VI

[65] Früh morgens kam Franz Weldein nach Hause; voll von Eindrücken, ja mit einem Hauch von Begeisterung setzte er sich hin, um einige Skizzen hinzuwerfen. Und doch ... irgend etwas war, was ihn störte. »Ich weiß, was es ist«, sagte er vor sich hin. »Ich weiß, was mir fehlt ... Ja, wenn ich mich hinsetzen könnte mitten unter die Leute und mitempfinden, was sie empfinden; das war' was andres! Dann könnt' es ein Bild geben! Ja dann! –«

Und er skizzierte weiter. Nach einer Stunde wurde er müde. »Ich will ein wenig ruhen«, dachte er ... »mich nicht zu Bette legen ... ich will nur darüber sinnen ...« Und er streckte sich auf das Sofa ... Er schloß die Augen, und das Bild entwickelte sich vor ihm. Da ist der Saal in seiner stolzen Einfachheit. Die vier großen Spiegel in goldenen Rahmen ... Eigentümliche Reflexe, die von einem zum andern fallen. Ein großer Herr mit blondem Schnurrbart in der Türe stehend, eine Gardenia im Knopfloch ... Eine Gruppe Teilnahmsloser, an einem der großen Fenster stehend, plaudernd, Zigaretten rauchend ... Und dann die Spieler um den Tisch ... Der Herr mit dem schwarzen Vollbart. Doch nein ... sie durften nicht zu erkennen sein ... Nur irgendein Schimmer von jedem ... Bei jedem findet die Leidenschaft des Spiels irgendeinen Ausdruck, der gerade ihm eigentümlich ist. Fast alle scheinen ruhig, doch er, der Künstler, sieht, was den anderen verborgen ... Um die Lippen des einen, um die Augenwinkel des anderen, auf der Stirne eines dritten gewahrt er den Abglanz desselben Feuers.

Und Franz Weldein lag mit geschlossenen Augen da, er fühlte, wie er dem Wahren näherkam. Ein Geräusch von schweren Schritten schreckte ihn auf. Jemand war hereingetreten. Der Maler schlug die Augen auf. »Wer ist da?« Es war ein unbekannter Bursche. Weldein erhob sich rasch.

Der Bursch sprach hastig, den Hut in der Hand. »Ich bitte ... Herr Weldein, Ihr Vater ist ... ich bin vom Haus ... er ist krank geworden ... Sie möchten hinkommen.«

»Krank? Wie? ... Was ist denn geschehen?«

»In der Nacht, wie der Herr Vater nach Hause gekommen ist ...«

»Nun, was denn?«

»Geschrien und gesungen hat er die ganze Nacht, und jetzt liegt er im Fieber ...«[66]

»Im Fieber? Ist schon der Arzt dort?«

»Nein, im Haus hat man gesagt, ich soll zuerst zu Ihnen ...«

»Kommen Sie.«

Und beide eilten hinunter. Auf der Treppe sagte Franz Weldein:

»Im Hause nebenan wohnt ein Doktor ... Sie bringen ihn mit, verstehen Sie?«

»Jawohl.«

Und der junge Künstler lief dem Hause seines Vaters zu, das kaum hundert Schritte entfernt war. Nach wenigen Minuten stand er an dem Bette des Kranken. Eine Nachbarin hatte unterdessen bei diesem gewacht.

Der Alte lag stöhnend mit halbgeschlossenen Augen auf dem Bette ausgestreckt. Sein Gesicht war hochgerötet ... Er erkannte seinen Sohn nicht. Dieser rief ihn an: »Vater, Vater!« Die Nachbarin, eine gute, alte Frau, wollte den jungen Mann trösten. »Jetzt ist er schon ruhiger«, meinte sie. – »So, so ...«, sagte Franz, Beide standen eine Weile da, ratlos den Alten betrachtend. »Da ist der Herr Doktor«, sagte die Nachbarin.

»Oh, endlich!« rief Franz aus und trat dem eintretenden Arzt, einem noch jungen Manne, den er selbst zuweilen zu Rate gezogen hatte, entgegen. »Nun, was gibt's denn?« fragte der Arzt. »Ihr Herr Vater, wie ich höre.«

»Jawohl, Herr Doktor, mein Vater« ..., und zur Frau gewendet ... »Ich danke Ihnen sehr. Sie werden vielleicht später wieder so gut sein!« – Die Frau ging.

Der Arzt war zum Bett getreten und betrachtete den alten Weldein prüfend und ernst. Angstvoll stand der Sohn dabei ... Er sah zu, wie der Arzt das Ohr an die Brust des Kranken legte, horchte, wie er den Puls griff, die Atemzüge zählte. Nach einigen Minuten schien die Untersuchung zu Ende zu sein ...

»Gefährlich?« fragte der Sohn.

»Ihr Vater hat eine Lungenentzündung.«

»Lungenentzündung ... da kann man ja davonkommen ...«

»Gewiß kann man. Aber es scheint ... Ihr Vater war ein Liebhaber von geistigen Getränken ... nicht wahr?«

»Allerdings. Hat das einen Einfluß?«

»Leider ja, Herr Weldein. Im übrigen ist noch kein Grund da, zu verzagen. Nun ... wir werden weiter sehen ...«

»Also gefährlich«, flüsterte Franz.

Der Arzt antwortete hierauf nicht weiter, gab dann Anordnungen[67] und Ratschläge. Aufmerksam und traurig hörte der junge Mann zu. Mit herzlichen Worten nahm der Arzt Abschied, und Franz blieb allein bei dem Kranken zurück. Es war ein Augenblick gekommen, wo dem Alten das Bewußtsein teilweise wiederzukehren schien, und er nahm wie im Traum die dargebotene Hand seines Sohnes in die seine. »Willst du etwas? ... Vater ... Willst du etwas?« Dieser bewegte die Lippen ... Der Sohn beugte sich hernieder, um etwas von den Lippen herablesen zu können. Aber ganz vernehmlich, nur heiser stieß der alte Weldein jetzt das Wort hervor: »Trinken!« ... Dann begann er zu husten, lange und qualvoll ...

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 65-68.
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