummheit erzogen wird« und das ich nach wenigen Seiten mit dem kindlichen, aber sehr echten Ausbruch abschloß: »Ich kann nicht weiterschreiben, der Zorn erstickt meine Worte.« So erkannte ich früh genug, daß ich auch zum Essayisten nicht geboren war.

Doch schon lang, ehe ich theoretisch mit Gott und der Welt fertig zu werden suchte, im letzten Gymnasialjahr, hatte ich ein Mönchsdrama zu schreiben begonnen, »Aegidius« betitelt, darin ich allerlei niederlegen wollte, was mir über philosophische[98] und religiöse Fragen, insbesondere über Dogma und Freiheit, freien Willen und Schicksal, Ewigkeit und Unsterblichkeit durch den Kopf gegangen war. Es ist zugleich das erste und einzige Produkt meiner Feder aus dieser Zeit, darin bei aller Unreifheit stellenweise Zeichen dichterischer und theatralischer Begabung unverkennbar vorhanden sind. Die Fabel von dem lebensdurstigen Mönch, den ein dämonisches Weib zum Narren hält, der bei der Tochter eines Astronomen Trost findet, in die sich dann wieder der Abt verliebt, ist freilich allzu naiv erfunden; überdies wird das Stück, das ich, wie damals fast alle meine Sachen, ohne jeden Plan ganz aufs Geratewohl zu schreiben begonnen, gegen Schluß immer flüchtiger und verworrener; – aber in manchen episodischen Einfällen, zum Beispiel in einer Kirchenszene zwischen »zwei Genies«, auch da und dort in der Behandlung des Verses, kündigen sich künstlerische Möglichkeiten an, die eigentlich eine raschere Entwicklung hätten erwarten lassen, als ihnen am Ende zuteil werden sollte. Eine andere Komödie in fünf Akten, die ich ungefähr zu gleicher Zeit schrieb, »Vor der Welt« betitelt, nimmt sich neben dem »Aegidius« ziemlich übel aus. Sie ist in Prosa, romantisch-modern gehalten, Kloster-, Salon- und Maskenballgerüche fließen ineinander, ohne daß ein sonderlich würziger Duft dabei herauskäme, und man könnte in diesem Jugendwerk geradezu gewisse Schwächen meiner Begabung vorgebildet finden, die auch in matteren Produkten aus meiner späteren Zeit an den Tag treten: so vor allem einen leidigen Hang zum Kontrastieren, der sich darin kundgibt, daß beinahe sämtliche Figuren des Stücks das im Titel ausgesprochene Thema illustrieren wollen (jede spielt vor der Welt mehr aus Laune als aus Notwendigkeit eine ihrem Wesen fremde, ja entgegengesetzte Rolle), ferner einen Mangel an äußerer und innerer Ökonomie, der in diesem Fall nicht eben Fülle zu bedeuten hat, – und endlich eine Theatralik, die mit einem Wortspiel als Wiener Hofburgtheatralik nicht unzutreffend bezeichnet wäre, wie ich denn damals und später die Hauptrollen meiner Stücke gleich mit Künstlern der Hofbühne zu besetzen und die Namen in meinen Manuskripten aufzuzeichnen liebte.

War in der letztgenannten Komödie der keineswegs geglückte Versuch gewagt, eine von materiellen Sorgen unbeschwerte, nur im Spiel der eigenen Seele befangene Menschengruppe auf die[99] Bühne zu bringen, so tritt in manchen Fragmenten und Entwürfen aus dieser Zeit meiner allerersten Universitätsjahre ein sozialkritisches Element hervor, das auch im Tagebuch und anderen Aufzeichnungen immer wieder anklingt. Ich notierte allerlei zu einem Aufsatz, der nichts Geringeres behandeln sollte als das »Problem des allgemeinen Glücks«, sprach aus meinen von Kindheit an wohlfundierten demokratischen Prinzipien die Überzeugung aus, daß »ein ursprünglicher Haß von Volk zu Volk überhaupt nicht existiere«, entrüstete mich über die »Illiberalität der allgemeinen Wehrpflicht« und fand es eine »dankbare Aufgabe« – der mich zu unterziehen mein Wissen und meine Beharrlichkeit kaum gewachsen gewesen wären – »an allen Kriegen, die jemals geführt wurden, das Gemachte nachzuweisen«. Ein romantisch-sozialistisch-anarchistisches Drama kolportagehaften Inhalts, »Lazarus Knorr«, gedieh nicht über ein paar flüchtige Notizen, obwohl es mich innerlich lebhaft beschäftigte; von etlichen anderen Stücken wurden immerhin Anfangsakte oder Szenen niedergeschrieben. »Die alten Schüler« sollten in der schematischen Art jener früher erwähnten Komödie »Vor der Welt« eine Anzahl Menschen auf die Bühne stellen, die zu spät ihren eigentlichen Beruf oder den Sinn ihres Lebens entdeckten, im »Grafen Unheim« waren wieder die sozialistischen Tendenzen stärker ausgesprochen, – doch offenbar zu skeptischer Behandlung vorbestimmt, da der im Mittelpunkt der Handlung stehende »Klub von Weltverbesserern« sich im Verlauf der Dinge zu einem »Klub von Weltvergessern« entwickeln sollte; – in freier Phantasie schien sich eine »Faschingstragödie« gestalten zu wollen, die zwar über einen halben Akt nicht hinauskam, aber für alle Fälle von mir durch erste Schauspieler besetzt wurde. Der Titelheld Prinz Julian, ein wenig Egmont und ein wenig Prinz Heinz, war Ernst Hartmann zugedacht; für seinen königlichen Vater war mir Sonnenthal eben gut genug, und für eine wichtige Episodenrolle, den Studenten Borromäus Quemberlin, engagierte ich mir in der Idee (etwa vierzig Jahre, ehe ein Burgtheaterdirektor auf den gleichen Einfall geraten sollte) den jugendlichen Gesangskomiker vom Wiedner Theater, Alexander Girardi, direkt an die Hofbühne. Im Entwurf vernünftiger als die bisher Genannten und auch in der Ausführung, so weit ich eben gelangte, mit etwas sicherer Hand angepackt, präsentiert sich ein Drama[100] aus der Zeit der fahrenden Anatomen: Ein Adept der neuen, von Kirche und Aberglauben noch verpönten Wissenschaft wird unschuldig verdächtigt, seinen aus welt- und liebesschmerzlichen Gründen geflohenen Freund umgebracht zu haben, um dessen Leichnam zu Sektionszwecken zu verwenden; dieselben Figuren in moderner Tracht versuchte ich ungefähr zu gleicher Zeit in eine ähnliche, doch des kulturgeschichtlichen Grundmotivs beraubte Handlung zu stellen; beide Versuche, der »Sebaldus« ebenso wie »Die Launen der Phantasie«, blieben, wie die meisten anderen aus dieser Epoche, unvollendet liegen. Ein Drama, in dem ich, wie mein Tagebuch verrät, »den Ehebruch unter gewissen Umständen zu rechtfertigen dachte«, wurde vorerst nicht einmal in Angriff genommen, – und Jahrzehnte gingen hin, bis die »Eifersucht wegen eines Traums«, die ich mir nach einer persönlichen, nicht mehr erinnerlichen Erfahrung als ein »für eine Novelle nicht übel passendes Motiv« aufzeichnete, ihre von mir damals schon geahnte poetische Ergiebigkeit in einem Schauspiel »Der Schleier der Beatrice« einigermaßen erweisen sollte.

Obwohl ich so im Mai 1880, also bis zu meinem achtzehnten Geburtstag, in meinem Tagebuch dreiundzwanzig Dramen als beendet, dreizehn als »begonnen« verzeichnen durfte, war ich fern davon, mich als ein Berufener oder gar Auserwählter zu fühlen. Und wenn ich mich gelegentlich auch innerlich dagegen auflehnte, daß Leute, die ich als tief unter mir stehend zu erkennen glaubte, mich ohneweiters als ihresgleichen betrachteten, – viel öfter zweifelte ich, ob ich denn zu solchen hochmütigen Stimmungen im Grunde berechtigt sei. Die immer wiederkehrende Klage meines Tagebuchs über eine mich verzehrende Langeweile vermag ich rückschauend kaum anders zu deuten denn als einen mißverständlichen Ausdruck für das tiefe Unbehagen, das ebensowohl aus meiner Unsicherheit über den von mir einzuschlagenden Weg als aus meinem schlechten Gewissen kam. Denn auf welches Gebiet ich nun hingewiesen sein mochte, – daß ich meine Zeit klüger und nutzbringender anwenden könnte, daß sowohl das Studium, dem ich nun einmal verschrieben war, als die Liebhaberei, die mich immer wieder lockte, mehr Ernst und Sammlung forderte, als ich zu geben hatte, – diese Erkenntnis war ununterbrochen in mir rege, und vielleicht – eine häufige und bedenkliche Begleiterscheinung[101] der Selbstbeobachtung – ließ ich mir manchmal allzusehr an dieser Erkenntnis genügen.

Meine innere und äußere Einstellung nicht so sehr zur Medizin als zum medizinischen Studium brachte es mit sich, daß es zu einem regeren Verkehr mit Studienkollegen nicht kommen sollte; die wenigen, mit denen ich mich anfangs angefreundet, und gerade die fleißigeren unter ihnen, rückten einfach dadurch bald von mir ab, daß ich immer wieder für Stunden, Tage, Wochen aus ihrem Gesichtskreis entschwand; bei einigen fügte es sich, daß wir auf einem andern, neutralen Boden, in einer uns gemäßeren Atmosphäre uns wiederbegegneten. Der neutrale Boden war meist irgendein Kaffeehaus, damals das »Central«, wo ich gar viele Stunden mit Zeitungslektüre, Billard, Domino, seltener mit Schachspiel, bei dem oft ein graubärtiger polnischer Jude namens Tambour meinen Partner machte, hinzubringen pflegte, – die gemäßere Atmosphäre, in der mir leichter und wohler war, war die künstlerische oder was ich mir eben darunter vorstellte, – besonders, wenn ein etwas zigeunerlicher Hauch sie durchwehte. So bildeten sich um mich Menschenkreise der verschiedensten Art, flossen ineinander, zerflossen wieder; Freunde aus der Gymnasialzeit, neue Kollegen, Zufallsbekannte, Wahlgenossen schlossen sich mir für kürzere oder längere Frist an, und unter ihnen will ich, zugleich von ihm Abschied nehmend, denjenigen zuerst nennen, der in demselben Herbst, an dem ich die Universität bezog, nach mißglückten Versuchen zur Erwerbung des Freiwilligenrechtes, zur Erfüllung seiner Dienstpflicht auf drei Jahre zum Militär, vorerst nach Olmütz, einrücken mußte, – Adolf Weizmann. Unser Verkehr vollzog sich von dieser Zeit an beinahe ausschließlich auf schriftlichem Wege. Adolfs Briefe, besonders in den ersten Jahren, enthalten fast nichts als Klagen über sein Los und – wenn ich nicht pünktlich genug seine gelegentlichen, nicht immer bequemen Aufträge besorgte, wie zum Beispiel geringfügige Außenstände für ihn einzutreiben, Geld für ein aus dem Dienstzimmer gestohlenes Gewehr aufzubringen, für das er ersatzpflichtig war, Bücher und Zeitschriften an ihn zu senden – auch Anschuldigungen gegen mich wegen meiner Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit, die zum Teil nicht ganz unverdient sein mochten. Wenn er zu kurzem Urlaub nach Wien kam, vertrugen wir uns immer wieder ganz gut. Ziemlich[102] schnell, dank seiner Findigkeit und Gewandtheit, rückte er zum Rechnungsfeldwebel vor, kam in größere und kleinere Garnisonsorte des eben okkupierten bosnisch-herzegowinischen Gebiets, reüssierte über die Maßen bei Weibern jeder Art und schien sich endlich, wenn die Äußerungen seiner Unzufriedenheiten auch nie verstummten, in seiner militärischen Existenz gar nicht übel zu behagen. Gelegentlich dachte er sogar daran, Soldat zu bleiben; zog es aber doch vor, nachdem er aus dienstlichen Gründen etwa ein Jahr über die normale Frist festgehalten, die Uniform wieder hatte ablegen dürfen, als Fellhändler, hauptsächlich auf Geschäftsreisen, sein Glück zu versuchen, das sich in vielfachem Sinne wechselnd erwies. Sooft er für kürzere oder längere Zeit sich in Wien aufhielt, suchte er mich auf, und unsere Jugendfreundschaft, innerlich längst abgetan, was er natürlich auch empfand, ohne es sich eingestehen zu wollen, dauerte äußerlich noch weiter, wenngleich mir die nun auch von der Berufsseite her geforderte Lautheit seiner Manieren immer weniger behagen wollte. Seine Unersättlichkeit, ebenso wie seine Wahllosigkeit im Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht nahm immer zu, wohl auch, weil er sich nach gewissen Erfahrungen seiner Soldatenlaufbahn für gefeit halten mochte; doch endlich ereilte ihn sein Schicksal in den Armen eines Hotelstubenmädchens, wovon er mir, als ich ihn einmal auf seinen Wunsch hin von der Bahn abholte, verzweifelt Mitteilung machte. Im Laufe der nächsten Jahre saß er zweimal wegen Notzucht oder Schändung im Gefängnis, ließ es sich aber dort, soweit ich seinen Erzählungen Glauben schenken darf, gar nicht so übel ergehen. Er war meistens als Schreiber in der Gefängniskanzlei beschäftigt und genoß dadurch eine gewisse Freiheit, die er zur Anknüpfung zärtlicher Beziehungen mit der Frau des Kerkermeisters und weiblichen Häftlingen zu benützen wußte. Im Frühjahr 1896 trat er eines Tages mit den offenbaren Zeichen einer beginnenden Paralyse in mein Zimmer. Er zeigte mir seine leidlich mit Banknoten gefüllte Brieftasche, hielt sich in diesem mäßigen Besitze für sehr reich und teilte mir eine Stunde später telefonisch mit, daß er zu der heute stattfindenden Vorstellung der »Liebelei« einen Sitz für drei Gulden fünfzig erstanden, was ihm eine bemerkenswerte Leistung zu sein dünkte. Am Tage drauf nahm ihn mein Bruder zur Behebung eines, gleichfalls von einem verflossenen[103] Liebesabenteuer herrührenden Leidens auf seine chirurgische Spitalsabteilung auf, und ohne daß ich den Jugendfreund wiedergesehen hätte, ein halbes Jahr später, starb er im Irrenhaus.

Auch damals schon viel näher als Adolf Weizmann und eine Zeitlang herzensnäher als alle meine übrigen Bekannten, stand mir Eugen Deimel, der gleichfalls in den letzten Jahren des Gymnasiums, wenn auch nicht bis zum Abschluß, mein Kollege gewesen war. Denn auch ihm, wie Wechsel und Weizmann, war es nicht beschieden, bis zur Matura durchzudringen. Sein Vater, aus Triestiner Familie, Finanzrat in Pension und verwitwet, lebte mit drei oder vier Söhnen und einer Tochter in Wien in sehr beschränkten Verhältnissen. Eugens Geschwister habe ich nicht gekannt, wie ich mich überhaupt nicht erinnere, je sein Haus betreten zu haben. Doch schwebt mir die hohe Gestalt des Vaters noch vor Augen, wie von Schwermut umwittert, was vielleicht darin seine Ursache hatte, daß mir Eugen einmal des alternden Mannes Jugendtagebuch mitbrachte, in dem mit verräterischen, in der Zahl wechselnden Punkten, allerlei Liebesabenteuer verzeichnet standen und das italienische Wort Melanconia refrainartig wiederkehrte. Eugen selbst war ein blonder, hochaufgeschossener Junge, gutmütig, leichtfertig und stets zu Späßen, nicht immer von der feinsten Sorte, aufgelegt, der sich lieber im Kaffee- und Wirtshaus als daheim und in der Schule aufhielt, sentimental bis zur Weltschmerzlichkeit, eine geborene Bummelantennatur, aber nicht ganz ohne bürgerliche Tendenzen, ein Nichtstuer mit ausgesprochen künstlerischen Bestrebungen, und bei allem Leichtsinn und Müßiggang ein durch und durch ehrlicher, innerlich anständiger, ja nobler Charakter. Das Theater war es, das ihn vor allem anzog. Poet, Schauspieler und Habitué waren, zumindest der Idee nach, in ihm vereinigt. Da es ihm zu letzterem an ausreichenden Mitteln fehlte, verschaffte er sich den Eintritt häufig dadurch, daß er Claqueurdienste verrichtete, und ohne sonderliche Beschämung gestehe ich ein, daß auch ich als Gymnasiast ein oder zwei Mal in seiner Gesellschaft mit einem vom Claqueurchef überwiesenen Billet auf der Galerie des Ringtheaters gesessen bin, mit der hiedurch übernommenen Verpflichtung, dem großen italienischen Mimen Rossi Beifall zu klatschen, womit ich am Ende meiner Überzeugung kein Opfer zu bringen genötigt[104] war. Seinem schauspielerischen Ehrgeiz frönte Eugen zuerst am Matzleinsdorfer, dem einstigen Fürstlich Sulkowsky'schen Privattheater; Bühne und Zuschauerraum waren dort in so zierlichen Dimensionen gehalten, daß mir in der Erinnerung ist, als hätte ich von der Ersten-Stock-Loge im Proszenium mit dem Arm zum Souffleurkasten hinunterreichen können. Noch als Gymnasiast hatte ich das Vergnügen, meinen Freund, der der Schule zwar noch nicht entwachsen, aber ihr entlaufen war, in zwei Rollen zu bewundern: als Diener in der »Kameliendame« und als Irrenarzt in »Marie-Anne, ein Weib aus dem Volke«. Waren diese Rollen auch nicht eben bedeutend, so boten sie immerhin den Vorteil, daß der Darsteller nicht verpflichtet war, dem Direktor eine Gage zu zahlen, während Hauptpartien einer Taxe von fünf bis zehn Gulden unterlagen. Ich weiß nicht mehr, ob Eugen sich auch nur ein einziges Mal diesen Luxus zu gestatten vermochte; – sicher ist nur, daß er in dem Augenblick, da Direktor Niclas erklärte, von jedem seiner Mitglieder einen regulären Monatsbeitrag von fünf Gulden einziehen zu müssen, sich gezwungen sah, seine Carriere bis auf weiteres zu unterbrechen. Ich aber hatte indes wenigstens Gelegenheit gehabt, einen Blick in das Theaterleben, ja gewissermaßen hinter die Kulissen zu tun. Zum mindesten gedenke ich noch der fröhlichen Vormittagsstunden in einem kleinen Beisel gegenüber dem Matzleinsdorfer Theater, wo ich das Gabelfrühstück in Gesellschaft einiger Bühnenkünstler einnahm, unter denen sich Richard Schulz, der Bonvivant, durch besonders heitere Allüren, sowie durch Verzehren unzähliger Schnitten Servaladiwurst und die jugendliche Liebhaberin, Fräulein Schubert, durch schwarzlockige Anmut hervortaten. Und es war mir sogar vergönnt, an einem wunderschönen Sommertag mit dieser schwarzäugigen und dunkellockigen, wirklichen Schauspielerin in den schattigen Alleen des Schwarzenberggartens auf und ab zu wandeln, ohne daß diesem platonischen Stelldichein je ein zweites gefolgt wäre, ja ohne daß ich das reizende Wesen je wiedergesehen oder auch nur von ihr gehört hätte. Meinem Freund Eugen aber gelang es bald, sich zu einer, wenn auch nicht viel ehrenvolleren, doch etwas einträglicheren Bühnenstellung aufzuschwingen, indem er am Wiener Stadttheater als Statist gegen die Besoldung von einem halben oder gar einem ganzen Gulden pro Abend auftreten durfte. Von all diesen Abenden ist mir[105] nur einer im Gedächtnis verblieben, an dem Eugen, als eleganter Ballgast in einem höchst fragwürdigen Frack ganz vorn an der Rampe stehend, einen Champagnerkelch in der Hand, dem Festgeber mit bemerkenswerter Ungezwungenheit, irgend etwas Unverständliches murmelnd, zutrank und mit ihm anstieß, – während ich im Parkett an der Seite meines Vaters davor zitterte, daß dieser in dem lumpigen Komparsen meinen Intimus erkennen möchte, auf den er – wie seit jeher auf die meisten meiner Freunderln – (wie er sie nach wie vor despektierlich nannte) – und nicht ganz ohne Grund übel zu sprechen war. Auch durch die Vorlesung einiger Akte aus einem selbstverfaßten Drama »Zenobia«, auf das er eine Zeitlang seine Zukunftshoffnungen baute, an unserem Familientisch vermochte sich Eugen bei den Meinen nicht in höheren Respekt zu setzen; hingegen ging seine Schätzung meines Talents so weit, daß er sich dazu vermochte, mein Mönchsdrama zum großen Teil in (eine noch vorhandene) Reinschrift zu übertragen. Im Herbst 1880 übersiedelte er nach München, wo sich ihm anfangs bessere Aussichten zu eröffnen schienen; er wurde Mitarbeiter des »Freien Landesboten«, eines Blattes, das, kurz vorher noch unter der Leitung des klerikalen Landtagsabgeordneten Sigl, sich unter dem neuen Chef, Bösl, zu einer liberalen Richtung bekannte. Die paar Freunde, die Eugen zu einer Veränderung des Schauplatzes ermutigt hatten, insbesondere ein dicker Baron Flotow und ein blonder Arzt, Doktor Billinger (mit denen wir schon in Wien, wo sie zu Vergnügungs- und Studienzwecken weilten, einige Nächte durchschwärmt hatten, besonders in dem berüchtigten Café »Laferl«, wo einmal eine Gesellschaft von musikalischen Clowns unsere Tischgesellschaft bildete), ließen ihn nicht gänzlich im Stich und führten ihn in ihre Kreise ein. Er verkehrte mit Malern und Dichtern, meist solchen, denen der Erfolg so wenig lächeln wollte als ihm; aus Eugens Briefen tritt die Gestalt eines Dichter-Malers, namens Adolf Paul, am lebendigsten hervor und dessen pessimistisch veränderter Goethe-Spruch: »Ein jeder Mensch, er sei auch, wer er mag, erlebt sein erstes Glück an seinem letzten Tag«, zitiert er immer wieder wie sich selbst zum Troste. Indes hatte er auch ein neues Drama vollendet, »Bar Kochba«, auf dessen Annahme am Hoftheater man ihm Hoffnungen machte, die so wenig in Erfüllung gehen sollten wie seine früheren. Von mir wünschte er schmeichelhafterweise[106] Beiträge für sein Blatt. Und so las ich mich endlich zum allerersten Male gedruckt im »Freien Landesboten« mit einer Art von philosophischem Dialog über – richtiger gegen – den Patriotismus; und – mit dem »Liebeslied an eine Ballerine«, einem mäßigen Spaß, den ich einsichtig genug nur mit meinen Initialen zeichnete. Das Honorar, mein allererstes und auf lange Zeit hinaus auch mein allerletztes, im Betrage von zehn Mark, bat Eugen, dem es auch in München von Tag zu Tag schlechter ging, für sich verwenden zu dürfen, was ich ihm begreiflicherweise nicht abschlug. Im Sommer kehrte er nach Wien zurück, enttäuscht, melancholisch und überdies durch den Tod seines dritten Bruders, der kürzlich, wie schon zwei in früheren Jahren, an Schwindsucht gestorben war, hypochondrisch geworden, was ihn freilich nicht abhielt, vielleicht sogar dazu verleitete, bei geselligen Gelegenheiten des Guten und Schlimmen im Trinken und insipiden Späßen zuviel zu tun. So begegnete es ihm einmal, daß er nach einem Schützenfest im Prater, das wir gemeinschaftlich mit anderen Kumpanen besucht hatten, unter der Reichsbrücke sein Nachtlager aufschlug, um am andern Morgen mit einem aufs Doppelte angeschwollenen Schädel zu erwachen und zu bemerken, daß ihm als Kopfpolster ein Ameisenhaufen gedient hatte. Eine platonischsentimentale Herzensaffaire, von der später, als mit der meinigen im Zusammenhang, die Rede sein wird, wirkte auf seine Stimmung übel ein; seine materiellen Verhältnisse wurden immer desolater, eine Sammlung, die ihm die Mittel zur Auswanderung nach Amerika bieten sollte, ergab ein klägliches Resultat, nicht ganz unbegreiflich, da gerade seine besten Freunde über nichts weiter als über ihr geringes Taschengeld zu verfügen hatten. An einem Wintermorgen wollte ich ihn in dem Gasthof dritten Ranges besuchen, wo er Quartier genommen hatte; ohne besondere Freundlichkeit wurde mir vom Portier die Auskunft zuteil, daß der Gesuchte vor wenigen Tagen ohne vorherige Bezahlung der Rechnung durchgebrannt sei. Nur die Plötzlichkeit seines Verschwindens überraschte, die Tatsache nicht. Bald kamen Grüße von ihm an seine Wiener Freunde, und nach Kreuz- und Querfahrten in Deutschland, deren Zweck nicht ganz ersichtlich wurde, schiffte er sich endlich in Antwerpen nach Amerika ein.

Spärliche, doch immer herzlich gehaltene Briefe, die mit monate- und jahrelangen Unterbrechungen an mich gelangten,[107] erzählten sehr beiläufig von seinen trübseligen Bemühungen, sich drüben eine Existenz zu gründen. Als Küchenjunge, Wiederverkäufer, Fabriksarbeiter, Geschirrabspüler, Hausierer, Bäcker, Koch versuchte er sein Glück, bis es ihm endlich gelang, zusammen mit einer bayrischen Brauerstochter, die er als Köchin am gleichen Hotelherd kennengelernt, sich einen eigenen zu gründen und als Delikatessenhändler ein anständiges, aber niemals sehr glänzendes Auskommen zu finden. Unsere Korrespondenz, freilich mit beträchtlichen Pausen, ging immer weiter, um sich bei besonderen Anlässen, wie es Familienereignisse (in seinem mit drei Töchtern gesegneten Hause ging es nicht ohne Romane ab) und Aufführungen meiner Stücke in Amerika waren, zeitweise lebhafter zu gestalten. Auch während des Krieges hatten wir einander noch manches zu sagen, bis im Winter 1916/17 die Verbindung zwischen Österreich und den Vereinigten Staaten abriß und damit unser Briefwechsel einen hoffentlich nur vorläufigen Abschluß fand. Heute noch, mehr als fünfunddreißig Jahre, nachdem ich Eugen Deimel zum letztenmal gesehen und gesprochen, habe ich sein Wesen, sein Gehaben, ja seine Stimme so treu in mir bewahrt, als wären wir gestern voneinander geschieden.

Daß ich Eugen auch in meine Herzensangelegenheit eingeweiht hatte, versteht sich für jene jugendliche Epoche, in der man meist noch den Drang fühlt, sich einem Freundesbusen anzuvertrauen, von selbst. Und bald hatte ich auch Gelegenheit gefunden, ihn mit meiner Angebeteten bekannt zu machen, sowie im Hause ihrer Eltern einzuführen, wo auch ich seit Beginn meines ersten Universitätsjahres aus und ein ging. Öfter sah ich Fännchen aber nach wie vor an anderen Orten. Die häufigsten Zusammenkünfte hatten wir in den neuen Anlagen am Donaukanal, dem eben neuangelegten Quaipark, der im Volksmund wegen seines damals noch nicht sehr üppigen Baumwuchses der »Beserl«-Park hieß, was uns übrigens nicht sonderlich kümmerte, da wir uns meist in den dunkeln Abendstunden trafen, nach den Klavierlektionen, die Fännchen in befreundeten Familien erteilte. Sobald der Frühling wiederkam, traten Rathauspark und Volksgarten in ihre alten Rechte, und einmal war sogar das kleine Gärtchen des Offiziersspitals, in das wir uns fast zufällig verirrt hatten, die Stätte unserer nach wie vor ziemlich harmlosen Zärtlichkeiten.[108]

Fännchens intimste Freundin war zu jener Zeit das junge Mädchen, dessen ich früher beiläufig als des verdrossenen Erwähnung tat, Ida König, viel weniger hübsch, aber klüger als Fännchen. Zu dem Los der Vertrauten, sich in den Liebhaber der Freundin zu verlieben, war sie gewissermaßen vorbestimmt und gab mir ihre Gefühle öfters in der ihr eigenen spaßhaftmürrischen Weise zu erkennen. Als Eugen in unseren Kreis trat, entspann sich zwischen ihm und Ida eine kindlich-düsterleidenschaftliche Beziehung, die sofort abbrach, als er nach München abreiste. Sie schrieb ihm einen Abschiedsbrief, der ihn bitter kränkte und ihn zu der brieflichen Mahnung an mich veranlaßte, ich möchte meine Fanny so wenig als möglich mit einem Wesen verkehren lassen, dessen Herzlosigkeit er so tief erkannt hatte.

Stärker hingezogen als zu Ida fühlte ich mich zu einer um vier Jahre älteren Cousine Fännchens, Fanny Mütter, einem anmutigen, wahrhaft liebenswürdigen Geschöpf, das sich zur Sängerin ausbildete, mit einem echten Freundschaftstalent begabt, wie es, wenigstens in so frühen Lebensjahren, wohl nur bei Frauen ohne eigentliche erotische Anlage vorzukommen pflegt. Sie war es, die bei den nicht seltenen Mißverständnissen und Eifersüchteleien zwischen Fännchen und mir die sanfte Vermittlerin und sogar die gefällige Liebesbotin abgab, wobei es nicht fehlen konnte, daß sie selbst manchmal für Fännchen ein Gegenstand der Eifersucht wurde. Nicht ganz ohne Grund. Zwar war sie, und nicht nur mir gegenüber, fast ohne jede Koketterie, doch fand ich in ihr das erste weibliche Wesen, das mir ein tieferes, gewissermaßen ahnungsvolles Verständnis entgegenbrachte; sie glaubte an meine poetische Begabung, wenn ich selbst zum Zweifel sehr geneigt war, schalt mich wohl auch freundlich ob der allzu klar zutage liegenden Eigenheiten und Unarten, die meine innere Weiterbildung störten und aufhielten; sie nahm meine Partei gegenüber mißgünstigen und gestrengen Beurteilern, später auch meinem Vater gegenüber, der immer dabei blieb, daß er dichterisch weit höher veranlagt gewesen wäre als ich, und daß aus mir nie was Rechtes werden würde. Von ihr schied ich fast jedesmal gestärkten und erhobenen Gemütes, auch ein wenig verliebt, und gestand ihr beides in sentimental-affektierten Briefen »An eine Unbekannte«, die ich geschmackvoll genug war, niemals an sie abzusenden. Ihre[109] erste Neigung gehörte einem häßlichen, brustkranken Klaviervirtuosen, der in jungen Jahren starb; später war sie halb und halb verlobt mit einem unbedeutenden jungen Arzt, der sie um einer besseren Heirat willen verließ. Bei der Bühne blieb sie nur kurze Zeit. Ihre Stimme war wohl hübsch, ihre Gesangskunst bei der berühmten Marchesi trefflich ausgebildet worden, man sprach ihr auch ein nettes Spieltalent zu, aber ihr völliger Mangel an innerer und äußerer Leidenschaftlichkeit, sowie eine gewisse Neigung zu körperlicher Bequemlichkeit, vielleicht auch ihre untrübbare seelische Reinheit war die Schuld daran, daß sie eine künstlerische Laufbahn abbrach, auf der ihr keine Lorbeeren blühten, und daß sie sich dem Gesangsunterricht widmete, wo ihre Musikalität, ihre Geduld und ihre pädagogische Veranlagung ein ersprießlicheres Feld fanden. Wir werden ihrem wahrhaft gütigen und durchaus unproblematischen Wesen im Laufe dieser Erinnerungen noch manchmal begegnen.

Fanny Mütters Bruder, ein rechter Taugenichts, dessen gutmütig-pfiffigem Witz es an Maß und Feinheit allzusehr gebrach, stellte in unserem Bummelkreis ein nicht so sehr unentbehrliches, als vielmehr stets vorhandenes Element vor, und ich selbst stand mit ihm in ganz guten Beziehungen bis zu einem Augenblick, der zugleich eine kleine Krise in meinem Verhältnis zu Fännchen bedeutete. Diese gestand mir nämlich eines Tages – ich weiß nicht, warum, ob aus echtem Wahrheitsdrang, ob aus einem halb unbewußten Rachebedürfnis gegenüber meiner von ihr vermuteten oder vorhergeahnten Neigung zur Untreue, vielleicht auch aus jenem seelischen Exhibitionismus, der nicht selten ein Motiv verspäteter Schuldgeständnisse vorstellt, – daß ihr Vetter zu einer Zeit, da er ein dreizehnjähriger Bub und sie ein zehnjähriges Mädel gewesen, sich einmal in einer von ihr damals selbst nicht ganz begriffenen Weise gegen sie vergangen hätte. Ich nahm die Sache furchtbar schwer, schrieb am 27. Mai 1882 die schwarzumränderten Worte in mein Tagebuch: »Heute erfuhr ich das tiefste Leid meines Lebens«, und gab dem Verführer ohne jede Angabe von Gründen in einem trockenen Brief zu wissen, daß ich mich zu meinem Bedauern genötigt sehe, den Verkehr mit ihm ein für allemal abzubrechen. Er erwiderte mir, vielleicht ganz ehrlich, daß er sich meinem Entschluß, so unbegreiflich er ihm auch sei, selbstverständlich füge. Ob von diesem lächerlichen Briefwechsel[110] später jemals zwischen uns die Rede war, ist mir nicht erinnerlich; jedenfalls stellte sich unser Verkehr, der immer des intimeren Charakters entbehrt hatte, da wir ja beide weiter dem gleichen Kreise angehörten, sozusagen automatisch in der nächsten Zeit wieder her. Nicht auf lange, denn die leichtsinnigen Streiche des jungen Mannes spielten bald auf das kriminelle Gebiet über. Wegen einer Wechselfälschung in Gefahr sofortiger Verhaftung, flüchtete er nach Amerika, und so konnte ich mich endlich neben anderen dubiosen Exemplaren meiner Galerie auch eines steckbrieflich verfolgten Freundes rühmen. Erst nach vielen Jahren durfte er in die Heimat wiederkehren, im Wesen nicht erheblich verändert, doch in äußerlich geordneten Verhältnissen. Sein gutmütig-großschnauziges, humoristisch-aufschneiderisches Wesen hatte ihm zu einer Stellung und zu einer Frau verholfen, und als umherreisender, später in Berlin ansässiger Vertreter einer überseeischen Pianolafabrik ist er, kaum fünfzig Jahre alt, gestorben.

Auch in meiner Beziehung zu Fännchen hatte sich durch jenes – bis dahin – tiefste Leid meines Lebens für die Dauer nichts geändert, nur daß ich sie für ihr Geständnis durch wiederholte Vorwürfe und immer erneute Quälereien in nicht sehr edler Weise büßen ließ. An Mißhelligkeiten, wie an wirklichen und eingebildeten Gründen dazu, hatte es schon vorher in unserer Beziehung keineswegs gemangelt. Ihre Eltern waren, wie leicht zu begreifen, mit unserem Liebeshandel in all seiner Unschuld nichts weniger als einverstanden, und schon wenige Monate, nachdem ich Einlaß in ihr Haus erhalten, wurde es mir auf Betreiben von Fännchens älterem Bruder Rudolf, einem meist übelgelaunten, unbedeutenden Jungen, der einmal gesehen hatte, daß wir uns küßten und diesen »Vorfall«, wie er mir in geschäftsmäßigem Ton schrieb, »zu bemerken und seinen Eltern zu erzählen nicht vergaß«, das Haus verboten. Dieses Verbot hielt sich zwar nicht lange aufrecht, so wie auch das Zerwürfnis mit Rudolf (der später Selbstmord verübte) nicht andauerte; aber daß meine Besuche auch weiterhin ungern gesehen wurden, wenngleich man mir äußerlich freundlich entgegenkam, war um so erklärlicher, als man die Tochter mit einem wohlhabenden Verwandten, dem Bankier Jakob Lawner, einem Mann von etwa vierzig Jahren, der gar nicht übel aussah, zu verheiraten wünschte. Sie leistete tapferen Widerstand, ohne[111] daß ich sie dazu besonders ermutigt hätte; viel eher riet ich ihr wiederholt mit altklugen Gründen und wohl in dem Wunsch, mich jeder Verantwortung zu entziehen, sie möge eine so vorteilhaft erscheinende Verbindung nicht von der Hand weisen. Denn wenn ich auch zu fühlen glaubte, daß sie mir »geistig unter den Händen wachse« und es mich angenehm berührte, daß manche Leute in unserer Umgebung eine Ähnlichkeit zwischen uns zu finden glaubten, – ja, wenn ich sogar einmal, gewiß ohne echte Überzeugung, in mein Tagebuch kurz und bündig die Notiz eintrug: »Verlobten uns«, – sie dachte kaum ernstlicher daran, daß aus uns jemals ein Ehepaar werden könnte, als ich selbst, dessen Treue sich auch in jener Zeit, da ich mich doch halb und halb gebunden wähnen sollte und wollte, in manchen mehr oder minder bedenklichen Versuchungen nur schwach bewährte.

Besonders die Tanzgelegenheiten aller Art fingen an, mir gefährlich zu werden. Bei der Crombé, in der Tanzschule der gebildeten Mittelstände, war Fännchen freilich unumschränkte Herrscherin gewesen; in die vorstädtischen Tanzschulen aber, die ich nicht gerade zu Lernzwecken zuweilen aufsuchte, wo mir aber die ersehnten Erfolge nur in sehr bescheidenem Maße blühten, konnte sie mir als Mädchen aus gutem Hause nicht folgen; und auch der Mehrzahl der öffentlichen Bälle, die ich nun zu frequentieren anfing, blieb sie fern. Mein Debüt fand, wie programmgemäß, auf dem Medizinerkränzchen im Grand Hotel statt, verlief jedoch nicht sehr glücklich, da ich, ein mehr leidenschaftlicher als geschickter Tänzer, mit einer meiner Damen, einer langen, gelben Arztenstochter, zu meiner großen Beschämung gegen Schluß des Balles der Länge nach hinfiel. Meine Tanzlust kühlte darum nicht aus, vielmehr blieb es noch manchen Fasching lang mein Ehrgeiz, auf jedem Ball bis zum letzten Geigenstrich und bis zum Verlöschen der Lichter durch den Saal zu rasen, schon darum, weil die Schlußschnellpolka meinem temperamentvollen Dilettantismus mehr zusagte als der Sechsschritt, in dem ich es nie zur Vollendung brachte.

Schon auf einem meiner ersten Bälle, zu Anfang des Jahres 80, hatte ich eine üppige, rotbäckige Blondine, Wirtstochter aus Purkersdorf, kennengelernt. Wir trafen nachher ein paarmal an Winter- und Frühlingsabenden im Weghuberpark, im Jahre darauf wieder auf Bällen zusammen, und ohne Zweifel war nur[112] unsere, vielleicht auch nur meine Unerfahrenheit schuld daran, wenn unsere Zärtlichkeit, die schon in der ersten Tanznacht recht weit gediehen war, sich auch weiterhin innerhalb recht unschuldiger, wenn auch nicht ungefährlicher Grenzen hielt und endlich erlosch, ohne zur rechten Flamme ausgeschlagen zu haben. Viele Jahre später erst sah ich sie zum letztenmal in dem ländlichen Wirtsgarten ihrer Eltern wieder, wo ich auf einem Ausflug in Gesellschaft meines Bruders und eines Bekannten einkehrte. Sie bediente die Gäste, stellte auch uns das Bier auf den Tisch, und als ich sie fragte, ob sie sich meiner erinnere, nickte sie, nannte kühl meinen Namen und wandte sich unbewegt anderen Gästen zu.

Noch weniger heroisch war die Rolle, die mir kurz darauf bei einem anderen Abenteuer zugewiesen war, dessen Einzelheiten sich mir trotzdem lebhafter als die manches glücklicheren eingeprägt haben. Seit einiger Zeit zählte ein aus Czernowitz gebürtiger Studiosus juris zu meinen näheren Bekannten, der mir wahrscheinlich dadurch interessant geworden war, daß er Schauspieler werden wollte, Gedichte schrieb und ein Jugenddrama, betitelt »Zwei Welten«, in sich herumwälzte oder schon vollendet hatte. An einem Novemberabend des Jahres 1881, auf einer unserer Promenaden durch Vorstadtstraßen in der Neubau- und Josefstädtergegend, fügte es sich, daß wir uns nach etlichen wohlaufgenommenen Einleitungsworten zwei jungen weiblichen Geschöpfen als Begleiter anschlossen, für die die Bezeichnung »süßes Mädel« zwar damals noch nicht existierte, die aber – wenigstens die eine von ihnen – mit einem gewissen Recht Anspruch erheben durfte, nicht nur ein süßes, sondern sogar, wenn es auch viele hunderttausend vor ihr gegeben hat – das erste süße Mädel genannt zu werden. Und ich muß es geahnt haben, daß dieses Wesen, wenn auch nicht als individuelle Erscheinung, gewissermaßen als »Idee« für meine dichterische Entwicklung bedeutungsvoll werden sollte; sonst wäre es nicht zu verstehen, daß ich noch am gleichen Abend, sofort nach unserem harmlosen Spaziergang zu viert, mich mit einer Ausführlichkeit in meinem Tagebuch über sie ausließ, die sonst meine Art nicht war. Sie war Choristin an einer Bühne, die ich mehr aus Gründen der Belletristik, als aus solchen einer in diesem Fall ganz zweck- und sinnlosen Diskretion, nur mit drei Sternchen zu bezeichnen für richtig fand. Im übrigen schilderte ich[113] sie für mich selbst mit folgenden Worten: »Prototyp einer Wienerin, reizende Gestalt, geschaffen zum Tanzen, ein Mündchen, das mich in seinen Bewegungen an das Fännchens erinnert (welcher Mund, der mir gefiel, hätte das damals nicht getan!), geschaffen zum Küssen – ein Paar glänzende lebhafte Augen. Kleidung von einfachem Geschmack und dem gewissen Grisettentypus – der Gang hin und her wiegend – behend und unbefangen – die Stimme hell – die Sprache in natürlichem Dialekt vibrierend; was sie spricht – nur so, wie sie eben sprechen kann – ja muß, das heißt lebenslustig, mit einem leisen Anklang von Übereiligkeit. ›Man ist nur einmal jung‹, meint sie mit einem halb gleichgültigen Achselzucken. – Da gibts nichts zu versäumen, denkt sie sich ... Das ist Vernunft in die lichten Farben des Südens getaucht. Leichtsinnig mit einem abwehrenden Anflug von Sprödigkeit. Sie erzählt mit Ruhe von ihrem Liebhaber, mit dem sie vor wenigen Wochen gebrochen hat, erzählt lächelnd mit übermütigem Tone, wie sie nun so viele, die leicht mit ihr anzubinden gedenken, zum Narrn halte, was aber durchaus nichts Französisches, Leidenschaftlich-Dämonisches an sich hat, sondern ganz heimlich humoristisch berührt, solange man nicht selber der Narr ist. Dabei dieses merkwürdig Häusliche – wie sie zum Beispiel von ihrem Liebhaber (›besaß er sie?‹ setzte ich naiv-zweifelnd hinzu) tadelnd bemerkt, er hätte zuviel Karten gespielt – und man müsse sparsam sein usw. Die obligaten Geschwister mit den Eltern zu Hause, die tratschenden Nachbarn in den Nebengassen, jeden Moment der erste Ton – und auch eine ganz volkstümliche Melodie. –«

Ein paar Abende darauf spazierten die beiden Paare wieder in herbstlichen Gärten und stillen Gassen hin und her. Wieder erzählte mir Gusti von ihrem Liebhaber, der aber nicht ihr Geliebter gewesen sei und dem sie den Abschied gegeben, weil er sich so viel mit »leichten Mädchen« umhergetrieben; von einem Selbstmordversuch, den sie vorher schon wegen Tratschereien über sie verübt – allerdings mit Morphium, obwohl sie auch Zyankali zur Verfügung hatte (»so lebensüberdrüssig, daß sie Zyankali nahm, war sie doch nicht«, setzte ich sardonisch hinzu). Und endlich äußerte sie ihre wohlbegründeten Zweifel an der Unberührtheit ihrer Freundin Minna, die ein paar Schritte vor uns an meines Kameraden Seite einherwandelte, im übrigen nicht sonderlich hübsch und mir sehr zuwider war. Man begab[114] sich in ein kleines Gasthaus, wo Leo, von Natur etwas laut, zum Deklamieren geneigt und von fragwürdigen Manieren, das große Wort zu führen begann. Auch als Possenreißer zeichnete er sich aus, ließ es an schlimmen Zoten nicht fehlen und trug endlich einen höchst unzweideutigen Vierzeiler vor – ach, ich habe seinen Wortlaut nie wieder vergessen – der nicht nur, wie selbstverständlich, die unkeusche Minna, sondern zu meiner Betrübnis auch das um so viel reinere Fräulein Gusti nicht nur nicht verletzte, sondern höchlich zu amüsieren schien. Auf dem Nachhauseweg, wo Leo, durch seinen Erfolg berauscht, immer kühnere Töne anschlug, konnte ich mir nicht verhehlen, daß er mich bei meiner anmutigen Choristin vom Theater zu den drei Sternen auszustechen im Begriffe war; und als wir vor ihrem Haustor Abschied nahmen, erklärte sie, daß sie bei unserem nächsten Zusammensein zwischen uns die endgültige Wahl treffen werde. Ich ließ die Galgenfrist literarisch nicht ungenützt verstreichen. Ein Volksstück begann sich in mir aufzubauen mit einem Mädchen von Gustis Art als Hauptfigur; und folgende Schlagworte wurden aufnotiert: »Die verführte Freundin. – Die vorstädtischen Tanzschulen. – Der Ledergalanteriewarenhändler, der ins Haus kommt. – Die schlecht und recht zusammengekittete Häuslichkeit. – Die Vertrauensseligkeit der Eltern.« – »Alles kenn' ich so gut«, schrieb ich dazu. »Bin an allen Orten so heimisch, mit allen Personen so wohlbekannt«; – und doch währte es noch ein Dutzend Jahre, und manches Erlebnis mußte durchlebt und manches Leid erlitten und zugefügt werden, ehe das »Fräul'n am Brunnen«, wie nach der Heldin mein Stück betitelt sein sollte, sich in Christine Weiring und ihre Freundin sich in die Schlager Mizi wandelte.

Nun aber bleibt noch zu berichten, wie das kleine Abenteuer in Wirklichkeit endete. Als Leo und ich Gusti das nächste Mal gegenübertraten, spielte sie so lange die Unschlüssige, bis wir sie aufforderten, durch eine Handbewegung den Jüngling ihrer Wahl zu bezeichnen. »No«, sagte sie endlich, »no meinetwegen der rechts.« Mir als Linkstsehendem blieb nichts übrig, als in edler Haltung, die sich bei solchen Gelegenheiten automatisch einstellt, in einer Nebengasse zu verschwinden. Wie sich aber die Liebelei zwischen dem ersten süßen Mädel, das durch eine Ironie des Schicksals nicht das meine wurde (denn das Schicksal liebt es, mit ungeschickten Leuten ironisch umzugehen), und[115] meinem glücklicheren Freund weiterentwickelte, habe ich niemals erfahren oder habe es vielleicht nur vergessen. Eine neuere Psychologenschule würde kaum umhin können, hier die unbewußte Verdrängung einer mir unangenehmen Tatsache zu vermuten; – sollte diese Vermutung sich bewahrheiten, so bedauere ich nur, daß ich nicht verstanden habe, mein Verdrängungstalent im Laufe der Jahre weiter auszubilden. Pepi Mütter, dem ich mein Mißgeschick klagte, erklärte mir wortwitzelnd: »Leo hatte sich freier benommen als du, so hatte er auch als Freier mehr Glück.« Jedenfalls habe ich Gusti nach jenem Entscheidungsabend niemals wiedergesehen, während Leo mir zwar bald für Jahre aus den Augen schwand, mir aber in gewissen Perioden seiner Existenz immer wieder über den Weg lief und nicht ungern für eine Weile sich mir anschloß, so insbesondere zu Beginn der neunziger Jahre, als er ein Drama »Die Athenerin« vollendet hatte, durch dessen erfolgreiche Aufführung am Burgtheater er sich eines kurz dauernden Ruhms erfreuen sollte, den zu tragen seine Schultern sich zu schwach erwiesen. (Bei dieser Gelegenheit und wohl auch später wird von ihm noch die Rede sein.)

Hier aber möchte ich noch einiger anderer Altersgenossen Erwähnung tun, mit denen ich in meinen ersten Universitätsjahren einen lebhaft einsetzenden, aber mehr oder minder rasch verebbenden Verkehr pflog. Starke Hoffnungen knüpfte ich anfangs an die gleichzeitig beginnende Freundschaft mit Heinrich Kahane und Siegmund Schneider. Der eine war Mediziner in meinem Jahrgang, ein geistreicher, doch etwas vertüftelter Kopf, seinem erwählten Studium nicht ohne Ernst zugewandt; der andere ein vielseitig, aber durchaus oberflächlich begabter junger Mensch, der, glaube ich, nicht einmal die Matura bestanden hatte und sich durch eine gewisse trockene, nicht ganz humorlose Lügenhaftigkeit auszeichnete. Da wir alle dichterisch oder wenigstens schriftstellerisch beflissen waren, wurde vor allem ein in rotes Leder gebundenes Heft angeschafft, das von Woche zu Woche zwischen uns zur Aufzeichnung von Aphorismen hin und her wandern sollte. Aber nachdem jeder ein einziges Mal sein Pensum eingetragen (ich plünderte zu diesem Zweck meinen »Aegidius«), war es mit unserer literarischen Gemeinsamkeit höchst vorbedeutungsweise auch schon zu Ende, jeder riß aus dem schönen Heft das ihm gehörige Blatt heraus[116] und aphoristelte auf eigene Faust weiter. Eines Abends sollte sich in irgendeinem Wirtshaus der inneren Stadt, wenn ich nicht irre, auf eine Zeitungsannonce hin, ein »Klub der Idealisten« zusammenfinden, dem wir drei beizutreten gedachten. Wir warteten eine Weile in dem bezeichneten Lokal nicht ohne Ängstlichkeit, ob unsere geringe Barschaft zur Begleichung der kleinen Zeche ausreichen würde, doch kein vierter Idealist erschien, und ich halte es für wahrscheinlich, daß der ganze Klub nur im Kopf unseres Freundes Siegmund vorhanden gewesen war, der sich in solchen Mystifikationen gefiel. Sein schwindelhaftes Wesen kam auch bei anderen Gelegenheiten zum Ausdruck, so zum Beispiel anläßlich jenes schon erwähnten Schützenfestes im Prater, wo er an einem mit fremden Leuten vollbesetzten Tisch einen flammenden Toast auf die Französische Revolution auszubringen für richtig fand, was höchliches Mißfallen erregte. Was er eigentlich studierte, welchen Beruf zu ergreifen er willens war, darüber waren damals weder er selbst noch andere sich im klaren. Er beschäftigte sich mit Medizin und Philosophie, zeichnete, musizierte, schriftstellerte, all dies in gleich dilettantischer Weise, geriet sehr bald, wie nicht anders zu erwarten war, in die Journalistik, und starb im Alter von fünfzig Jahren als Redakteur einer illustrierten Wiener Zeitung.

Geordneter ging Heinrich Kahane seinen vorgesetzten Weg. Er lebt heute als gesuchter praktischer Arzt in einem Vorstadtbezirk Wiens, hat aber seine philosophischen Interessen und Bestrebungen keineswegs aufgegeben. Eine erkenntnistheoretische Arbeit, die zu lesen ich leider bisher versäumt habe, wurde mir von verständigen Beurteilern sehr gerühmt. Unser engeres Verhältnis hatte kaum ein Jahr zu überdauern vermocht.

Von anderen medizinischen Kollegen, mit denen ich in den ersten Studienjahren in Hör- und Arbeitssälen mehr zu plaudern als zu hören und zu arbeiten pflegte, wäre noch Richard Kohn, der spätere Doktor Kerry zu nennen; der Sohn des Dichters Lorm, Landesmann, endlich der Bruder des Anatomen und spätere berühmte Urolog Otto Zuckerkandl, der mir einmal im Seziersaal lebhaft zuredete, einer Couleur beizutreten (er selbst gehörte einer Landsmannschaft an und war als Schläger gefürchtet) mit der Begründung, daß mir ein Schmiß sehr gut zu Gesichte stehen würde.[117]

Gleichfalls in meinem ersten Studienjahr war es, daß ich eines Morgens im Café Ruthmayr, einem der Lokale, in dem ich mich allzuoft statt in Hörsälen und Laboratorien aufzuhalten pflegte, zufällig mit einem mir von früher her bekannten einundzwanzigjährigen jungen Mann, dem Sohn des Redakteurs Gans v. Ludassy, zusammentraf, der eben von einem längeren Pariser Aufenthalt in seine Vaterstadt zurückgekehrt war, um hier seine Studien zu beenden. Von auffallend blasser, ins gelbliche spielender Gesichtsfarbe, mit dunklem Spitzbart, gekraustem vollem Haupthaar und absichtsvoll glühenden Augen glich er ungefähr dem Bilde, das man sich damals von einem Pariser Bohemien zu machen gewohnt war, und ich vermute, daß er diese Maske nicht ganz unbewußt, vielleicht mehr für sein Wiederauftreten in Wien als für seinen Aufenthalt in Paris zu wählen für gut befunden hatte. Wir gerieten sehr rasch in die lebhafteste Unterhaltung; er erzählte von Paris, vom Quartier Latin, von Freunden, die er dort gewonnen und zurückgelassen, und mir war besonders die Geschichte eines jungen Dichters interessant, der sich nach Ludassys wirkungsvollem Bericht zusammen mit seiner Geliebten durch ein Übermaß sinnlichen Genusses hatte töten wollen, was aber nichts anderes zur Folge gehabt hätte, als daß die Liebenden in Ekel voneinander geschieden waren. An manchem nächsten Vormittag (meist am selben Kaffeehausfenster, an dem ich abends Fännchen zu erwarten pflegte, die zu verabredeter Stunde aus ihrem gerade gegenüberliegenden Wohnhaus trat) fand jene erste Plauderstunde ihre erwünschte Fortsetzung. Ludassy erzählte mir von seinen dramatischen Plänen, unter denen mir ein später unter anderem Titel ausgeführter »Jean qui rit« den stärksten Eindruck machte; und ich für meinen Teil war sehr froh, für meine eigenen, mehr oder minder weit gediehenen Entwürfe in ihm ein verständnisvolles und dankbares Publikum zu finden. Er drückte sich stets in einer höchst gewählten, fast druckreifen Sprache aus, streute gern irgendeine Bemerkung von überraschendem Zynismus ein – zum Beispiel »Mein Vater ist nämlich ein Esel« (er sagte affektierterweise »Ehssel«) und pflegte nach Abschluß eines bedeutungsvollen Satzes seine Augen prüfend, fast drohend, in die seines Partners zu bohren, um plötzlich grundlos und dröhnend aufzulachen. All dies wirkte auf mich anfangs nicht so sehr als Manier wie vielmehr[118] als bizarrer Ausdruck einer eigenartigen Persönlichkeit; und da ein sehr wesentliches Persönlichkeitselement, nämlich die Tendenz zur inneren Weiterentwicklung, sich meist erst viel später aus den Leistungen erkennen läßt, so muß die Überschätzung einer so vielversprechenden und sogar vielseitigen Begabung, als die Ludassy zweifellos auftrat, insbesondere von seiten eines jüngeren, überdies in seiner Eitelkeit geschmeichelten Gleichstrebenden, wie ich es damals war, durchaus begreiflich erscheinen. Wie sehr imponierte es mir, als in dem Jahrbuch »Die Dioscuren« Aphorismen von ihm erschienen, in einem Sonntagsblatt nachgedruckt waren und von einem Kollegen meines Vaters als geistvoll bezeichnet wurden! Bei einer ziemlich lächerlichen Gelegenheit war es mir leider schon kurz nach Beginn unserer Bekanntschaft beschieden, mir sein Mißfallen zuzuziehen. Mit meinen harmlos leichtfertigeren Freunden, zu denen außer Deimel, Pichler, Pepi Mütter noch einige andere, völlig unbeträchtliche Jünglinge zählten, aß ich manchmal in einem kleinen Wirtshaus zu Abend, wobei hie und da auch studentische Kneipsitten ohne innere Berechtigung und mehr zum Spaß nachgeahmt wurden; und einmal, ich weiß nicht, wie es kam, hatte sich auch Ludassy zu einer solchen Zusammenkunft eingefunden. Ich hatte den Einfall, in einem heiteren Toast auf den illustern Gast in scherzhaft übertriebener Weise dessen Eigenschaften, Bestrebungen und Leistungen zu rühmen, sprach von den Rechts- und Philosophiestudien, die er berufsmäßig trieb, von seinen hochfliegenden, poetischen Plänen und endlich von seiner anonymen, bisher geheim gebliebenen Mitarbeiterschaft an dem Witzblatt »Der Floh«, wo er sich allwöchentlich als der philosophische Einsiedler Kniebeiß vom Bisamberg über Politik und Kunst satirisch auszulassen pflegte. Nun hatte es sich kurz vorher ereignet, daß ich ihn nachts im Café Central, vor einem Absynth sitzend, und mit gläsernem Blick in den Spiegel starrend, angetroffen und er mir auf eine Frage oder auch nur auf einen fragenden Blick erwidert hatte: »Ich will sehen, wie ein Kerl aussieht, der eben fünfmal der Liebe gefrönt (er wählte einen gangbareren Ausdruck) und zwei Flaschen Champagner getrunken hat.« – Es ist mir in der Erinnerung nicht sehr wahrscheinlich, daß ich in meinem Toast auch dieser Begegnung Erwähnung getan, aber ich möchte es auch nicht mit Sicherheit in Abrede stellen. Jedenfalls[119] boten ihm meine übrigen Indiskretionen Anlaß genug, mir bei unserem nächsten Zusammentreffen seine Mißbilligung in schärfster Weise auszudrücken. »Sie haben mich ja nackt ausgezogen«, sagte er. »Vor fremden Leuten nackt ausgezogen.« Und er beharrte auf diesem Wort in immer erneuter Wiederholung mit solcher Entschiedenheit, daß all meine Rechtfertigungsversuche, insbesondere die aufrichtige Betonung meiner guten Absichten, dagegen vollkommen zu versagen schienen.

Trotzdem hatte ich schon damals allen Grund, zu vermuten, daß ihn mein Toast eher geschmeichelt als verletzt hatte, und tatsächlich änderte sich bis auf weiteres nichts an der Natur unserer Beziehungen.

Am gleichen Kaffeehaustisch fanden sich zuweilen und bald ganz regelmäßig zwei Freunde Ludassys aus früherer Zeit ein, beide wie er Juristen und literarisch interessiert. Der eine, Gustav Frieberger, war ein hübscher, schlanker, junger Mann mit einer stets belegten Stimme, die zu seinem feinen, etwas geziert melancholischen Wesen vorzüglich paßte. Der andere, Fritz Schik, fiel vor allem dadurch auf, daß er schon damals, ein Zwanzigjähriger, die Marotte hatte, als raunziger Wiener Hofrat, Hypochonder, Menschenfeind oder Sonderling schlechtweg aufzutreten. Er bewohnte – ob schon damals oder etwas später, weiß ich nicht – in einem seinem Vater, einem wohlhabenden Notar, gehörigen Hause ein Stockwerk für sich allein, verließ die Wohnung niemals ohne Überzieher, auch an den heißesten Tagen, vermied es, Türklinken unbehandschuht anzurühren, hatte als Theaterfex seine unverrückbaren, übrigens selten ungerechten Sympathien und Antipathien gegenüber bestimmten Schauspielern, vexierte die Kellner in Gast- und Kaffeehäusern in der ausgesprochenen Absicht, ihnen »die Lebensfreude abzugewöhnen«, und hatte eine spaßhaft-unwirsche, oft paradoxe Art, sich über Gott, Welt und was sich sonst eben traf, auszulassen. Er führte seine Rolle, die beinahe schon seine Natur war, mit solcher Konsequenz durch, daß man wie an jeder gelungenen runden Leistung daran sein Vergnügen haben konnte. Freilich dürfen Chargen dieser Art nicht allzulange auf der Bühne stehen oder sie gar mit ihrer episodischen Persönlichkeit ganz erfüllen wollen; in welchem Fall es ihnen nicht erspart bleiben wird, wie es auch zuweilen unserem Schik passierte, ermüdend oder gar abgeschmackt zu wirken.[120]

Diese drei, Ludassy, Frieberger und Schik, alle nur um wenige Jahre älter als ich, empfand ich, obwohl sie es in ihrem gegenseitigen Verhältnis keineswegs waren, als eine in sich geschlossene Gruppe, wohl darum, weil sie meinen literarischen Versuchen gegenüber zuerst als eine Art Publikum sich konstituierten und ich von ihnen gemeinsam Anerkennung und Kritik, jedenfalls ernstliche Aufmunterung zu weiterem Schaffen erfuhr. Aber auch diese Beziehungen waren nicht für die Dauer gegründet; sie lockerten sich schon kurz nach ihrem Beginn, doch blieb ein freundlicher Verkehrston immer gewahrt, der freilich, je mehr man sich der Höhe des Lebens näherte, tieferer seelischer Mitschwingung immer mehr entbehrte. Dieses Mißverhältnis zwischen Verkehrston und Inhalt sollte in meiner Beziehung zu Ludassy am deutlichsten zum Ausdruck kommen, hauptsächlich darum, weil er sich durch eine Heirat mit mir entfernt verschwägerte und er meinen späteren Erfolgen, die auf literarischem Gebiet die seinigen übertrafen, nicht mit der wünschenswerten Ruhe zuzusehen imstande war. Wenn er auch als Journalist nicht das hielt, was man nach seinen Anfängen wohl von ihm erwarten durfte, so ist daran gewiß sein nicht so sehr nach einer höheren, als nach einer falschen Richtung gewandtes Streben mit schuld gewesen; und die unliebsamen Wandlungen, die enttäuschter Ehrgeiz in Charakteren hervorzubringen oder wenigstens deutlich zu machen pflegt, habe ich an Beispielen, die mich stärker berührten, so bis ins kleinste beobachten können, daß ich – insbesondere an dieser, für derlei Betrachtungen noch verfrühten Stelle – bei einem für die Geschichte meines Lebens minder bedeutsamen Einzelfall nicht länger verweilen möchte.

Bei den anderen beiden Mitgliedern unserer kleinen Gruppe trat eingebildete oder wirkliche Rivalität zum mindesten nicht so offensichtlich zutage. Frieberger, der mich durch eine Novellette »Der letzte Flittertag« von seinem Talent überzeugt, und der mir nicht nur durch sein Glück bei Frauen, sondern auch dadurch einigen Neid eingeflößt hatte, daß er – damals – einzig seinem dichterischen Beruf leben konnte, sah sich durch eine frühe Heirat mit einer unbemittelten Sängerin zwar bald auf Tagesschriftstellerei angewiesen, doch da er sich ausschließlich im politischen und finanziellen Teil seiner Zeitung zu betätigen hatte, mag es ihm leichter geworden sein, sich seines[121] künstlerischen Ehrgeizes zu entäußern, als manchen seiner journalistischen Kollegen, die für ihre eigenen unerfüllten Träume sich an den erfüllten oder scheinbar erfüllten ihrer Jugendgenossen als Rezensenten schadlos zu halten suchen. Fritz Schik, der gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft den Wunsch ausgedrückt hatte, mit mir gemeinschaftlich ein Stück zu schreiben, zog es vor, nach einigen ohnmächtig-bizarren dramatischen Versuchen, von denen mir ein Akt »Adam und Eva« noch in Erinnerung ist, sich auf gelegentliche essayistisch-kritische Tätigkeit zu beschränken. Als zu Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die literarischen Neuströmungen vom Norden Deutschlands aus endlich auch auf Wien übergriffen, nahm er in seiner Weise an der Bewegung teil, indem er sich fortschrittlich-konservativ, raunzerisch-enthusiastisch gebärdete, wie es die Laune des Moments, seine persönlichen Sympathien und Antipathien und auch ein wirklich vorhandener Kunstverstand von ihm forderten. Später, durch einen völligen Bruch mit seinem Vater in unsichere, wohl gar bedrängte Verhältnisse geraten, eröffnete sich ihm eine dramaturgische Arbeits- und Plaudergelegenheit an der Seite des Hamburger Schauspieldirektors Baron Berger, der ihn, als er selbst ans Burgtheater berufen wurde, als seinen Berliner dramatischen Konsulenten weiter beschäftigte und besoldete. Noch mancher persönlichen Begegnung mit ihm werde ich zu gedenken haben.

Adolf Weizmann war es, dem ich die Bekanntschaft mit dem um ein paar Jahre älteren Josef Winter verdankte, einem Mediziner von unleugbarer, wenn auch nicht sehr ursprünglicher lyrischer Begabung. Auch diese Begabung empfand ich, und die lyrische gewiß nicht mit Unrecht als eine der meinen überlegene, und da ich mich zu ihm hingezogen und irgendwie innerlich mit ihm verwandt fühlte, berührte es mich sehr, als er einmal, von seinen interessant-wechselnden Seelenstimmungen erzählend, als erkenne er sich eigentlich kein Recht dazu, resigniert bemerkte: »Und doch bin ich kein Genie, sondern nur ein Talent.« Ein paar Jahre später gewann er mit einer »Hymne der Deutschen in Österreich« einen von der Wiener »Deutschen Zeitung« ausgesetzten Tausendguldenpreis. Bald darauf ließ er einen Band Gedichte erscheinen, der viel Erfolg hatte. In Verbindung mit Richard von Kralik gab er »Puppenspiele« heraus. Sein dichterischer Stern schien im Aufgehen, doch nur, um bald[122] wieder zu verlöschen; verspätet, da er als Hofmeister seinen Unterhalt erwerben mußte, machte er sein medizinisches Doktorat, bildete sich als Schüler Billroths zu einem tüchtigen Chirurgen aus, strebte und streberte immer weiter und hätte sich vielleicht, als er durch seine Heirat mit einer zufällig sehr häßlichen, geschiedenen Frau vielfacher Millionär wurde, endlich, zumindest auf dem Gebiete der Lebenskunst, ein Genie dünken dürfen. Er rückte, ein seltener Fall in der Reserve, zum Stabsarzt vor, betätigte sich, wie schon früher, als Organisator einer Stiftung für Krebskranke, in der Kriegszeit unermüdlich erfolgreich und keine materiellen Opfer scheuend in dem seiner Leitung anvertrauten Spital als Arzt, was man ihm, wo immer man die Motive suchen möchte, umso höher anrechnen muß, als er mitten in Arbeit und Überarbeitung an einem Herzleiden zugrunde ging.

Freundschaftlicher, intimer jedenfalls, stand ich in jenen ersten Universitätsjahren mit einem andern dichtenden Mediziner, Fritz Kapper, wenn er mir auch weniger imponierte. Trotzdem er Gedichte, meist in Baumbach'scher Manier, schrieb und eines, »Gott grüß Frau Minne wieder«, sogar in der »Heimat« veröffentlicht war, stellte ich schon damals für mich fest, daß er niemals etwas Bedeutendes hervorbringen würde. Mit ihm zusammen unternahm ich im Jahre 1881 meine erste Ferienreise ohne elterliche Begleitung; und daß sich mein Vater auf dem Bahnhof mit einer so düsteren Miene von mir verabschiedete, als sei ich eben im Begriffe, einen Akt der Pietätlosigkeit zu begehen, vermochte mir das frohe Bewußtsein meines Flüggewerdens nicht zu stören. Am stärksten von unserer elftägigen Reise prägte sich eine Fußwanderung von Gastein über das Naßfeld und die Niederen Tauern nach Mallnitz meiner Erinnerung ein. Daß ich mir bei den Mahlzeiten meist ein halbes Backhuhn servieren ließ, wäre mir wohl entfallen, wenn es nicht stets das Mißvergnügen meines sparsameren Genossen erregt hätte, der sich dadurch genötigt sah, die andere Hälfte für sich zu bestellen und zu bezahlen. Sonst aber vertrugen wir uns sehr gut. Und dabei blieb es auch für die Folge, so daß unser Verhältnis später zeitweise, durch mancherlei Lebensumstände begünstigt, von denen noch zu erzählen sein wird, einen noch herzlicheren Charakter annahm, als in jenen frühen Jahren. Wie die meisten meiner einst mit mir nach gleichen Zielen[123] strebenden Freunde aus jener Epoche hat er früh allen Dichter- und Unsterblichkeitsträumen entsagt, und es wäre gegen ihn als wackeren Arzt, trefflichen Familienvater und leidlich klugen Menschen wenig einzuwenden, wenn er nicht bei jeder, auch der alltäglichsten Unterhaltung, das Bedürfnis merken ließe, sein Wesen gleichsam höher zu schrauben, und sich verpflichtet glaubte, an den gleichgültigsten Einzelfall Betrachtungen allgemeiner und philosophischer Natur zu knüpfen, wie es oft die Art von Leuten ist, die sich und andern gern einbilden möchten, daß sie auf Dinge freiwillig verzichtet haben, die zu erringen ihnen doch von Geburt an versagt gewesen ist.

So manche Anregung ich den meisten der bisher genannten jungen Leute verdankte, so wahlverwandt ich mich manchem von ihnen fühlte, am herzlichsten zugetan war ich einem jungen Mann, von dem ich kaum etwas zu erzählen wüßte, wenn ich nicht in meinem Tagebuch seinen Namen mit dem Zusatz »mir der Liebste von allen« und damit in der Erinnerung meine Sympathie für ihn wiederfände. Er hieß Hermann Löbl, und ich weiß weder, wie er in unseren Kreis gelangt, noch wie er nach wenigen Jahren wieder daraus entschwunden ist. Er gehörte, wenn mir recht ist – denn auch das weiß ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen – dem Handelsstande an; und da er einfach, still, taktvoll und überdies ohne alle literarischen Ambitionen war, so blieben unsere Beziehungen gänzlich von den Trübungen frei, wie sie zwischen Menschen niemals fehlen, denen das Leben nicht nur Element, sondern auch Material bedeutet, und die, mehr oder minder bewußt, ihr Dasein nicht nur auf Arbeit und Leistung, sondern auch auf Erfolg und Widerhall gegründet haben. So mag seine Natur gewissermaßen atmosphärisch als eine gesunde, reine, wenn auch nicht übermäßig kräftige Luft auf mich gewirkt haben, in der ich mich von den Ansprüchen meiner sonstigen Umgebung und meinen eigenen erholen durfte. Charakteristischerweise ist mir von allen unseren Begegnungen nur eine zufällige im Gedächtnis geblieben, die sich eines vormittags auf der Kärntner Straße ereignete, bei der ich das kindliche Bedürfnis empfand, ihm eiligst und überlaut von einem kleinen Abenteuer des Vortags Bericht zu erstatten, und er sich veranlaßt sah, mich mild zu einem leiseren Ton zu ermahnen. Auch seiner Physiognomie entsinne ich mich kaum, wogegen mir die Erscheinung seines[124] jüngeren Bruders, eines gänzlich unbeträchtlichen Herrchens, noch deutlich gegenwärtig ist, und zwar so, wie sie mir einmal auf dem äußeren Burgplatz entgegentrat, als die eines Reisenden mit rotem Baedeker und umgehängtem Operngucker; denn obzwar in Wien zu Hause, hatte Moni (so lautete sein zarter Kosename, mit dem man ihn statt des saftigeren Salomon zu rufen pflegte) beschlossen, seinen achttägigen Bankurlaub als ein vornehmer Fremder mit der gewissenhaften Besichtigung aller Wiener Sehenswürdigkeiten hinzubringen. Ob er zum Zweck konsequenter Durchführung seiner Rolle auch in einen Gasthof übersiedelt war, ist mir unbekannt geblieben.

Von flüchtigen Kaffeehausbekanntschaften gedenke ich als eines sympathischen Billardpartners eines gewissen Herrn Bachmann, der, schon in gesetzteren Jahren, früher in Amerika gelebt hatte und bald wieder dahin zurückkehrte, wo Deimel als Koch mit Bachmann als Kellner im gleichen Hotel in Stellung war.

Einmal, auf dem Heimweg von einem Ball, schloß sich mir ein junger Mann an, der sich in jener literarisch etwas dürftigen oder wenigstens stillen Epoche durch eine Novellette, »Aus dem Tagebuch eines Verbummelten« – sie war unter allerlei Klassik in der damals noch etwas exklusiveren Reclam'schen Universalbibliothek erschienen – bekannt gemacht hatte. Wir plauderten angeregt in einem Café bis zum grauenden Morgen; als der Jüngere und vollkommen Unbekannte hatte ich wieder Anlaß, mich ein wenig ausgezeichnet zu fühlen, aber mit meiner Sympathie für den mir gewissermaßen schon berühmt erscheinenden Dichter war es am nächsten Tag vorbei, als er sich bewogen fand, mir ohne weiteres erklärendes Wort die Verlegerwaschzettel seiner bisher erschienenen Werke zuzusenden. – Gleich darauf forderte er mich schriftlich auf, einem damals florierenden Literaturverein beizutreten, in dem er eine gewisse Rolle spielte. Ich kam der Einladung nicht nach, und unsere Beziehungen waren ein für allemal erledigt. Er selbst verstummte als Dichter bald und beschränkte sich in der Folge auf die Herausgabe von Anthologien und Deklamatorien.

Daß die Stimmung jener Plaudernacht, nicht etwa der Inhalt unserer Unterhaltung, der mir vollkommen entschwunden ist, so lange in mir nachklang, lag gewiß nicht in der Persönlichkeitswirkung jenes jungen Dichters, sondern daran, daß mir[125] dieser doch irgend als ein Bürger jener anderen und höheren Welt erschien, in die ich mir den Eintritt noch zu erkämpfen hatte, wenn er mir nicht gar ein für allemal versagt bleiben sollte. Aus solchen Zweifeln heraus, die niemals ruhten, schrieb ich nach Beendigung meines Mönchsdramas »Aegidius« einen Prolog, der mit den Worten anhebt: »Die letzte Hoffnung knüpf' ich an dies Werk«, was aus dem Munde eines Achtzehnjährigen allerdings etwas verfrüht klingen mag. Zum Schluß aber gelobte ich, falls ich »über meines Lebens Unwert mich nicht getäuscht«, einzutreten »in eine stille Zelle des großen Klosters: die Alltäglichkeit, wo sich die Menschheit leicht zufriednen Geistes so jämmerlich glückselig fühlt«. Und endete den Prolog mit den Worten:


» ... Durchs Gitter

Seh ich hinab zum weiten freien Plan,

Der sich dahinstreckt, sonnenhell und schön,

Wo sich mit frohem Sinn und Herzen tummelt

Im nimmermüden Spiel der Phantasie

Ein neidenswert Geschlecht von ew'gen Kindern.«


Komisch-rührende und etwas affektierte Verse, mit denen ich wohl nicht nur Gerichtstag über mich zu halten, sondern mir zugleich – der häufige, uneingestandene Nebenzweck solcher Gerichtstage – in irgendeiner vagen Weise Absolution zu erteilen gedachte, deren ich eigentlich eher wegen meiner Nachlässigkeit im Studium bedurfte.

Dadurch, daß ich von Anbeginn meine medizinischen Studien nur lässig betrieben hatte, vermochte mein Interesse sich auch dort nicht ernsthaft und dauernd zu befestigen, wo es meinen Anlagen nach, wären sie noch dazu richtig geleitet worden, manchen Anknüpfungspunkt hätte finden sollen und müssen. Meine Stimmungen freilich, um nicht zu sagen meine Weltanschauung, war früh von der Atmosphäre der Räume beeinflußt, in denen der Tageslauf eines Mediziners, auch eines minder fleißigen, sich naturgemäß abrollt. Ehe ich den Seziersaal zum erstenmal betrat, hatte ich noch keinen menschlichen Leichnam gesehen; aber wie alle meine Kollegen erfuhr auch ich, daß der tote menschliche Körper, wo den Betrachter nicht persönliche Beziehungen zu der diesem Körper entflohenen Seele bewegen, und insbesondere, wo er im nüchternen Lernraum[126] einer Schar von Studierenden ausschließlich als Objekt dargeboten wird, des düster-unheimlichen Charakters bald verlustig geht, den er für den sentimentalen Laien (und der Laie als solcher ist immer sentimental) dauernd beibehält; ja, wie meine Kollegen war auch ich eher geneigt, die Gleichgültigkeit gegenüber dem nun einmal zur Sache gewordenen Menschenbild – wie zur Schutzwehr gegen jene laienhaft-sentimentalen Regungen – ein wenig zu übertreiben; – wenn ich im Zynismus auch nicht so weit ging wie andere, die sich was darauf zugute taten, ihre gebratenen Kastanien vom Seziertisch, ja von der Leiche weg mit Appetit zu verzehren; ein Zynismus, der am Ende auch aus unbewußt logischen Erwägungen hervorgehen kann. Zu Häupten des Sterbebettes, auch wenn es ein Unbekannter war, der eben verschied, steht der Tod gewissermaßen immer noch als gespenstisch große Erscheinung da; – in der Leichenkammer geht er, seiner Schauer entledigt, als eine Art von pedantischem Magister um, dessen der Baccalaureus glaubt, spotten zu dürfen. Und nur in manchen Momenten, wenn ein Gestorbener in grotesker Gebärde oder unter einem zufälligen Beleuchtungseffekt den Lebendigen äfft, der er einmal gewesen ist, wird auch der Gefaßte, auch der Frivole einer peinlichen oder gar ängstlichen Empfindung sich nicht erwehren können.

Neben dem Seziersaal war das Prosektorium gelegen, und unwillkürlich drängte sich für das Verhältnis jener beiden Räume zueinander als Vergleich das Verhältnis von Kirche zu Sakristei auf, besonders wenn priesterlich-verehrungswürdig der Professor oder einer seiner Gehilfen aus dem abgegrenzten, ihnen zugewiesenen Raum in den allgemein zugänglichen, mitten unter die arbeitenden oder schwätzenden Studenten heraustrat. Unter jenen Gehilfen der weitaus Interessanteste war uns allen Langers Assistent, Emil Zuckerkandl, ein bleicher junger Mann mit dunklem Spitzbart und schwarzen Augen, der in seinem Talar völlig einem jener Anatomen glich, wie sie uns von berühmten Bildern Rembrandts her vertraut sind, und den bei aller zeitlichen und räumlichen Nähe fast legendenhaft die Mär von seiner flotten, trink- und fechtfreudig durchlebten Burschenzeit umschwebte. Auch jetzt noch genoß er des Rufs, sich häufig geraden Wegs aus irgendeinem Nachtlokal oder vielleicht gar aus schönen Frauenarmen an sein ernstes Tagewerk zu begeben,[127] das er dann lehrend und lernend mit ungeheurem Fleiß bis in die spätesten Abendstunden trieb. Statt mich aber an seinem Muster zu bilden oder wenigstens von seinem als glänzend gerühmten Lehrtalent als eifriger Hörer Nutzen zu ziehen, zog ich es vor, mich durch seine mehr von fern, in romanhaftem Verdämmern und oberflächlich gesehene Figur zu einem schwachen Gedicht begeistern zu lassen, das ich »Prosektor« betitelte. Zu gleicher Zeit ungefähr entwarf ich eine matte Phantasie, »Frühlingsnacht im Seziersaal«, die ich niemals vollendet; und rechne ich noch das früher erwähnte Fragment des »Sebaldus« hinzu, so habe ich alles verzeichnet, was ich damals als Poet den wundersam düsteren Eindrücken der Anatomie zu verdanken hatte.

Auch in anderer Weise machte die Atmosphäre des Medizinertums, die mich umgab, ihre Wirkungen auf mich geltend; hypochondrische Regungen meldeten sich, insbesondere als ich die klinischen Hör- und Krankensäle zu besuchen anfing, und das Bewußtwerden solcher Regungen trug wohl mit dazu bei, mich den Lokalitäten, die ihrem Entstehen vor allem förderlich waren, immer wieder, obwohl ich von Zeit zu Zeit ein ehrliches, fachliches Interesse in mir aufflackern fühlte, zu entfremden. War ich auch geneigt, meine wechselnden Hypochondrien als eine »spezifisch drittjährige Erscheinung« aufzufassen, so sah ich doch schon damals mit leiser Angst meinen reiferen Jahren entgegen, zweifelnd, ob mir die Kraft gegönnt sein würde, in einem immer dichter um mich sich ballenden Dunst von Krankheitsmöglichkeiten meine Lebensfreude zu bewahren, was mich aber andererseits nicht hinderte, für mein fünfzigstes Jahr die Abfassung einer »Naturphilosophie« in Aussicht zu nehmen.

Daß mein Vater meinem Treiben und noch mehr meinem Versäumen mit wachsender Mißbilligung zusah, läßt sich denken. Als ich ihm im Dezember meines ersten Universitätsjahres von meiner ersten mit Auszeichnung bestandenen Vorprüfung aus Mineralogie berichtete, und zwar am Eingang des Stadttheaters, das ich am Abend dieses Tags mit ihm besuchen sollte, hatte er hochbeglückt ausgerufen: »Am liebsten möchte ich dir einen Kuß geben«, was mich und meinen Begleiter Jacques Pichler, der noch nicht einmal bei der Matura hielt, mit Rührung erfüllte; – aber von nun an sollte er zu solchen Äußerungen väterlicher Zufriedenheit nur noch selten Gelegenheit[128] erhalten, wenn auch andererseits mancher Vorwurf, den ich von ihm erfuhr, nicht ganz berechtigt war und manche Kränkung, die er von mir erlitt, allzu übertrieben von ihm empfunden wurde. Unmöglich konnte ich, weil ich mit meinen fünf Gulden Wochengeld nicht recht auskam, mich als einen Verschwender betrachten, wie er mich zu nennen pflegte; und wenn er mir mein häufiges spätes Nachhausekommen immer wieder mit den Worten vorhielt, er müsse sich vor dem Hausmeister schämen, so ließ er allzusehr merken, daß er, wie es seine Art war, auch im Pädagogischen gerade auf das äußerlichste Moment, auf das, was die Leute sagten, unverhältnismäßig viel Gewicht legte. Trotzdem vermochte ich, wenn ich mich auch innerlich dagegen wehrte, die Mißstimmung, ja die Sorge eines Mannes zu verstehen, der selbst von unten heraufgekommen, durch eigene Kraft zu Ansehen und Bedeutung in seinem Fach und zu gesellschaftlicher Stellung gelangt, zusehen mußte, wie ein von ihm als nicht unbegabt erkannter und sehr geliebter Sohn auf einem ihm vorgezeichneten und geebneten Wege, statt mit einigem Ernst vorwärtszuschreiten, gleich zu Beginn zu schwanken, abzuirren, ja sich zu verlieren drohte.

Dafür, wie ich in jenen Jahren die Zeit vertrödelte, stehe als ein Beispiel für viele ein Tageslauf angeführt, wie ich ihn gelegentlich aufzuzeichnen liebte.

»13. 2. 80. Ich stand wie gewöhnlich ziemlich spät auf und konnte vor neun, um welche Zeit meine anatomische Vorlesung begann, nichts Rechtes mehr anfangen. Nachdem ich Langers Vortrag über den Kehlkopf ziemlich aufmerksam angehört, verfügte ich mich ins chemische Laboratorium, wo ich mehr mit Richard Kohn plauderte als arbeitete. Dann nach Hause, wo ich mich eine Viertelstunde mit Zoologie beschäftigte, hierauf am Aegidius weiterschrieb, schließlich meinen Bruder auf dem Klavier zu einer Mozart'schen Sonate begleitete. Nach Tisch spielt' ich mit meiner Mama die Wagner'sche Faustouverture, dann ging ich mit Eugen ins Café Central, wo wir drei Partien Schach spielten (die erste gewann ich, die zweite er, die dritte remis). Als Dillmann dazukam, mußt' ich schon weg und begab mich in die Maria-Theresienstraße, auf den gewohnten Ort des Stelldicheins. Sie kam, wir begaben uns in den Quaipark, der Frühling kündigte sich durch gar erfreuliches Gequatsche an, und wir beide waren sehr gut aufgelegt.[129] Sie hing sich in meinen Arm, und es ward immer dunkler, während wir das heitere Gespräch recht oft durch zärtliche Küsse auf süße Weise unterbrachen. Dann sprach ich, nachdem ich Kohn getroffen, Jacques, auch noch Eugen. – Nach Hause gekommen, las ich Max Waldau ›Nach der Natur‹, phantasierte auf dem Piano und spielte mit meinem Bruder, den ich vergebens zu magnetisieren versucht, Halb-Zwölf und Schach.«

Manchmal führte ich mein Tagebuch in sentimental-humoristischen, reimlosen Jamben. Und so schrieb ich am 27. Juni 80 die folgenden Zeilen nieder:


»Mich sieht, obwohl ich noch an Jahren jung,

Mit blasser Miene dieses Leben an.

Ich weiß nicht recht, was mich erfreuen soll,

Was kommen kann, ins unzufriedne Herz

Den Jubel eines schönern Seins zu gießen.

Um selber nicht in Langweil' zu vergehn

Will ich in Versen, was bis heut' sich zutrug,

(Es ist so kühl und so gewöhnlich) – will

Das schale Zeug erzählen, um es los

Zu werden. Abend ging ich in den Garten,

Wo sich das Volk vergnügt, und was noch häuf'ger –

Wo es sich nicht vergnügt. Ein junges Mädchen,

Ihr Nam' ist Fanny, saß auf einem Sessel,

Daneben das geliebte Elternpaar

(Sie waren's nämlich, die die Maid gezeugt).

Es gingen Wort und Worte hin und wieder

Gleichgült'ger Art, doch war uns beiden anders.

Verstohlen, gleichsam nur aus Augenwinkeln,

Vorblitzend aus dem matten Schein der Blicke,

Flog Ahnung und Erinn'rung hin und her

Und wagte nicht, sich länger zu verweilen.

Mein ganzes Ich verweilte nicht mehr da,

Indem es in die Langegass', Stadt Wien,

Zur Zuckerkandl-Kneipe auf sich machte.

Ich schritt fürbaß mit umgeworfnem Mantel,

Noch einen Blick auf meine Mädchenblume

Und auf die Blum', die ihr am Busen steckte

Als Angebinde meiner Lieb' und Treue

Rückwerfend. Eugen, Jacques und Rudolf[130]

Geleiteten zum Kneiplokal mich hin.

In Jubel, Lärm und wüster Trinkerei,

Die auf student'scher Stufenleiter rasch

Zu völligem Gesauf sich aufgeschwungen,

In Wortschwall, Händeklatschen, Liedersingen

Versank ich schier; ich schwankte hin und her

Und schwamm vergnügt in dem willkommnen Bad.

Jedoch verlässest du ein solches Wasser,

So greift dich bald ein simpler Schnupfen an,

Den man zumeist mit lächelndem Gesicht

Den Katzenjammer nennt, weil selbst 'ne Katz,

Säh sie in einem solchen Zustand dich,

Müßt jammern und verzweifeln. Ich fuhr ab.

's war eben Schluß der Kneip' und Geisterstunde,

In ein Kaffeehaus wandelt' ich ganz einsam,

Um mich aus einem halben Rausche aufzuraffen.

Mit losen Dirnen schwatzt' ich, trank 'nen Schwarzen,

Blies Zigarettenrauch in die höchst sünd'ge Luft,

Erzählte auch von sonderbaren Reisen,

Wie ich einst auf dem Meere Schiffbruch litt,

Durch einen Urwald nach New York mußt' wandern,

Und log so durch 'ne Stunde fort.

Bis ich den Hut kühn auf die Stirne setzte

Und heimwärts eilte. Da die Nacht vorbei,

Sitz ich nun wieder vor den Blättern da

Und schreib' und klage. Denn 's ist klagenswürdig,

Von nichts in wahrstem Sinne sagen dürfen:

Dies nenn' ich mein, an diesem freu' ich mich.«


Und setzte am nächsten Tag wieder in Versen fort:


»In freier Luft, in lieblicher Natur,

Jedoch in menschlicher Gesellschaft, die

Nicht frei noch lieblich war, obwohl geliebt,

Bewegt' ich gestern mich. Die schöne Brühl

Umgab uns mit dem Schatten ihrer Wälder

Und ihrer Wiesen Blumen üpp'gem Duft.

Ich schritt mit einem Buche in der Hand,

Das flugs in Zellen all dies Leben teilte,

Durch's Grün der Au'n. Botanik hieß das Buch,[131]

Und alles, was ringsum mein Haupt umblühte,

War Eiweiß nur und schnödes Protoplasma.

Gemütlich aß ich Butter dann und Käse

Und Schinken bester Art, sowie Salami,

Der guten Milch nicht zu vergessen, die,

Gemischt mit des Kaffees anmut'gem Schwarz,

Andächtig über meine Lippen floß.

Drei hübsche Mädchen flogen hin und her,

Und manches Fräulein, reizend von Gestalt

Und schön von Antlitz, zierte die Terrasse.«


Dabei war gar nicht schwer zu sehen, daß mir selber bei meiner Aufführung nicht recht wohl werden könnte. Meine Nervosität war unverkennbar und äußerte sich in Empfindlichkeit, Trotz, ja sogar in Ausbrüchen von Jähzorn, die zu Hause immerhin mit Langmut hingenommen wurden. Mein Vater, wenn auch selbst zuweilen aufbrausender Natur, war ein Mensch von wirklicher Herzensgüte, der zur Vollendung freilich die Gabe fehlte, sich vorurteilslos und geduldig in andere Seelen, und waren es auch die seiner nächsten Verwandten, zu versenken. Sehr mit Recht, wenn auch unbewußt, traute er seiner eigenen Menschenkenntnis nicht ganz, war darum außerordentlich abhängig von Meinungen, die um ihn laut wurden, aus welcher Quelle sie auch stammen mochten, und hörte auf das Gerede und Geklatsch seiner Umgebung so begierig, daß er oft zu ihrem, natürlich mit ihr wechselndem Echo wurde. Zu Menschen solcher Art aber läßt sich, wenn auch zeitweise, das zärtlichste, doch immer nur ein sentimentales, nie ein innerlich gesichertes Verhältnis gewinnen; und da meine Mutter, gleichermaßen voll Liebe für mich und ohne wirkliche Seelenkenntnis, ebenso beweglichen, doch viel zerstreuteren Geistes wie mein Vater, in Urteilen und Stimmungen völlig sein Geschöpf war, hätte ich auch bei ihr, wenn ich dergleichen daheim überhaupt jemals suchte, nie einen innerlichen Anhalt gefunden. Trotzdem gab es genug unbeschwerte gute Stunden im Elternhause, ja, sie dürften wohl die schlimmen um ein beträchtliches überwogen haben, schon darum, weil meines Vaters unausgesetzte Tätigkeit ihm gar nicht die Muße ließ, häuslichen Mißhelligkeiten nachzusinnen, und er in jenen, seinen reifsten und erfolgreichsten Jahren, für heitere Laune[132] eher und lieber zu gewinnen war als für Verstimmungen und Düsterkeiten. Die Führung unseres Hauses, wenn auch bürgerlich, geschah doch, der leichten Hand meines Vaters entsprechend, in ziemlich larger Weise. Größere Gesellschaften fanden selten statt, doch pflegte man eine angenehme, zuweilen etwas formelle Geselligkeit, auch wurden unsere Lehrer, die Assistenten meines Vaters und fremdländische Ärzte sonntags öfters zu Tisch geladen.

Das Theater wurde häufig besucht. Dank den Kreisen, in denen ein Teil der väterlichen Praxis sich abspielte, gab es nicht selten Gratislogen in die Hoftheater, und zu den Premieren am Stadttheater bekam mein Vater regelmäßig seine Billets. Natürlich hatte auch ich davon meinen Vorteil. Konzerten wohnte ich entweder allein oder in Begleitung der Mama bei, mit der ich auch nach wie vor viel vierhändig spielte, so daß ich mir allmälig eine ziemlich ausgebreitete Kenntnis, insbesondere der klassischen Musikliteratur, erwarb.

Bei Gelegenheit eines Konzertes war es auch, daß ich zum erstenmal in die Öffentlichkeit trat, allerdings in einer höchst bescheidenen Rolle, nämlich als Umblätterer meines Lehrers Rückauf, der den berühmten Schubertsänger Gustav Walter auf dem Klavier begleitete. Einen starken Eindruck machte es mir, als ich in der Pause eines solchen Konzertes mit den anderen Mitwirkenden ins Künstlerzimmer zurückgezogen, eine elegante junge Dame an der Türe erscheinen, mit ihrer weißbehandschuhten Hand die Hand Gustav Walters ergreifen, einen inbrünstigen Kuß darauf drücken und wortlos wieder im Zuschauerraum verschwinden sah. Das also ist der Ruhm! dachte ich nicht ohne leisen Schauer.

Unter anderen Musikern lernte ich zu jener Zeit Moritz Rosenthal kennen, der damals eben aufhörte, Wunderkind zu sein und als königlich-rumänischer Hofpianist seine ersten Wiener Konzerte gab. Er verkehrte, ich glaube durch Pepi Mütter eingeführt, in unserem Kaffeehauszirkel, unter den Pichlers, Deimels etc. die einzige Berühmtheit, und bei Gelegenheit seines ersten Auftretens begaben wir, die wir die Ehre hatten, seine Freunde zu sein, uns fast in jeder Zwischenpause ins Künstlerzimmer, um ihm unsere Bewunderung auszusprechen. Dieses Hin- und Hergewimmel höchst jugendlicher Elemente zwischen Zuschauerraum und Künstlerzimmer bot im[133] ganzen einen etwas possierlichen Anblick, was Max Kalbeck in seinem Feuilleton nicht ohne leicht antisemitische Bemerkungen zur Erwähnung brachte. Trotz seiner Berühmtheit und seines freilich etwas überwitzigen Verstandes, verkehrte Rosenthal mit den meisten von uns auf Du und Du. Daß wir alle damals nicht in sehr großen Verhältnissen lebten, ersehe ich unter anderem, wenn ich es nicht ohnehin wüßte, aus einem noch erhaltenen Brief Rosenthals an mich, in dem er mir für einen anderen jungen Menschen unseres Kreises den Betrag von einem Gulden, scherzhaft »Floh« genannt (von Florin), übermittelt. Im ersten Jahr unserer Bekanntschaft wurden wir aus irgendeinem mir nicht mehr erinnerlichen kindischen Grund »bös« miteinander, versöhnten uns aber wieder. Aus dem Kaffeehauskreise verschwand Rosenthal sehr bald, die Beziehungen zwischen ihm und mir dauerten, ohne regeren Verkehr, und ohne sich trotz gegenseitiger Hochschätzung und gelegentlicher gemütlicher Plauderei jemals herzlich zu gestalten, ungestört durch die Jahrzehnte fort.

Meinem Freunde Richard Horn verdankte ich außer der Bekanntschaft mit seinem Onkel, dem ausgezeichneten Klavierspieler und liebenswürdigen Komponisten Ignaz Brüll, eine flüchtige Begegnung mit Anton Bruckner. Da es bekannt war, daß Bruckner gern geneigt war, seinen Besuchern auf dem Orgelharmonium vorzuphantasieren, nahm mich Richard Horn in Bruckners Wohnung mit, wo er sich den regelmäßigen Besuch der Kontrapunktvorlesungen, die der Komponist an der Universität abhielt, im Index testieren lassen wollte. Bruckner, ebenso genial als gutmütig, ließ sich natürlich auch von Richard, den er als seinen fleißigen Hörer kannte, nicht lange bitten und erfreute uns, vielleicht eine halbe Stunde lang, durch sein wunderbares, weltverlorenes Spiel. Nachher habe ich den großen Komponisten niemals wieder gesprochen oder spielen gehört, doch oft genug wiedergesehen, wenn er, stürmisch gerufen, nach Aufführung einer seiner Symphonien, in einem sackartigen Anzug, in seiner unbeholfenen, rührenden Weise sich vor dem belustigten, damals nur zum geringeren Teile wirklich begeisterten Publikum verbeugte.

Ich selbst blieb meiner Gewohnheit treu, auf dem Piano mehr zu phantasieren als ordentlich zu üben; und gelegentlich einer Reise in einem Hotel zu Zell am See glaubte ich, mir den[134] Spaß erlauben zu dürfen, einigen Zufallsbekannten, die mir zuerst vom Nebenzimmer aus beifällig gelauscht, musikalische Eingebungen des Augenblicks als Kompositionen von Raff oder Bach vorzuführen. Das unverdiente Lob schmeichelte mir anfangs, um am Ende ein Gefühl der Beschämung in mir zurückzulassen.

Denn nach wie vor lag es mir fern, meine dilettantische musikalische Veranlagung ernst zu nehmen, da ich ja selbst meiner dichterischen nur zagend vertraute. Freilich, daß mein Vater diese meine Zweifel, in die ich ihn natürlich nicht einweihte, in unbeschränktem Maße teilte, konnte ich nach Menschen- und Dichterart nicht recht verwinden. Seiner inneren und äußeren Einstellung gegenüber meinem poetischen Gebaren lagen allerdings gesunde pädagogische Erwägungen zugrunde. Und aus ähnlichen heraus liebte er es sogar, eine ausgesprochen medizinische, besonders diagnostische Begabung bei mir festzustellen, was möglicherweise kein allzu arger Irrtum war. Und am liebsten hätte er es gesehen, wenn sich mein Interesse so früh als möglich seinem eigenen Spezialfach, der Laryngologie, zugewendet hätte. Wenn er trotzdem anfallsweise immer wieder eine gewisse Teilnahme für meine literarischen Bestrebungen an den Tag legte, so war sie meistens irgendwie durch einen äußeren Anlaß angeregt worden. Aus den Künstlerkreisen, in denen er ärztlich und gesellschaftlich verkehrte, und wo er, seiner Zweifel ungeachtet und auch dieser Zweifel nicht ganz sicher, in der begreiflichen Eitelkeit seines Vaterherzens manchmal von seinem poesiebeflissenen Sohn erzählen mochte, brachte er gelegentlich schmeichelhafte Zeichen für das Interesse mit nach Hause, mit dem man einer möglichen Entwicklung meines Talents entgegensah. So hatte sich einmal die Wolter nach meinem Stück erkundigt (ich hatte wohl von einer meiner Komödien als einem zukünftigen Burgtheaterwerk gefaselt), und auch Sonnenthal hatte zu wiederholten Malen gewünscht, etwas aus meiner Feder zu lesen. So wurde denn der Ehrgeiz in mir entfacht, solchen schauspielerischen Größen, in deren Macht es überdies stand, dem jugendlichen Autor den Weg auf die erste Bühne Deutschlands zu bahnen, mit einer Probe meiner Kunst aufzuwarten; und da mir die Chancen der beiden Dramen »Vor der Welt« und »Aegidius« doch allzu gering schienen, der »Peters« aber (der modernisierte »Sebaldus«, an dessen Vollendung ich[135] wohl am ehesten dachte) die Mißbilligung meines Vaters gefunden, so entschloß ich mich, ein dreiaktiges Lustspiel »Aus der Mode«, das ich selbst als völlig unzulänglich erkannt, als Bluette in einem Akt auszuführen und übergab es in dieser neuen Form meinem Vater, damit er es seinem Patienten und Freunde Adolf von Sonnenthal zur Begutachtung vorlege. Schon wenige Tage darauf brachte mir mein Vater das Stück mit einem Brief Sonnenthals zurück, und ich fühle heute noch den spöttisch-prüfenden, dabei so zärtlichen Blick, den mein Vater über den gedeckten Mittagstisch auf mich gerichtet hielt, während ich, statt die Suppe zu essen, den Brief las, der folgenden Wortlaut hatte: »Liebster Freund! Ich habe Deines Arthurs Stück gelesen und kann nicht leugnen, daß ich, trotz der unzähligen Mängel, die dasselbe enthält, doch mehr Talent darin gefunden habe, als ich sonst bei derlei Dilettantenarbeiten zu finden gewohnt bin. Es will dies allerdings nicht viel bedeuten, es zeigt nur, daß Dein Arthur mehr gelernt hat als mancher andere, der Stücke schreibt, aber von da bis zur wirklichen dramatischen Befähigung ist noch ein sehr weites Feld, und ich habe aus dem vorliegenden Probestück keine Berechtigung, ihn zu animieren, dies Feld zu bearbeiten. Dies meine ehrliche, offene Ansicht, was ja übrigens Dir gegenüber keiner Bekräftigung erst bedurfte. Sei herzlich gegrüßt samt Arthur von Deinem treu ergebenen A. Sonnenthal.«

Ob ich sofort die ganze Richtigkeit dieses Urteils erfaßte, das mit Rücksicht auf die Qualitäten jenes Probestücks eher als zu mild, denn als zu streng bezeichnet werden muß, weiß ich heute nicht mehr; wahrscheinlich ist es nicht, sonst hätte ich kaum ein paar Tage vorher gewagt, dem verehrten Meister jene dramatische Nichtigkeit vorzulegen. Jedenfalls aber wirkte der Brief ganz anders auf mich, als mein Vater (der ihn wohl mit Sonnenthal verabredet hatte) erwartet und gewünscht haben dürfte. Denn kaum von Tische aufgestanden, begab ich mich ins Café Central und begann in einer Ecke bei künstlicher Beleuchtung ein neues Stück unter dem Titel »Modernes Jugendleben« zu schreiben. Es setzt gleich damit ein, daß ein junger Dichter seinem medizinisch-mephistophelischen Freund eine Novelle vorliest, die dieser verwirft. Der Vorhang hebt sich vorsichtigerweise erst während der Kritik, nicht während der Vorlesung. Der Freund rät dem mißgestimmten Poeten, die blonde[136] Angebetete aufzugeben, sich eine wirkliche Geliebte anzuschaffen, mit anderen Leuten umzugehen als bisher, und es eröffnet sich ein bedeutungsvoller Ausblick auf das, was man in jener Zeit »tolles Treiben« zu nennen pflegte. Mit dieser geheimen Erwiderung auf Sonnenthals Brief hatte es vorläufig sein Bewenden; – sie hätte ihn von meiner Berufung kaum stärker zu überzeugen vermocht, als es jener harmlosere Einakter getan hatte. Der Stoff selbst ging mir aber längere Zeit nach. Und wollte man sich mit literarhistorischen Späßchen vergnügen, so könnte man sowohl in den dramatischen als novellistischen Fragmenten, die von jenem »Modernen Jugendleben« noch übrig sind, immerhin gewisse Anatol'sche Züge vorgebildet finden.

Nachdem ich so viel von meiner Nachlässigkeit auf medizinischem Gebiet erzählt, daß man schon glauben könnte, hier die Geschichte eines rettungslos verbummelten Studenten zu lesen, darf ich um so weniger verschweigen, daß ich im Laufe des dritten Jahrgangs immerhin wie mancher fleißigere Kollege das erste Rigorosum pflichtgemäß hinter mich gebracht hatte. Die beiden Practica bestand ich mit wenig Ehren; obwohl mich Langer auf meinen laryngologischen Vater hin aus dem Kehlkopfknöchelchen prüfte, entsprach ich in der Anatomie gerade zur Not; und beim Physiologicum, wenn auch besser vorbereitet, verdankte ich mein Genügend nur einer nachsichtigen Laune des sonst sehr gefürchteten Brücke. Vor dem Theoreticum hatte ich begründetermaßen solche Angst, daß mein Vater auf meine Bitte hin mich vorerst beim Dekan, als der in diesem Jahre Langer fungierte, persönlich abmeldete. Doch statt des erhofften späteren Termins brachte er mir die freundliche Einladung des Dekans, doch nur guten Mutes am festgesetzten Tage zur Prüfung zu erscheinen, und so begab ich mich an einem schönen Sommermorgen in Begleitung meines Vaters unter leichten Übelkeiten durch die grünende Ringstraßenallee in die sogenannte »Gewehrfabrik« an den grünen Tisch der gestrengen Herren. Dort erging es mir über Erwarten gut. In Anatomie und Chemie wurde mein etwas fragwürdiger Mut mit Auszeichnung belohnt, in Physiologie entsprach ich nicht übel, nur die physikalischen Fragen wußte ich mit so geringer Spitzfindigkeit zu beantworten, daß Professor Lang, ein hervorragender Gelehrter und ein Lehrer von berüchtigter Langweiligkeit,[137] dessen Vorlesungen auch von gewissenhafteren Studenten nur sehr unregelmäßig besucht wurden, mit seiner dünnen Stimme bemerkte: »Mir scheint, Herr Kandidat, Sie wollen sich über mich lustig machen.« Dies durfte ich mit voller Aufrichtigkeit in Abrede stellen; Professor Lang ließ, wie er es in den meisten Fällen tat, Gnade für Recht ergehen, und so war es mir nach verkündigtem Resultat vergönnt, vor dem Eintritt in mein viertes Universitätsjahr ungetrübten Ferialmonaten entgegenzusehen.

Blickt man in vorgerückten Jahren auf sein Dasein zurück, so scheinen sich, wie Kapitel eines Romans, mit kunstgerechter Absicht voneinander geschieden, die einzelnen Abschnitte aneinanderzureihen. Aber kaum an einem anderen Punkt vermag ich diesen Scheidestrich mit solcher Entschiedenheit zu ziehen, als im Sommer des Jahres 1882, in dem ich mein zwanzigstes Lebensjahr vollendete, mein erstes Rigorosum bestand, mir meine Einjährig-Freiwilligenuniform bestellte und meine alten Tagebücher vernichtete, dies allerdings nicht, ohne mir vorher die wesentlichsten Stellen daraus sorgfältig auszuschreiben.


Quelle:
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Wien, München, Zürich 1968, S. 89-138.
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