Arthur Schnitzler

Exzentrik

Gestern nacht sitz' ich im Kaffeehaus, da sagt plötzlich einer hinter mir: »Ah non – ça – nie wieder!«

Ich hätte nicht aufzusehen brauchen; das war August. Er war schön und elegant wie immer. Mit jener wunderbaren Leichtigkeit, um die ich ihn immer im stillen beneidet habe, nahm er an dem kleinen Tischchen mir gegenüber Platz, ohne den gelben Überzieher, der ihm nur um die Schultern hing, abzulegen, rückte den kleinen, steifen, runden, schwarzen Hut, über den noch mehr zu sagen sein wird, tief in die Stirn und rief einen Kellner herbei, der, über dem Billard liegend, eine Zeitung las. Es war nämlich halb drei Uhr morgens, im Mai, und wir waren die letzten Gäste.

Der Kellner kam rasch herbei. »Guten Abend, Herr von Witte.«

»Was, guten Abend – nom d'un nom – wollen Sie mich frozzeln? Bringen Sie mir lieber was zum Essen oder Trinken.«

»Bitte, Herr von Witte – einen kleinen Schwarzen – einen Kognak ...?«

August sah den Kellner düster an. »Sie irren sich«, sagte er, »bringen Sie mir zwei Sardinen, zwei weiche Eier in einem harten Glas, ein Schinkenbrot und eine Flasche Bier.«

Der Kellner verschwand. August nahm mir die Zeitung aus der Hand und schleuderte sie auf einen andern Tisch. »Ich bin nämlich da, verstehst du?«

»Man merkt es«, erwiderte ich heiter. »Woher kommst du denn so spät?«

»Woher ...?« sagte August und sah mich mit einem wehmütig-dämonischen Blicke an. »Ich würde an einen Menschen um drei Uhr morgens, wenn er nicht zufällig im Frack ist, nie eine solche Frage stellen. Aber du bist und bleibst ein Rüppel – jawohl«, setzte er hinzu, indem er den armen Mitterwurzer nicht ohne Glück zu kopieren versuchte, »ein Rüppel, ein Rüppel!«

Ich erwiderte nichts, nahm eine Zeitung und las eine Weile. Plötzlich strömte mir aus dem Blatt eine sonderbare Wärme entgegen, gleich darauf fing die Notiz über die neue Operette von[560] Charles Weinberger zu glühen und zu verkohlen an, und das Ende einer frisch angezündeten Zigarette erschien im Mittelpunkt. Aber ich lächelte nur wenig; so verwöhnt hatte mich August im jahrelangen vertrauten Umgang durch ähnliche und noch viel bessere Scherze.

»Soll ich dir einen Rat geben?« fragte er dann plötzlich.

»Ich bitte darum«, antwortete ich höflich.

August sah mich an und sagte scharf und bestimmt: »Alles, mein Lieber, du verstehst mich, alles, nur keine Exzentriksängerin!«

»Gewiß, gewiß«, sagte ich.

»Alles«, wiederholte August – »Blumenmädeln, alleinreisende Damen aus Rumänien, Flötenbläserinnen, Schornsteinfegersgattinnen, Tragödinnen. Les dernières des dernières ... Alles, mein Lieber, nur keine Exzentrik!«

Ich nickte schlagfertig. Der Kellner brachte, was August bestellt, und mein Freund begann zu essen und zu trinken. Aber schon nach dem ersten Schluck Bier sprach er weiter. »Gegenüber diesen Geschöpfen ist man nämlich wehrlos, und das ist das Entsetzliche. Ich will es dir erklären. Mit einem guten Freund, den man bei seiner Geliebten erwischt, kann man sich schlagen, einen oberflächlichen Bekannten kann man auf der Stelle niederschießen, und einen Fremden, wenn er nicht sehr chic ist, prügelt man einfach durch. Das sind lauter Fälle, in denen man weiß, wie man sich zu benehmen hat, weil man es mit normalen Menschen zu tun hat. Aber was habe ich erleben müssen von dem ersten Augenblick, da ich Mademoiselle Kitty de la Rosière geliebt habe, bis ...« Er nahm seine Uhr aus der Westentasche, legte sie vor sich hin – »bis vor einer Stunde.«

»Gute Nacht!« sagte ich und stand auf.

»Oh!« rief August, »Kellner, sperren Sie die Türe zu!«

»Bitte sehr, bitte gleich«, erwiderte der Kellner, der beinah so witzig war wie August, eilte zur Tür und sperrte ab.

»Setz dich nieder, mein Lieber«, sagte August, »ich werde dir eine Geschichte erzählen, daß du ...« (er nahm jetzt zum Scherz den Ton Lewinkys an und verdrehte die Augen), »daß du bis ins Mark der Knochen schaudern wirst. Les amours de Monsieur August Witte et de la très-jolie Kitty de la Rosière. – Heinrich, eine Virginia!« Er lehnte sich in die Ecke, indem er den Ellbogen auf den Fensterpolster stützte; den kleinen, steifen, schwarzen, runden Hut, über den noch manches zu sagen sein wird, hatte er noch immer auf dem Kopf, den Überzieher noch immer über den[561] Schultern und sah interessanter aus als je. Ich war sehr schläfrig, und nur die Hoffnung, daß mein Freund mir von einer Blamage erzählen würde, hielt mich noch aufrecht.

»Sie hat mich betrogen«, begann er.

»Ah!« sagte ich, angenehm berührt.

»Du wirst mich nicht für so geschmacklos halten, daß ich dir das als etwas Besonderes erzählen sollte. Du kannst dir denken, daß ich daraufgefaßt war: aber ich hatte anfangs die Hoffnung, nicht darauf zu kommen. Darin hab' ich es nämlich zu einer wahren Virtuosität gebracht. Ich besuche meine Schönen (August hatte manchmal solche Ausdrücke aus der alten Schule) nie zu einer ungewohnten Stunde, ich lese nie die Briefe, die ich zufällig auf dem Tische finde, ich entferne mich sofort aus jedem Lokal, falls ich ihren Namen am Nebentisch von einem Fremden nennen höre, und wenn ich trotz aller dieser Vorsichtsmaßregeln etwas erfahre, glaub' ich es einfach nicht. Aber alle diese Maßnahmen haben bei Kitty versagt. Erinnerst du dich an Little Pluck?«

»O freilich, dieses kleine Scheusal.«

»Kitty scheint das nicht gefunden zu haben. Ich muß vorausschicken, daß ich durch etwa vierzehn Tage mit ihr namenlos glücklich war. Jeden Abend nach der Vorstellung pflegte ich ihr meine Visite zu machen; um elf war ihr Auftreten, um eins das meine. Sie empfing mich jederzeit mit großer Herzlichkeit. Auch an jenem Abend war nichts anderes verabredet worden.«

»An welchem Abend?«

»Da Little Pluck, das kleine Scheusal, zweieinviertel Fuß hoch, achtzehn oder neunundfünfzig Jahre alt, debütiert hatte. Ich trete bei Kitty ein, wie immer Punkt eins, wen find' ich ...? Little Pluck – wie soll ich sagen? – zu ihren Füßen. Ich war sprachlos. Trotzdem ein Mißverständnis nahezu ausgeschlossen war, erwartete ich irgendein erlösendes Wort von ihr – zum Beispiel: ›Du irrst dich ...‹ Aber sie sprach es nicht aus. Sie sah mich mit sehr großen Augen an und sagte nur die unvergeßlichen Worte: ›N'est-il pas drôle?‹ Im ersten Moment, so tief eingewurzelt sind unsere Instinkte, zuckte mir die Hand; aber wie ich Little Pluck betrachtete, dieses vollkommen lächerliche Subjekt – viel lächerlicher in diesem Augenblick, als Worte ausdrücken können –, schwand mein Zorn, und ich sagte mir: ›Du kannst einen Zwerg weder schlagen, noch kannst du dich mit ihm schießen.‹ Ich griff nur die Bemerkung Kittys auf, sagte: ›Bien drôle! Bien drôle!‹, nickte, lächelte und ging.«[562]

»Also das ist dir heut passiert?«

»Heute? – Nein, das war vor zwei Monaten. Ich verzieh ihr. Und ein paar Wochen waren wir sehr glücklich.«

»Blieb Little Pluck im Engagement?« fragte ich mit einem sardonischen Lächeln.

»Ich verstehe deine beleidigende Anspielung«, erwiderte August. »Aber ich kann dir versichern, daß Little Pluck, trotzdem er einen ganzen Monat lang bei Ronacher auftrat, nie wieder von Kitty empfangen wurde, wenn ich nicht dabei war. Und am Abend seines letzten Auftretens hab' ich Little Pluck sogar eine kleine fête gegeben bei Kitty, und trotzdem er betrunken war wie ein Schwein, benahm er sich höchst anständig, so daß ich Kitty gestattete, ihn zum Abschied zu küssen. Am nächsten Morgen reiste er nach Triest; wir haben ihn auf die Bahn begleitet, und Kitty weinte. Ich war im ganzen eher froh, daß er wegfuhr. – Aber das Programm bei Ronacher wechselt, wie dir wohl bekannt ist.«

»Aha!« sagte ich.

Der Ausdruck meines Gesichtes mochte in diesem Augenblick für August nicht sehr schmeichelhaft gewesen sein, denn er warf mir, allerdings nur scherzweise, aber doch mit einem gewissen Ärger, eine Semmel ins Gesicht. Während ich sie wieder in den Brotkorb legte, erzählte August weiter.

»Statt Little Pluck erschien im Programm eine Nummer, die berechtigtes Aufsehen machte. Die rührige Direktion – der Teufel soll sie holen – engagierte ›The two Darling‹ die beiden Riesen aus Tibet, das größte Brüderpaar, das je gesehen wurde.«

»Zwei!« rief ich aus, ohne damit etwas Besonderes sagen zu wollen. Aber August mußte mich mißverstanden haben, denn er nannte mich einen Schurken. »Immerhin«, setzte er hinzu, »ahnst du das Richtige. Am Abend, da ›The two Darling‹ zum ersten Mal aufgetreten waren, ging ich wie gewöhnlich zu Kitty. Was soll ich dir viel erzählen? ... Es war nur der eine von den beiden Riesen, aber es genügte mir.«

»Dir«, sagte ich mit einem so zynischen Ausdruck, daß ich vor mir selbst erschrak. August starrte mich zuerst an, dann erhob er sich plötzlich und bewegte die Lippen zu einem schauerlichen Fluch. Aber da er, wie man gewiß schon bemerkt hat, der besten Gesellschaft angehört, beherrschte er sich, setzte sich wieder und sprach mit einem gewissermaßen resignierten Ton weiter. »Kitty war gefaßt wie immer. Der Riese grinste mich an und schien anfangs in einer leichten Verlegenheit. Als er aber Kittys Ruhe[563] bemerkte, gewann er der Sache sozusagen eine heitere Seite ab, lachte herzlich, was ungefähr klang wie ferner Donner, und sagte dann zu mir: ›Good evening, Sir. I am very glad to see you. What can I do for you?‹ – Ich will nicht leugnen, daß ich anfangs nahe daran war aufzubrausen, aber noch zu rechter Zeit fuhr mir durch den Kopf, welchen Produktionen ich vor kaum zwei Stunden bewundernd beigewohnt: jener Darling hatte sieben Männer zugleich in die Höhe gehoben, Eisenstangen mitten entzweigeschlagen und mit drei Zentner schweren Kugeln Ball gespielt. Ich unterdrückte daher meinen Unwillen und sah Kitty mit einem Blick an, den sie wahrscheinlich nicht ganz richtig auffaßte. Denn statt sich zu entschuldigen, sagte sie mit ihrer unbeschreiblichen Ruhe: ›Tu sais, mon chéri, je ne comprends pas un mot de ce, ce qu'il dit!‹ – Du wirst zugeben, daß das selbst einem Geduldigeren als mir über den Spaß gegangen wäre. Mein Blut kochte, ich fühlte, daß diese Szene ein entsetzliches Ende nehmen mußte, und ich ging fort, ohne zu grüßen.«

»Flegel«, sagte ich.

»Als ich am Tage darauf«, setzte August fort, ohne meinen Vorwurf zu beachten, »Kitty meinen Besuch machte, empfing sie mich heiter wie immer. Ich war zu rücksichtsvoll, um die peinliche Szene von gestern zu berühren, und Kitty schien sich ihrer nicht mehr zu erinnern. Vielleicht bildete sie sich auch ein, daß sie geträumt hatte – was weiß ich! Sicher ist nur – die Weiber sind ja rätselhaft –, daß sie mich an diesem Tage mehr liebte als je. Am selben Abend saß ich wieder in einer Loge bei Ronacher. The two Darling traten auf, und da sie einander so ähnlich sahen, daß sie unmöglich voneinander zu unterscheiden waren, so hatte ich keine Ahnung, welchen von beiden ich bei Kitty getroffen hatte. Ich glaube, auch Kitty hat es nie mit Bestimmtheit erfahren. Aber das ist egal. Sicher ist nur, daß ihr Verkehr mit den beiden Riesen von nun an ein wahrhaft harmloser und kameradschaftlicher blieb.«

»Wie!« schrie ich so heftig, daß die Fensterscheiben klirrten.

August setzte unbeirrt fort: »Nie wieder habe ich einen allein bei Kitty getroffen. Sie pflegten vor der Vorstellung den Tee bei ihr zu nehmen, und auch ich wurde manchmal dazu geladen. Da die beiden Riesen kein Wort Französisch und Kitty keine Silbe Englisch verstand, war ich sozusagen der Dolmetsch.«

»Und wenn du nicht oben warst«, fragte ich herzlich, »wie haben sie sich da verständigt?«[564]

August betrachtete mich. »Wenn du auch dein kindliches Gesicht schneidest«, entgegnete er mir würdig, »ich merke wohl, daß du mit dieser Frage Kitty zu verdächtigen suchst. Aber ich sage dir, es hat sich nach jenem Auftritt für mich nie wieder ein Grund ergeben, an Kitty zu zweifeln. Ich meine wenigstens in Hinsicht auf die Riesen. Es war eine Kaprize gewesen – mein Gott, ich habe auch meine Kaprizen! Und wer weiß, wie ich mich einer Riesendame gegenüber verhalten würde. Ich versichere dir, The two Darling waren wie die Kinder; einmal kam ich dazu, wie die beiden Riesen mit Kitty Ball spielten ... der eine Riese stand in der einen Ecke des Zimmers, der andere in der anderen ... oder umgekehrt, ich habe die Kerls nie auseinandergekannt – und Kitty flog über den Teetisch hin und her.« August lächelte etwas blödsinnig in der Erinnerung an die heitere Szene. Plötzlich verdüsterte sich aber sein Antlitz, und er setzte fort: »Gestern war ihr letztes Auftreten. Heute früh um sechs haben wir die Riesen auf die Bahn begleitet, Kitty und ich. Es war ein unglaubliches Aufsehen am Perron, besonders wie The two Darling vom Coupefenster aus mit zwei Leintüchern zum Abschied winkten. Ich führte Kitty im Fiaker nach Hause. Ich mußte sie trösten, und sie erwies sich so dankbar, daß ich erst zu Mittag ins Büro kam. Wenn ich bedenke, daß das heute früh war ... was hat sich seitdem alles verändert!«

»Unter anderm jedenfalls«, bemerkte ich ahnungsvoll, »das Programm bei Ronacher.«

August blickte mich an wie ein verendendes Reh. »Was willst du«, sagte er, »das Publikum muß Abwechslung haben.«

»Wer war es?« fragte ich einfach.

»The Osmond Troup«, erwiderte August errötend.

»Wieviel?« fragte ich gepreßten Tones.

»Sieben!« erwiderte August.

»Sieben!« wiederholte ich, freudig bewegt.

»Laß das«, antwortete er still. »Ich will dir nicht verhehlen, daß mich schon während der Vorstellung unangenehme Ahnungen beunruhigten. Die Osmonds sind Leute von einer unglaublichen Beweglichkeit, von sehr viel Witz und riesig musikalisch. Viel Neues haben sie nicht gebracht, aber es war alles viel virtuoser, als ich es je gesehen. Im allgemeinen sind's ja die bekannten Stückerln: sie treten mit einem Höllenlärm auf, schlagen Purzelbäume, hauen einander Baßgeigen um den Schädel, reißen Tischen die Füße aus und blasen den Tannhäusermarsch darauf,[565] setzen sich auf Samtfauteuils, und es wird ›Hab' ich nur deine Liebe‹ daraus, und so weiter. Als ich jetzt die Kerle durcheinanderspringen und ihre Tollheiten treiben sah, entwickelte sich in mir sozusagen a conto eine Eifer sucht« (ich halte mich sklavisch an die Ausdrucksweise meines Freundes, die nicht immer seinen Beruf vergessen ließ); »denn nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Kitty könnt' ich nicht daran zweifeln, daß mir die heurige Nacht wieder etwas Peinliches bringen würde. Aber plötzlich kam mir ein Gedanke, der mir Trost, Friede, ja eine Art von Genugtuung brachte. Es waren nämlich lauter wohlgewachsene Leute, keine Zwerge, keine Riesen, es waren sozusagen Männer wie du und ich.« Ich verbeugte mich dankend. »In diesem Falle war ich jeder Rücksicht enthoben. Ich konnte jeden von den sieben Kerlen totschlagen, ohne mich lächerlich zu machen. – Um Mitternacht war die Vorstellung aus. Von zwölf bis eins ging ich spazieren: während dieser Stunde erwachte eine neue Hoffnung in mir, daß diesmal ihre Tür versperrt sein würde. Es war eine trügerische Hoffnung; sie war nur angelehnt, hinter ihr hörte ich plaudern, lachen; ich trat ein, und wie du richtig vermutest: es war einer von den sieben.«

»Wahrscheinlich der Kapellmeister«, sagte ich, eigentlich ziemlich gedankenlos.

»Wie soll ich das wissen!« entgegnete August. »Bei Ronacher waren doch die Leute alle geschminkt und in Kostümen, was ich von dem Menschen, den ich bei der Elenden antraf, nicht behaupten kann. Es war, wie ich erwartet, ein hübscher, junger Mann, wie ich.« – Von mir sprach er nicht mehr. – »Kitty, die Unbegreifliche, schaute mich an und sagte mit einem liebenswürdigen Lächeln: ›Si je ne compte pas mal, c'est la troisième fois.‹ – ›Et la dernière, je t'assure‹, sagte ich in einem Ton, den sie gewiß noch nie von einem Menschen gehört. Dann wandte ich mich zu dem Osmond, der gemütlich seine Zigarette weiterrauchte und – na, sagen wir: sitzengeblieben war, packte ihn beim Arm und sagte: ›Sie sind ein Lump, mein Herr, und ich werde Sie züchtigen. Nicht vielleicht, weil ich auf Weiber dieser Sorte eifersüchtig bin, sondern weil es mich agaziert – ein gutes Wort in diesem Moment, wie? –, Sie hier zu finden.‹ Dabei erhob ich meine Hand, um ihn ins Gesicht zu schlagen. In diesem Augenblick aber sah ich schon nichts mehr; es wurde mir im wahrsten Sinn des Wortes schwarz vor den Augen, denn das Osmondsiebentel hatte mir mit einem kräftigen Faustschlag den Zylinder eingetrieben, und ich vernahm[566] nur dieselben Worte, wie ich sie eine Stunde vorher auf der Bühne gehört, als er einem von den sechs andern eine Hacke in den Kopf geschlagen hatte, deutsche Worte in englischem Akzent: ›Oh, mein guter Freund, du bist mir zu lustig!‹ Als es mir endlich gelang, meinen Zylinder wieder in die Höhe zu bringen, wälzte sich Kitty, das süße Weib, in einem wahren Lachkrampf auf dem Boden, und der Clown saß, als wäre nichts geschehen, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Lehne des Diwans und rauchte die Zigarette weiter. Ich aber fühlte: jetzt ist es zu Ende! Nichts mehr war in mir, keine Liebe, keine Eifersucht, kein Gram, kein Stolz, kein Haß – ich sagte: ›Gute Nacht, Kitty‹, kümmerte mich nicht um den andern, verließ das Zimmer, hängte im Vorraum meinen zerteptschten Zylinder an den Nagel, setzte diesen schönen, neuen, schwarzen, steifen, runden Hut auf, der dem Clown gehörte, und bin nur noch rasch hierhergeeilt, um dir den Rat zu geben, nie mit einer Exzentriksängerin etwas anzufangen.«

»Mein lieber August«, sagte ich, »du bist ungerecht. Meiner Ansicht nach hast du bei der ganzen Sache doch nur gewonnen. Ich will gar nicht von dem Hut sprechen, der dir glänzend steht, aber die Erfahrungen, die du gesammelt hast. Wie kommt sonst unsereins dazu, mit Zwergen und Riesen auf einem so vertrauten Fuß zu verkehren?« (August schüttelte abwehrend den Kopf.) Ich beharrte: »Und ich an deiner Stelle würde nicht versäumen, auch morgen deinen Tee bei Kitty zu nehmen, wo du gewiß die ganze Truppe kennenlernen wirst.« August sah mich mißtrauisch an. »Nun ja«, fuhr ich fort, »ich stelle mir das sehr amüsant vor. Wie die zwei Riesen mit ihr Ball gespielt haben, so werden die Osmonds vielleicht auf ihr Flöte blasen.«

»Du bist ein Idiot«, entgegnete August. So wenig vertrug er es, wenn ein anderer gute Witze machte.

Der Kellner kam. Wir zahlten und traten in einen herrlichen Frühlingsmorgen hinaus. »Mich freut nur«, sagte August, »daß der Kerl über seinen Spaß nicht mehr lange lachen wird, wenn er im Vorzimmer statt seines neuen Hutes ...«

August schwieg plötzlich. Ich merkte, daß seine Züge erstarrten und seine Augen riesengroß wurden. Ich folgte seinem Blick und sah, daß uns ein junger Mann entgegenkam, der mit vollendeter Eleganz gekleidet war, nur der Zylinder, den er auf dem Kopf sitzen hatte, war vollkommen vernichtet. August blieb stehen und ließ den jungen Mann näherkommen. Dieser lüftete den Hut und sagte: »Good morning, Sir.«[567]

»Good morning«, sagten wir beide und nahmen unsere Hüte ab, die wir natürlich gleich wieder aufsetzen wollten. Mir gelang es. Nicht so meinem Freund August. Diesem nahm der fremde Herr den Hut einfach aus der Hand, setzte ihn auf und übergab August mit einem verbindlichen Lächeln den vernichteten Zylinder. Und sich zu mir wendend, als sei er ausschließlich mir eine Erklärung schuldig, bemerkte er: »Ich habe nämlich gewechselt diesen kleinen Hut vor einer kleinen Stunde bei einer kleinen Freundin. Good morning, Sir.« Damit ging er.

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, jemals ein dümmeres Gesicht gesehen zu haben, als das meines Freundes August. Er war totenbleich und schien nach Worten oder wenigstens nach Luft zu schnappen. Er wartete, bis der Gentleman sich in einer anständigen Entfernung befand, dann sagte er mit einer Art von finsterer Entschlossenheit: »Was soll man da tun? Erdolchen oder eine gellende Lache aufschlagen?«

»Erdolchen«, sagte ich rasch. Ich riet es ihm nicht aus Brutalität, sondern vielmehr aus Neugier, weil ich noch nie jemanden erdolchen gesehen habe. Ob nun August zu gutherzig war, oder ob er wieder einmal keinen Dolch bei sich hatte – gewiß ist, daß er meinem Rat nicht folgte, sondern nur ganz kurz und nicht einmal, wie er sich zuerst vorgenommen, besonders gellend lachte. Ich betrachtete ihn mit einiger Besorgnis, denn ich kenne Leute, die durch ähnliche Vorfälle plötzlich toll geworden sind. August wurde es nicht. Ein sonderbares Zucken glitt über seine Züge, als wenn sich eine furchtbare Aufregung plötzlich löste, und er sagte, eher träumerisch: »Ich werde ihn einfach bügeln lassen.«

Ich bin fest überzeugt, er meinte den Zylinder.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 560-568.
Erstdruck: Jugend, Nr. 30, München, 1902.
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