Engelbert Friedmaier, der Sicherheitswachmann Numero siebzehntausendneunhundertzwölf, stand auf Posten zwischen der Kaiser Josef- und Taborstraße und dachte über sein verfehltes Leben nach. Drei Jahre waren verflossen, seit er als Feldwebel seinen Abschied vom Militär genommen und in das Korps der Sicherheitswache eingetreten war, voll der edelsten Begeisterung für seinen neuen Beruf, von glühendem Eifer erfüllt, für die Ordnung und Sicherheit in der Stadt zu sorgen; ein geliebtes Mädchen, die Tochter des Greißlers Anton Wessely, harrte darauf, von ihm als Gattin heimgeführt zu werden; aber Engelberts Aussichten auf Beförderung waren trüb, ja verzweifelt. Denn diese drei Jahre waren vergangen, ohne daß ihm ein einziger Erfolg geblüht hatte. Ein solcher Fall hatte sich nicht ereignet, seit eine Sicherheitswache in Wien bestand. Engelberts Vorgesetzte hegten Mißtrauen gegen seinen guten Willen, die Kameraden hatten keine Achtung mehr vor ihm, und Kathi, die früher sein Trost in trüben Stunden gewesen war, begann ihn aufs bitterste zu verspotten. Dabei fühlte er sich frei von Schuld. Er hatte kein Glück. Auf tausend Schritt in seinem Umkreis schwiegen alle bösen Triebe. Auf belebten Straßenkreuzungen war er gestanden, wo sonst Dutzende von Kutschern wegen Schnellfahrens, ja günstigenfalls selbst wegen Überfahrens angehalten wurden; er hatte in Feiertagsnächten in der Vorstadt vor verrufenen Lokalen Dienst getan, aus deren Türe schon manche mit dem Ruf herausgestürzt waren: »Ich bin gestochen!« ... Ja, er war sogar einmal in eine Straße versetzt worden, wo das Radfahren verboten und wo es seinem Vorgänger gelungen war, an einem berühmt gewordenen Tage siebenundsechzig Zyklisten aufs Kommissariat zu führen – sobald Engelbert Friedmaier den verantwortungsvollen Posten bezog, war alles anders geworden. Die unruhigsten Traber verfielen in einen sanften Schritt, die berüchtigtsten Strizzis gingen friedlich ihres Weges, und die wildesten Radfahrer, die Engelbert klopfenden Herzens von ferne[528] der verbotenen Straße zustürzen sah, stiegen besonnen ab und führten ihr Rad bis zur nächsten Ecke. Engelbert mußte stumm zusehen, wie alle Verordnungen unverletzt und die gesamte Sicherheit ungefährdet blieb. Auch andere kleine Genugtuungen, wie sie seine Kollegen manchmal erlebten, waren ihm stets versagt geblieben. Nie hatte er an einem Fenster eine junge Dame in allzu morgendlicher Toilette erspäht, nie kam es einer Freudenbummlerin der Straße in den Sinn, sich in seiner Nähe ungebührlich zu benehmen, nie fuhr ein Fiaker mit verdächtig geschlossenen Jalousien an ihm vorbei, nie war es ihm beschieden, nachts auf einem Streifzug durch öffentliche Gärten ein allzu verliebtes Paar zu überraschen. Und auch die großen Anlässe, bei denen so viele seiner Kameraden unvergängliche Lorbeeren pflückten, gingen für ihn klanglos vorüber. Er war einer von den Auserwählten gewesen, die vor dem Parlament standen, als die Sozialistenhorden johlend vorbeizogen, und angestrengt hatte er gelauscht, ob nicht einer von ihnen einen hochverräterischen Ruf oder gar eine Beschimpfung des allverehrten Bürgermeisters auszustoßen wagte ... In seiner Nähe verstummten alle, wie von einem guten oder bösen Geist gewarnt. – Ein anderes Mal stand er auf dem Ring unter denen, die beim Einzug eines gekrönten Hauptes Spalier bildeten. Er mußte es mit ansehen, wie zehn Schritte weiter von ihm ein jüngerer Kollege einen harmlosen Spaziergänger, der taub war und keine Ahnung hatte, was man von ihm wollte, wegen Widersetzlichkeit verhaftete – und hinter Engelbert standen die Leute stundenlang wie eine Mauer, drängten nicht, und keiner brach aus der Reihe.
Aber das Schlimmste geschah ihm einmal, als er sich seinem Ziele nahe glaubte; denn gerade da hatte sich der erträumte Erfolg in die bitterste Enttäuschung verwandelt. Es war ein schöner Nachmittag gewesen, wie heute, und Engelbert stand auf Posten in der Rotenturmstraße, als er von weitem einen eleganten Herrn herankommen sah, der ein kleines Mädchen an der Hand führte. Die Kleine schien müde zu sein, der elegante Herr schleppte sie weiter. Sie stürzte zusammen; der elegante Herr riß sie vom Boden auf; die Kleine weinte, schrie, der elegante Herr schimpfte so laut, daß Engelbert die Worte verstand, die von vielversprechender Unflätigkeit waren. Das Mädchen jammerte: »Mein lieber guter Papa, ich bin ja so müd!« und sank auf die Knie; der elegante Herr hob seinen Stock und schlug das Mädchen auf den Kopf, daß es wie tot zusammensank. Leute liefen herbei, Engelbert[529] eilte strahlenden Auges herzu. Der Fall war besonders glücklich: es war eben die Zeit, da Kindermißhandlungen im Vordergrund des Interesses standen; mit einem Schlage konnte er jetzt der Mann des Tages werden. Was gingen ihn Taxüberschreitungen, kleine Stichverletzungen an? Hier war hoffentlich ein Mord an einem wehrlosen Kinde geschehen, und er war in der Lage einzuschreiten. Mit gewalttätiger Würde bahnte er sich den Weg durch die angestaute Menge ... Aber was sollte er hier erblicken? Die Leute, die er erschüttert zu finden dachte, lachten, der elegante Herr sagte: »Ich erlaube mir, die Herrschaften zu meinem heute abend in den Blumensälen stattfindenden Debüt einzuladen«, und auf dem Boden – lag eine hölzerne Puppe. Noch wollte Engelbert die Sache nicht verloren geben: es konnte sich vielleicht um ein besonders raffiniertes Verbrechen handeln, indem der Mörder das tote Kind als Puppe und sich als Bauchredner ausgab. Aber als Engelbert sich auf ein Knie niederließ und einem hölzernen Kind in die gläsernen Augen starrte, stieg die Heiterkeit aufs höchste. Noch winkte die Möglichkeit, den Bauchredner wegen öffentlichen Mutwillens aufs Kommissariat zu bringen, aber in diesem Augenblick waren zwei Kavallerieoffiziere herbeigetreten und ließen sich wohlgelaunt mit dem Artisten in eine Unterhaltung ein. – Engelbert erkannte in dem einen der Offiziere mit Schrecken einen Erzherzog, fühlte, daß hier nichts mehr für ihn zu holen war, und schlich davon.
Von diesem Tage an zweifelte Engelbert Friedmaier nicht mehr, daß ihn ein tückisches Verhängnis verfolge. Nicht ohne Neid sah er auf manche seiner Kameraden, die strenger waren als die Verordnungen und empfindlicher als die Gesetze, und dumpfe Verlockung erwachte in ihm, diesen Ernsthaftstrebenden nachzueifern. Immer stärker empfand er die beispiellose Ordnung und Sittlichkeit rings um sich, wie einen gegen ihn persönlich gerichteten Hohn, und die ganze Menschheit seines Bezirkes erschien ihm als eine Bande von Verschworenen, die mit ihrer Anständigkeit nichts anderes bezweckten, als ihn zugrunde zu richten.
So stand er auch heute auf seinem Posten mit dem gramvollen Bewußtsein seiner Überflüssigkeit und Lächerlichkeit. – Der Abend nahte, verspätete Spaziergänger nahmen den Weg zum Prater, aus dem verworren der Sonntagslärm zu ihm herüberdrang. Engelbert schritt auf und ab, auf und ab. Manchmal blieb er stehen, sah die Straßen entlang, ließ seine Blicke zum Nordwestbahnhof ...[530] zum Praterstern schweifen – und dann ging er wieder auf und ab, auf und ab. Mit einem Male gewahrte er eine bekannte Gestalt, die von der Taborstraße aus immer näher schritt. Es war Katharina, in einem blauen, weißgetupften Foulardkleid mit einem kleinen weißen Strohhut und einem roten Sonnenschirm; immer näher kam sie heran, und Engelbert sah sie lächeln. Sie wußte, daß er hier auf Posten stand ... wollte sie ihn besuchen? Er wagte es kaum zu hoffen, denn sie war in der letzten Zeit gar nicht liebenswürdig, machte sich sogar häufig über ihn lustig. Sie kam auf ihn zu. Jetzt merkte er auch, daß etwa zehn Schritte hinter ihr ein junger Mann in einem lichtgrauen Anzug, eine Zigarette im Mund und einen Spazierstock zwischen den Fingern drehend, einherspaziert kam, was übrigens auch ein Zufall sein konnte.
Engelbert, der eben mitten auf der Straße stand, näherte sich dem Trottoir, Katharina blieb vor ihm stehen und sagte, immer mit dem gleichen Lächeln: »Herr Sicherheitswachmann, ich bitt' recht schön, wo ist denn da der Prater?«
»Kathi«, rief er aus, »Kathi, kommst du wirklich zu mir?«
»Aber was fallt Ihnen denn ein, Herr Sicherheitswachmann ... das war' doch nicht erlaubt! Sie sind ja jetzt im Dienst! Ich komm' nur fragen, wo man da am schnellsten in' Prater kommt.«
Der junge Herr mit dem grauen Anzug und dem Spazierstock war auf dem gegenüberliegenden Trottoir stehen geblieben. Es war auch möglich, daß er auf eine Tramway wartete.
»Kathi«, sagte Engelbert, »schau, es ist ja so lieb von dir ...«
»Was ist denn lieb von mir? Ich hätt' auch ein' andern fragen können, aber weil ich zufällig da vorübergeh' und weil ich sonst vor den Wachleuten so viel Respekt hab' und weil Sie gar so freundlich ausseh'n ... Ja wirklich, Ihnen sieht man doch gleich an, daß Sie noch keinem was 'tan hab'n.«
Um Engelberts Mundwinkel zitterte es leicht. Was wollte sie von ihm? War sie nur hergekommen, um ihn wieder zu quälen? – Eben fuhr eine Pferdebahn vorbei, der graue junge Herr stieg nicht ein. Aber er hatte vielleicht in der anderen Richtung zu tun.
»Warum reden Sie denn nicht, Herr Kommissär?« fragte Katharina weiter. »Sind Sie nicht laut Instruktion verpflichtet, den Parteien auf ihre Anfragen in höflicher Form Auskunft zu erteilen?«
»Kathi, ich bitt' dich, frozzel' mich nicht! Schau, ich halt's nimmer aus!«[531]
»Ja«, sagte Katharina, indem sie sich auf die Fußspitzen stellte und gleich wieder fallen ließ, »so muß ich halt einen andern fragen. Ich hab' die Ehre, Herr ...« – »Kathi!«
»Was is denn? Schau'n S' mich doch nicht so bös an, sonst krieg' ich wirklich eine Angst.«
Eine Trambahn fuhr vorbei – in der entgegengesetzten Richtung; der junge Herr stieg nicht ein. Wie festgewurzelt stand er drüben und drehte den Spazierstock. – »Kathi, es geht dir einer nach!«
»Is's wahr?« Sie wandte den Kopf nach der anderen Seite und betrachtete den jungen Herrn mit einem durchaus nicht unfreundlichen Blick. Der junge Herr schaute offenbar irgendeinem Gegenstand nach, der eben durch die Luft langsam zum Himmel emporflog; vielleicht war es eine Schwalbe, vielleicht eine Fliege, vielleicht ein Luftballon ... jedenfalls konnte Engelbert nichts von alldem sehen.
»Arretieren S' ihn doch, Herr Sicherheitswachmann ... wegen ... Warten S', wenn wir mehr Praxis hätten, wüßten wir bald, wegen was ... Halt, ich hab's schon! ... wegen boshafter Beschädigung fremden Eigentums! ... Also, gehorsamster Diener, Herr Kommissär, ich werd' schon selber in' Prater finden!« – »Kathi!« – »Was denn?« – »Du willst fortgehn?«
»Ja, meinen Sie, ich komm' daher, um Sie in der Wachsamkeit zu stören? Das ging' Ihnen grad noch ab! Adieu!«
Sie entfernte sich von ihm. Er folgte ihr. »Kathi!« rief er, »du bleibst! du bleibst!« – Sie wandte sich um und sah ihn mit großen Augen an.
»Bitt' dich, Kathi, bleib da. So darfst du nicht fortgeh'n. Sag mir, wenigstens ...« – »Was denn?«
»Daß du mich noch gern hast ... ich bitt' dich, Kathi!«
»O nein! da hab' ich eine viel zu große Hochachtung vorm Dienst ... Alsdann auf Wiedersehn – ich geh' in' Prater!« – »Kathi, ist das dein Ernst?«
»Ich werd' mir doch nicht erlauben, mit einem Sicherheitswachmann im Dienst zu spaßen! Freilich ist es mein Ernst! Ich geh' jetzt zum Ringelspiel, dann geh' ich zum Präuscher, dann geh' ich auf die Rutschbahn, dann geh' ich in die verhexte Hutschen, dann schau' ich mir 'n Wurstel an ... Wissen S', Herr Kommissär, einen anderen ...« – »Kathi!«
Er bebte bis in die Fingerspitzen. Der junge Herr gegenüber lehnte am Laternenpfahl und betrachtete seine Schuhe. Kathi[532] nickte ein paarmal mit dem Kopf wie zum Abschied und wandte sich zum Gehen. Engelbert faßte ihre Hand. Kathi starrte ihn an.
»Was fällt dir denn ein?« fragte sie plötzlich ganz ernst.
»Kathi, ich erlaub's nicht! Verstanden? ... Ich erlaub's nicht, daß du in' Prater gehst! Am nächsten Sonntag bin ich dienstfrei, da gehen wir miteinander hin.«
»Aber freilich, dir werden's grad dienstfrei geben! Als ob sie auf dich einen Tag verzichten könnten ... da ging' ja alles drunter und drüber in Wien, da gäb's ja gar keine Ordnung mehr, da möchten sich ja die Leut schon alles erlauben, wenn sie wüßten, daß der Engelbert Friedmaier dienstfrei is' ... Grüß dich Gott, Engelbert. Im Nachhausegehn schau' ich wieder vorüber, vielleicht bist du unterdessen befördert worden. Servus!«
»Kathi, du gehst nicht in' Prater, oder es geschieht ein Unglück!«
»So laß mich doch aus!« – »Kathi!« sagte er ganz heiser, »wenn du in' Prater gehst, is' es aus – verstehst mich?«
»Is 's wahr, versprichst mir das? Nachher geh' ich aber gleich!« Sie ging. Engelbert blieb einen Augenblick wie gelähmt stehen. Jetzt sah er, wie der junge Herr gegenüber aus seinen Träumen erwachte und, ganz harmlos mit dem Spazierstock schlenkernd, die gleiche Richtung einschlug wie Kathi. In der nächsten Sekunde war Engelbert wieder bei Kathi und faßte ihren Arm ... Sie schrie leise auf. »Ja, aber sag mir einmal, hast d' was' trunken?«
»Da bleibst!« Er sprach es ganz tonlos, das Weiße seiner Augen wurde rot. – »Laß mich!« sagte Kathi. »Gleich laßt d' mich aus! So was is' mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen!«
Er ließ ihren Arm los. »Ich bitt' dich ein letztes Mal ...«
»Ob's d' an Ruh gibst? Aus is', ich geh' in' Prater!« – »Kathi!« – »Du bist ein Aff'!« – »Kathi ... was hast d' g'sagt?«
Sie sah ihn frech an und wiederholte: »Daß du ein Aff' bist!«
Engelbert starrte auf die halb geöffneten Lippen, denen diese Worte entflohen waren. Einen Augenblick war er daran, ihr zu erwidern, die Finger zuckten ihm, und alles schwamm ihm vor den Augen, so daß die Gestalt Kathis sich wie in einen sonderbaren Nebel auflöste und der junge Herr in der Luft zu tanzen schien. Doch im nächsten Augenblick sah er völlig klar, klarer als je vorher, und eine ihm selbst unbegreifliche Ruhe kam über ihn. Er war nicht mehr Engelbert, der Liebhaber. Er war ein Wachmann im Dienst, und vor ihm stand nicht mehr seine[533] angebetete Braut, sondern eine Frauensperson, die ihn beleidigt hatte. Ein irres, aber bedeutendes Lächeln glitt über seine Züge, und mit einer ganz veränderten festen, lauten Stimme, wie sie nie jemand von ihm vernommen, sprach er, indem er dem Mädchen die Hand auf die Schulter legte: »Sie sind verhaftet im Namen des Gesetzes!«
Kathi sah ihn groß an und wußte anfangs nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte; aber sein Blick und der Klang seiner Rede waren so bestimmt, daß sie an seinem Ernst nicht zweifeln durfte;
»Engelbert, bist du ...« – »Es gibt kein' Engelbert mehr ... ich bin der Herr Sicherheitswachmann!« – Einige Passanten waren stehengeblieben.
»Engelbert«, sagte Kathi leise und sah ihn flehend an.
»Fräulein folgen mir sofort aufs Kommissariat, dort wird man Ihnen lernen, Fräulein, daß ein Sicherheitswachmann kein Aff' ist!«
Andere Spaziergänger blieben stehen. Einer hatte Engelberts Worte gehört und teilte sie den Umstehenden mit; das Staunen in der Runde war grenzenlos.
»Keine Ansammlung!« sagte Engelbert, indem er sich hoheitsvoll an die Umstehenden wandte. »Ich ersuche, sich sofort zu zerstreuen. Bitte, mir zu folgen, mein Fräulein!«
Kathi starrte ihn an ... sie wußte noch immer nicht, woran sie war.
»Na wird's, Fräulein?« sagte Engelbert. »Vorwärts!«
Mit einer Handbewegung, gegen die es keinen Widerspruch gab, befahl er ihr zu gehen. Die anderen Leute waren abseits getreten und betrachteten die Arretierung des hübschen Mädchens von fern mit ehrerbietiger Scheu.
»Warum arretieren Sie diese Dame?« fragte plötzlich jemand hinter Engelbert. Engelbert sah sich, aufs höchste überrascht, um. Der diese Worte gesprochen, war natürlich der junge Herr im grauen Anzug.
»Was?« fragte Engelbert in einem Ton, der berechtigte Zweifel an dem Verstande des Angeredeten verriet.
»Warum Sie diese Dame arretieren?« wiederholte der junge Herr, indem er Engelbert unsäglich frech anschaute. In Kathis Antlitz drückte sich mindestens eine gewisse Dankbarkeit aus. Engelbert fühlte, daß er nicht auf halbem Wege stehenbleiben konnte.
»Sie kommen auch mit!« rief er aus. »Ich verhafte Sie im Namen[534] des Gesetzes.« – »Ich komme sehr gern mit, lieber Herr Wachmann«, sagte der junge Herr lächelnd.
»Ich bin nicht Ihr lieber Herr Wachmann! Vorwärts!«
»Entschuldigen schon«, sagte der junge Herr, »das können Sie nicht entscheiden; ich finde, daß Sie ein lieber Herr Wachmann sind.«
»Schweigen Sie, und folgen Sie mir! Ich bitte doch, sich zu zerstreuen«, wandte er sich an die Menge, die wieder nähergekommen war. »Hier ist ja kein Theater!«
Er ging in der Mitte der Fahrstraße, rechts von ihm Kathi, links der junge Herr. – Ja, nun war es geschehen, nun mußte es vorbei sein mit dem Spott der Kameraden, mit dem Mißtrauen der Vorgesetzten, mit dem Höhn der Geliebten ... ja, auch damit! auch damit! Es war wohl auch mit allem anderen vorbei ... Aber das war gleichgültig, das ging ihn nichts an, das durfte ihn nichts angehen.
Die zwei Verhafteten neben ihm hatten zu sprechen begonnen; er versuchte nicht darauf zu hören, aber es gelang ihm nicht. Der junge Mann sagte: »Fräulein, ich bedaure wirklich sehr, daß ihr Spaziergang eine so unliebsame Unterbrechung erfahren hat.«
Kathi antwortete: »O bitte sehr, mir is' so leid, daß Sie wegen meiner, wegen einer ganz fremden Person ...«
»Ich bitte, Fräulein, selbst wenn ich Ihretwegen viele Jahre schweren Kerker bekommen sollte, es wäre mir nur ein Vergnügen.«
Engelbert mußte dies alles hören und schweigend in ihrer Mitte gehen. Ohne die Gefangenen anzusehen, fühlte er, daß die Blicke der beiden einander noch mehr sagten als ihre Worte; fühlte, wie sich zwischen den beiden, die ein gemeinsames Schicksal aneinanderschmiedete, immer stärkere Beziehungen knüpften, gegen die er machtlos war. Kathi ging so nah neben ihm, daß ihr Kleid ihn streifte. Sie nahten sich dem Kommissariat. Als er das wohlbekannte Haus von ferne sah, fuhr ihm ein verführerischer Gedanke durch den Sinn. Wenn er der ganzen Sache ein Ende machte? Wenn er die beiden frei ließe und Kathi um Verzeihung bäte ...?
Aber er wies diese unwürdige Versuchung gleich wieder von sich, und festen Schrittes trat er mit den beiden Verhafteten über die Schwelle des Polizeigebäudes.
Der Kommissär fragte, ohne aufzublicken: »Um was handelt es sich?«[535]
»Herr Kommissär«, sagte Engelbert, »um Wachebeleidigung und Einmischung in eine Amtshandlung.«
Der Kommissär sah auf. Als er Engelbert gewahrte, zeigte sich ein leichtes Erstaunen auf seinem Gesicht. Dann sagte er freundlich: »Na also!«
Engelbert wußte, daß das schon eine Art von Anerkennung bedeutete, aber fühlte nichts von dem Glück, das er sich seinerzeit bei dem ersten Zeichen einer solchen Zufriedenheit erwartet hatte. Der Kommissär nahm das Nationale auf. »Bitte, Fräulein ...«
»Katharina Wessely, Greißlerstochter, zweiundzwanzig Jahre alt ...«
»Und Sie?«
»Albert Meierling, Mediziner.«
»Also – Wachebeleidigung ... Worin hat diese Wachebeleidigung bestanden?«
»Herr Kommissär«, antwortete der Sicherheitswachmann, »das Fräulein hat mich einen Affen genannt.«
»Schön, schön«, sagte der Kommissär. »Und der junge Mann?«
»Hat sich Bemerkungen über die Arretierung der jungen Dame erlaubt.«
»Schön, schön. Da können wir hier weiter nichts machen. Das gehört ja vors Bezirksgericht. Danke sehr«, wandte er sich an die beiden Häftlinge. »Sie werden seinerzeit die Vorladung bekommen.«
»So können wir gehen?« fragte der junge Mann, und Engelbert sah bei diesem »wir« rot vor den Augen.
»Bitte sehr, wohin Sie wollen«, sagte der freundliche Kommissär.
Kathi warf auf Engelbert einen Blick, als wenn er ihr ein Fremder wäre. Der junge Mann öffnete die Türe und entfernte sich mit dem Mädchen. Engelbert wollte ihnen folgen; da rief ihn der Kommissär an: »Sie, Friedmaier!«
»Herr Kommissär?«
»Ich gratulier' Ihnen. Zeit war's schon. Im übrigen, wie ist denn das Mädel dazugekommen, Sie einen Affen zu nennen?«
»Herr Kommissär, gehorsamst zu melden, es ist nämlich meine Braut.«
Der Kommissär erhob sich von seinem Sitz. »Wie?« Dann sah er Engelbert lang an, klopfte ihm auf die Schulter. »Brav! Das laß ich mir gefallen.«[536]
»Oder vielmehr, es war meine Braut, Herr Kommissär«, sagte Engelbert, indem ihm die Tränen aus den Augen stürzten.
Der Kommissär betrachtete ihn gütig. Dann sagte er: »Also jetzt gehen Sie zurück auf Ihren Posten. Ich werde Sie übrigens zu einer besonderen Belobung empfehlen.«
Engelbert eilte auf die Straße. Er kam eben zurecht, um Kathi und den jungen Mann an der nächsten Ecke in einen Fiaker steigen zu sehen und den jungen Mann dem Kutscher zurufen zu hören: »In' Prater, Hauptallee.«
Die Verhandlung fand ein paar Wochen später statt. Der staatsanwaltschaftliche Funktionär feierte die Manneswürde und Pflichttreue des Wachmannes, der durch keine Art von persönlichen Beziehungen sich hatte abhalten lassen, der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen. Der Verteidiger brandmarkte den empörenden Versuch, eine Geliebte, deren man überdrüssig geworden war, sich auf amtlichem Wege vom Halse zu schaffen, und sprach die Hoffnung aus, daß sich ein derartiger Macchiavellismus unter den braven Sicherheitswachleuten der Hauptstadt nur vereinzelt vorfinden dürfte. Der staatsanwaltschaftliche Funktionär, unbeirrt, behauptete in seiner Replik, daß die Fundamente des Staates zu wanken begännen, wenn hier nicht ein Exempel statuiert würde. Und so geschah es auch, Kathi wurde zu fünfundzwanzig Gulden Geldstrafe verurteilt, der Mediziner Albert Meierling zu zehn Gulden; er erlegte die Summe für beide. Es war ein schöner Julitag; am selben Abend fuhren wieder beide in den Prater.
Merkwürdig aber ist, daß von diesem Tage an der Bann, der bisher über Engelbert Friedmaier lastete, geschwunden ist. Die bösen Triebe rings um ihn sind erwacht; vorbei ist es in seiner Nähe mit Ordnung und Sittlichkeit, tagtäglich eskortiert er Übeltäter auf die Wachstube, und seine Kameraden sehen bewundernd zu ihm auf. Sie erkennen ihn kaum wieder. Er ist ein harter, grimmiger Mann geworden, und alle Schwüre unbescholtener Leute gelten als verruchte Lügen vor der dunklen Macht seines Diensteides, dem sich Kommissäre und Richter beugen.
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