V

[61] Ein paar Jahre darauf hing ein kleines Bild des jungen Weldein in der Ausstellung. Man begann von seinem eigenartigen und bedeutenden Talent zu sprechen. Eines befremdete jedoch an ihm: es schien, als könnte er nur Spieler und Trinker malen. Es war[61] wie ein Verhängnis. Er versuchte wohl seine Kunst an anderen Themen; doch keines wollte ihm so recht gelingen. Wie verzweifelt saß er manchmal vor seiner Staffelei, wenn er sein Bild der Liebe, der Seligkeit hinzaubern wollte ... lächerliche Fratzen starrten ihm entgegen, nicht Engelsangesichter. Er mußte sich endlich fügen, ein unsagbarer Zwang waltete über ihm. »Bin ich wahnsinnig«, fragte er sich manchmal, »oder kommt es daher, weil ich selbst jenem Laster verfallen scheine?« ... Und er versuchte seiner selbst Herr zu werden, er wollte dem Wein, den Karten entrinnen. Es war nicht möglich ... ja, sobald er einige Tage sich aus dem Kreise der Freunde zurückgezogen, wo das Spiel und der Trunk winkte, war er wie gebrochen und todesmatt. Es fehlte ihm jedweder Trieb zum Schaffen. Und dann eilte er wieder an den Spieltisch, zu der Flasche ... Und wenn er dann am hellichten Morgen, wie damals, da er seinen Vater auf dem Boden liegend gefunden, nach Hause kam, da war er wieder der große Künstler, der die währe Lust und das wahre Können empfindet. Er mußte sich drein ergeben. Sein Vater war ein alter, kranker Mann geworden. Er blieb in seiner alten Wohnung, während der Sohn sich in derselben Vorstadt ein kleines, lichtes Zimmer im vierten Stock, nahe dem Himmel und dem Licht, gemietet hatte. Zuweilen besuchte ihn der alte Weldein, und müde vom Treppensteigen setzte er sich zum Fenster hin, blieb still da sitzen, während Franz malte oder auf dem Sofa lag und rauchte. Manchmal sprachen sie und klagten ... Der Alte verdiente nur wenig, und bei dem Jungen ging es mit dem Ruhme und dem Reichtum auch nicht rasch genug vorwärts ...

Einige Male sagte der Vater: »Daß du nur solche Dinge malen kannst, daran bin ich schuld. Mein ganzes Blut ist vergiftet, ja, vergiftet.« Der Sohn erwiderte nichts und malte weiter.

Und in der Stille des Gemaches, wenn Weldein so stundenlang dasaß, überwältigte ihn der Gedanke seines Alters schmerzlich und tief. Da vor sich sah er einen, dem auch nichts Besseres beschieden war ... Und das, womit beide hätten glücklich werden können, wo war es? Wie ein Traum zog ihm manchmal jene Nacht durch den Sinn.

Und dann unterbrach der Junge sein Sinnen und erzählte, was er malte ...Jetzt ... eine Spielergesellschaft in einem verrufenen Hause ... ein paar Weiber, die zwischen den Spieltischen stehen, die Champagnergläser in der Hand. Das war bald vollendet. Dann ein kleines Bild ... Am Kamin ... Er und sie ... Sie spielen[62] Bésigue; über die Karten weg lächeln sie sich an ... Ein anderes, das halbvollendet in der Ecke stand ... aus dem Mittelalter ... Landsknechte, die Würfel spielen ... Es wollte nicht geraten, es war nicht modern genug ... Der Alte hörte zu, und dabei begann die Nacht hereinzudämmern. Und auch der junge Maler stellte sich zum Fenster, das er weit öffnete, um die Abendluft hereinströmen zu lassen.

Es war ein Sommerabend, schwül und traurig. Verhallend drang der Lärm der Straße herauf; gleichmäßig rollte das dumme Leben weiter. Stets dasselbe eintönige Geräusch. Was immer sie da unten treiben, immer dasselbe schwerfällige Summen dringt herauf ... Und die letzten Sonnenstrahlen glitten sachte die Dachzinnen hinauf, um da oben allmählich zu verglänzen, Schatten breiteten sich aus, zerflatterte Wolken erschienen am Himmel, lässig hingeworfen; weiße Streifen zeichneten sich ab ... Lange währte die Dämmerung. Der alte Weldein blickte zum Himmel, wo wieder einer seiner öden Tage zur Neige ging.

Öfter als früher kam ihm jetzt der Gedanke: wird es bald vorbei sein? Und er fühlte manche Zeichen des Alters, das ihm vor der Zeit genaht war.

Sie hatten nun eine Weile in den Abend hinausgestarrt, der Vater unterbrach das Schweigen.

»Hast du eine neue Idee?«

»Eine neue?«

»Ja, für ein großes Bild, mein' ich.«

»In den Umrissen – ja.«

»So? Und was soll's denn werden?«

»Ich will den Klub malen.«

»Den Klub?«

»Ja, den Spielsaal des adeligen Klubs.«

Der alte Weldein stand plötzlich auf. »Das wolltest du? ...«

»Hältst du es für zu schwer? ...«

»O nein! Aber woher nimmst du die Gestalten?«

»Nun, ganz einfach aus dem Klub –«

»Du warst doch niemals dort?«

»O ja, schon zweimal.«

»Dort? ... Im Spielsaal? ... Wie war dies möglich?«

»Ein Mitglied führte mich ein. Es ist derselbe Herr, der mein letztes Bild gekauft hat ...«

»Die schwarze Kugel?«

»Ja ... Er kam neulich in der Ausstellung selbst auf mich zu[63] und sagte, er interessiere sich für mein Talent ... dann war er hier oben und betrachtete sich meine Skizzen. Bei dieser Gelegenheit bat ich ihn um die Gefälligkeit, mir Eintritt in den Klub zu verschaffen, um dort für mein neues großes Gemälde Beobachtungen sammeln zu können.«

»– So ... Wie wurde er denn auf dich aufmerksam?«

»Nun, offenbar durch mein Bild in der Ausstellung ...«

»Wie heißt der Mann?«

»Graf Spaun.« –

Weldein zuckte zusammen und ließ sich wieder auf den Sessel fallen. Da es volle Nacht geworden, entging dem Sohne die Bewegung im Antlitz des Vaters.

»Spaun ... sagst du ...«

»Ja, ein Mann nah den Fünfzigen, sehr kunstverständig und nicht ohne Phantasie.«

»Phantasie ... jedenfalls ... hat er nach mir gefragt? ...«

»Nach dir, Vater?« wiederholte der Sohn lächelnd.

»Nun, ich meine, nach deiner Familie.«

»Ja, so beiläufig. Ob die Eltern noch leben, ob ich aus reichem Hause sei ...«

»Und du hast geantwortet?«

»Wie merkwürdig du mich fragst! Ich habe die Wahrheit gesagt.«

»Er war wohl sehr erstaunt, der Graf.«

»Erstaunt? – Warum?«

»Nun, daß es ein junger Mensch aus so armem Hause so weit gebracht hat.«

»So weit! Glaubst du das wirklich, Vater?«

»Nun ja! Man kennt doch deinen Namen. Man sagt doch: der Maler Weldein.«

Der junge Mann lächelte wieder. Mit gelinder Wehmut erfüllte ihn, was er für väterliche Eitelkeit hielt ... Er trat vom Fenster weg, und das Gespräch kurz abbrechend, sagte er: »Ich will nun Licht machen.«

»So? Du bleibst daheim?«

»Ich warte noch ein wenig.«

»Auf wen?«

»Nun, auf den Grafen.«

Der alte Weldein erhob sich. »Er kommt? Graf Spaun?« Es klang wie ein Angstruf.

»Was hast du, Vater?«[64]

»Nichts ... Aber ich ... kann mit solchen Herren doch nicht umgehen ... Nein, nein, laß mich ... Ich freue mich sehr ... er wird dir viel nützen. Leb wohl, Franz.«

»Was ist dir?« Und er schaute den Alten, auf den von dem Kerzenlicht ein schwacher Schein fiel, befremdet an.

»Aber nichts ... Franz ... Du bist komisch, was soll denn sein? Ich gehe, wie immer am Abend, bin ich denn je so lange geblieben? – Meine Freunde im Wirtshaus warten schon! Du gehst wohl ...«

»Ich gehe mit dem Grafen in den Klub.« Und lachend setzte er hinzu: »Es ist da auch das Gute, daß ich nicht mitspielen kann ... Da geht's hoch, Vater ... das anzusehen ... Aber du hast ja nie gespielt?«

»Nein, nie ...«

Und beide schauten dem Fenster zu, ins Dunkle, Leere. Und vor beiden erschien dasselbe Bild. Ein jubelnder Lichterglanz ... Mitten darin der große grüne Tisch; und die Karten fallen, und Vermögen rollen hin und her ... Ein Rausch überkam sie ... der Rausch der Spieler, die sich erinnern. Der Rausch der Menschen, die daran denken, daß es nur eine Laune des Zufalls braucht, um sie reich und hochbeglückt zu machen. Ein Luftzug strich herein, das Kerzenlicht flackerte ... Der grüne Tisch versank, der Glanz der Lichter löschte jäh aus ...

Der Alte nahm seinen Hut und ging. »Guten Abend, mein Sohn«, sagte er noch bei der Tür. Und so rasch er konnte, eilte er die Treppe hinunter. Es war an der Zeit gewesen. Kaum war er aus dem Tor getreten, so nahte von der anderen Seite die Gestalt des Mannes, die er seit jenem Abend wohl nicht mehr gesehen, aber nicht vergessen hatte. Mit weit offenen Augen blieb Weldein stehen ... Und ins Tor sah er ihn hineintreten, sah ihn die ersten Stufen hinaufsteigen und verschwinden – wie damals auf der Stiege des Klubs, als er von ihm mit seinem Reichtum spät nachts mitten auf der Straße verlassen worden. Und Weldein trat weiter weg vom Tore; er schaute hinauf zum Fenster seines Sohnes und wartete. An der gegenüberliegenden Wand erschienen Schatten, die sich bewegten ... Sein Sohn und Graf Spaun ... Ihn schauerte ... Warum nur? Ein Gedanke kam ihm plötzlich ... Er wird ihm Unglück bringen! Und er wollte wieder zurück, hinauf, seinen Franz retten ... Der helle Lichtschein im Flur brachte ihm die Besinnung zurück ... Er blieb stehen ... »Narr«, murmelte er vor sich hin. Und er ging in die Schänke.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 61-65.
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